Rezension: Hannah Kent, Das Seelenhaus

Ausgerechnet eine Australierin will ein historisches Ereignis, das sich vor fast 200 Jahren in Island abgespielt hat, als Vorlage für ihre Geschichte verwenden  – die sie zudem aus verschiedenen Blickwinkeln erzählt. Dieses ambitionierte Vorhaben kann eigentlich nur scheitern, möchte man auf den ersten Blick meinen – zumal es sich bei „Das Seelenhaus“ um Hannah Kents Debütroman handelt. Doch diese Einschätzung ist weit gefehlt. Vielmehr präsentiert die Autorin ein einfühlsames Werk, das passagenweise so schwermütig wirkt, wie der isländische Winter.

Quelle: www.droemer-knaur.de
Quelle: www.droemer-knaur.de

Zwischen Fiktion und Realität

Hannah Kent hatte während eines Schüleraustausches in Island die Geschichte von Agnes Magnúsdóttir gehört, einem der beiden letzten Hinrichtungsopfer Islands. Sie war, ebenso wie einer der beiden Mittäter, hingerichtet worden, weil sie zwei Männer im Schlaf ermordet und anschließend verbrannt haben soll. Während Agnes und der männliche Mittäter zum Tode verurteilt wurden, kam die Dritte im Bunde – eine junge Magd – mit einer Haftstrafe davon. Weil Island in jenen Jahren Teil des Königreichs Dänemark war, mussten auf der Insel ausgesprochene Todesurteile erst vom König bestätigt werden.

Der zuständige Landrat ordnet an, dass Agnes zwischenzeitlich auf einem Bauernhof arbeiten muss. Den beiden Töchtern der Familie war sie in der Vergangenheit schon einmal auf dem Weg von einer Anstellung zur anderen begegnet und hatte den Kindern jeweils ein Ei geschenkt. Trotzdem begegnet man ihr zunächst mit großem Misstrauen, seitens einiger Nachbarinnen sogar mit offener Ablehnung.

Die unterschiedlichen Perspektiven

Die eigentlichen Ereignisse schildert Hannah Kent aus der Sicht des neutralen Beobachters. Dazwischen beleuchtet sie das Schicksal und die Vergangenheit der Magd Agnes aus der Ich-Perspektive und in erzählenden Monologen, in welchen sie einem Priester Einblick in ihr Seelenleben gibt. Dieser soll sie auf den Tod vorbereiten und ihr predigen, doch um einen Zugang zur zunächst verschlossenen Frau zu finden, entscheidet er sich dafür, ihr zunächst zuzuhören.

Hannah Kent zeichnet dabei das Bild einer hart arbeitenden Frau, die von Kindesbeinen an auf der Schattenseite des Lebens stand. Weil Agnes fleißig ist, alle aufgetragenen Arbeiten zuverlässig erledigt und hilft, wo sie nur kann, gewinnt sie schließlich die Zuneigung ihrer Gastfamilie. Pfarrer Tóti versucht sogar, sich beim Landrat für die Verurteilte einzusetzen. Doch dieser will ein Exempel statuieren und ist nicht bereit, Gnade walten zu lassen.

In den wenigen Wochen vor der Hinrichtung erlebt Agnes das, wonach sie sich ihr ganzes Leben gesehnt hat: Sie findet ihren Platz, wird fast zu einem Teil der Gastfamilie. Offen bleibt, ob die Hinrichtung nicht das gnädigere Schicksal für die freiheitsliebende Frau gewesen wäre. Die Begnadigte stirbt wenige Jahre später im Kerker.

Mein Fazit:

Bei der Beschreibung der Lebensverhältnisse in Island zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist die fehlende Verwurzelung der Autorin zu spüren. Die Schilderungen wirken teilweise zu flach. Dieser Aspekt wirkt sich jedoch nicht insgesamt negativ auf die Geschichte aus. Hannah Kent ist ein brillanter Einstieg in die Welt der Literatur gelungen.

Hannah Kent, Das Seelenhaus
Dromer HC, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Das-Seelenhaus-9783426199787
Autor: Harry Pfliegl