Anders und Helene führen nach außen ein typisch amerikanisches Leben: Haus mit Garten, zwei erwachsene Söhne, ein seit Jahren befreundetes Ehepaar, Erfolg im Beruf (Anders) und ehrenamtliches Engagement (Helene). Trotzdem bricht Anders aus dieser scheinbaren Idylle aus, reicht die Scheidung ein, sorgt bei der jährlichen Weihnachtsparty der Freunde für einen Eklat und arrangiert sich in seinem neuen Leben als Single. Bald registriert er allerdings, was er aufgegeben hat und will reumütig zurückkehren. Warum das nicht möglich ist und was überhaupt zu Anders‘ Ausbruch führte, deckt Ted Thompson nach und nach auf und sorgt wie ein Chirurg, präzise und schmerzhaft, für eine Demaskierung des American Dream.
Der Schmerz des Aufwachsens
„Erwachsensein bedeutete genau das, oder? Eine Welt zu schaffen, die ein klein bisschen besser war als die, in die man selbst hineingeboren worden war.“
Wäre das möglich, lebten wir alle in einer perfekten Welt. Doch selbst, wenn wir die scheinbaren Fehler unserer Eltern nicht wiederholen, machen wir doch andere – eine Erkenntnis, der auch Anders sich stellen muss.
Sein Leben lang versucht Anders, aus dem mächtigen Schatten seines erfolgreichen und unnahbaren Vaters herauszutreten, sein spießiges und distanziertes Elternhaus abzustreifen, und schafft doch, auf seine eigene Weise, eine ebenso spießige Vorort-Idylle mit entfremdeten Söhnen. Der ältere Sohn, Tommy, wiederholt genau dieses Muster und lebt zielstrebig und erfolgreich mit Frau und Kindern in einem hübschen Haus, während der jüngere Sohn, Preston, sein Leben scheinbar überhaupt nicht im Griff hat und sich in der Welt von Drogen und Kleinkriminalität bewegt.
Welche Beziehung und welches Lebensmodell Ted Thompson auch beleuchtet, es bröckelt überall und auch unter der Fassade der reichen Freunde lauern Abgründe. Schicht für Schicht trägt der Autor die dicke Farbe auf den Fassaden ab, beleuchtet schonungslos alle Verhinderungsstrategien, Ausflüchte, Rebellionsversuche und gescheiterten Pläne. Am Ende bleiben hilflose und verwirrte Gestalten auf der Suche nach dem eigentlichen Selbst, der Wahrheit und bedingungsloser Liebe. Gefangen in ihren Rollen und hinter ihren Masken können sie nicht aus ihrer Haut und sind so gefangen im Land der Gewohnheit. So spitzt sich alles zu und liegt nach dem Finale in Trümmern. Liegt hier vielleicht die Chance, doch noch so zu leben, dass man sich selbst im Spiegel in die Augen schauen kann, ohne Verachtung zu spüren?
Mitreißender Gedankenstrudel
In einigen Rezensionen wird Thompsons Schreibstil angeprangert, mich hingegen hat er absolut in seinen Bann gezogen. Die langen und teilweise verschachtelten Sätze haben – zusammen mit Sprüngen zwischen Gegenwart und Rückblenden – laut Rezensionen viele Leser abgeschreckt. Für mich untermauert diese Schreibweise absolut das, was Thompson inhaltlich beschreibt: Rasende und springende Gedanken, die kaum richtig zu fassen sind. Eine Unruhe, von denen die Protagonisten getrieben werden, die aber nicht konkret festzumachen ist. Den Versuch, Muster in der Vergangenheit zu erkennen und zu durchbrechen, und das Scheitern am hektischen Fluss des Alltags.
Im ersten Teil werden Gegenwart und Rückblick aus Anders‘ Sicht geschildert, den Mittelteil und das Finale schildert Thompson aus Helens und Prestons Position. Dadurch und in diversen Rückblenden wird deutlich, wie unterschiedlich zwei oder mehr Personen dieselbe Situation erleben können. Während zum Beispiel Anders seiner Familie durch unermüdliche Arbeit seine Liebe zeigt, wünscht sich seine Frau Helen eher persönliche Zuwendung. Durch Sprachlosigkeit und oberflächliches „Uns-geht’s-gut“-Denken verfestigen sich Konflikte und eskalieren schließlich.
Land der Gewohnheit ist ein schonungsloses Buch, das fein beobachtet, detailliert das Skalpell ansetzt und durchaus humorig eine ganz normale amerikanische Familie demontiert. Teilweise habe ich mich wie ein Voyeur gefühlt, der mit wachsendem Unbehagen Zeuge eines Streits wird, bei dem mehr und mehr schmutzige Wäsche ans Licht kommt, der aber auch zu faszinierend ist, um nicht weiter zuzuhören. Dazu kommen auch die vielen schrägen und bösartig-witzigen Situationen, die den Leser oft zwischen Mitleid und Häme schwanken lassen. Für mich ein lesenswertes Buch, das den Blick auf die eigene Lebenssituation und die eigenen Träume und Familienmuster schärft.
Ted Thompson, Land der Gewohnheit
Ullstein, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Land-der-Gewohnheit-9783550080746
Autor: Dorothee Bluhm
www.wortparade.de