Rezension: Susan Jane Gilman, Die Königin der Orchard Street

Zur Autorin
Nach ihrem Abschluss im kreativen Schreiben an der University of Michigan schrieb Susan Jane Gilman unter anderem für die Los Angeles Times und veröffentlichte drei unterhaltsame Sachbücher. Nun hat sie sich an ihren Debütroman gewagt, in dem geschickt die unschuldige Welt der Eiscreme mit der Realität des amerikanischen Traums verwoben wird. Heute lebt Gilman in ihrer Heimatstadt New York und in Genf.

Quelle: www.suhrkamp.de
Quelle: www.suhrkamp.de

Die Tragik der Eiscreme
Lilian Dunkle, hochbetagte und gefallene Eiscreme-Königin Amerikas, blickt kurz vor einer wichtigen Gerichtsverhandlung auf die letzten 70 Jahre ihres Lebens zurück: Als ihre Familie 1913 aus Russland in die USA emigrierte, trug sie noch den Namen Malka. Doch das Leben in den ärmlichen Verhältnissen im Lower East End an der Orchard Street wirft bald Schatten auf ihren Traum von Amerika: Ihr Vater verschwindet, nach einem schweren Unfall, der das kleine Mädchen für immer an Krücken bannt, wird sie auch von ihrer Mutter und ihren Schwestern im Stich gelassen. An diesem Tiefpunkt nimmt sich der Eisverkäufer Dinello ihres Schicksals an und führt sie langsam in die Welt der Eiscremeherstellung ein. Mit Erfindungsgeist, List und einer großen Portion Überlebenswillen baut sich Lilian in den nächsten Jahren ein eigenes Imperium aus Bananensplit und Schlagsahne auf. Doch die Welt hinter der kühlen Süßigkeit ist alles andere als unschuldig. Rücksichtslos geht sie gegen ihre Konkurrenten vor, spinnt Intrigen, um ihre Macht erhalten zu können und schreckt dabei auch nicht vor den Mitgliedern ihrer Ziehfamilie zurück. Auf den rasanten Aufstieg folgt der langsame Niedergang ihres Reiches.

Gilmans geniale Antiheldin
Gilman erschafft mit der Protagonistin eine Antiheldin par excellence: Sie ist keine perfekte Schönheit mit Sinn für Nächstenliebe und Kinderglück, sondern eine vom Leben hart gezeichnete Zynikerin. Die Begeisterung des Lesers mäandert stetig zwischen höchster Sympathie und Schauder, bleibt aber letztlich doch immer Begeisterung. Gekrönt wird das Konstrukt durch die ganz eigene Sprache der Ich-Erzählerin, die mit jiddischen und italienischen Begriffen gespickt kein Blatt vor den Mund nimmt. Tragik und Komik gehen in diesem Roman Hand in Hand, ob Lilian nun unfreiwillig das Softeis erfindet oder mit Clown Sparkels vor einer landesweiten Sendung noch schnell einen kräftigen Schluck nimmt. Ihre Schwächen und Abgründe verleihen der Protagonistin eine besondere Menschlichkeit, neben der die anderen Akteure zum Teil etwas blass erscheinen. Dies wird allerdings durch die unaufdringliche Verknüpfung mit der jüngeren amerikanischen Geschichte wettgemacht. S. J. Gilman verbindet eine starke Handlung mit einem ausgezeichnet recherchierten Hintergrund. Wer hätte gedacht, dass die Prohibition die Einrichtung von Eisdielen angekurbelt hat oder man in den Fünfzigern Speiseeis für Polio verantwortlich machte?

Mein Fazit
Eine wilde Reise durch die Welt der Eiscreme im 20. Jahrhundert und ein gelungenes Debut! Eine authentische Atmosphäre à la Frank McCourt verschmilzt mit einer erfrischenden Neuinterpretation des Motivs „Vom Tellerwäscher zum Millionär“, gewürzt mit einem Hauch Gatsby. Dabei wird nicht auf Pathos, sondern umso mehr auf die taffe Hauptfigur gesetzt.

Susan Jane Gilman, Die Königin der Orchard Street
Insel Verlag, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Die-Koenigin-der-Orchard-Street-9783458176251
Autorin der Rezension: Jasmin Beer