Fast fast jedes ihrer Lebensjahre hat Waldtraut Levin ein Buch veröffentlicht. Stolze 70 sind es mittlerweile. Jetzt wagt sich die Autorin an Anne Frank. Sie entstaubt die Ikone und versetzt das jüdische Mädchen in die heutige Zeit mit Diskothek und Hakenkreuz-Schmierereien. Waldtraut Lewin nennt es behutsam „eine Annäherung“.
Ausgewiesene Kennerin des Judentums durch ihr umfassendes Werk „Der Wind trägt die Worte“, erfuhr Waldtraut Lewin erst mit 13 Jahren durch ihre Mutter von ihren jüdischen Wurzeln. „Ich habe das sofort angenommen.“ 1956, mit 19 Jahren, sah sie im Berliner Schloßpark Theater eine Aufführung vom „Tagebuch der Anne Frank“ mit der jungen Johanna von Koczian in der Titelrolle. „Das Theater stand in Tränen“, erinnert sich Waldtraut Lewin. Der Funke war entfacht. Heute haben Millionen von Menschen in aller Welt das bewegende Tagebuch gelesen. „Anne Frank war fast noch ein Kind“, erklärt Autorin Lewin den Hype um Anne Frank. „Viele Passagen treffen auch heute noch das Lebensgefühl junger Menschen. Vor allem war es ein Einzelschicksal, das zur Identifikation taugt.“
Ja, das Buch von Waldtraut Lewin ist eine Liebeserklärung. „Ich spiele mit Anne Frank, natürlich mit großem Respekt.“ Spiel, das heißt: Anne verläßt das Versteck in der Prinsengracht und hat zeitversetzt 70 Jahre später die Chance, ihre Jugend zu leben. Am Ende kehrt Anne nach Israel zurück. „Vielleicht kann man ein kleines bisschen etwas bewirken. Dass nicht geschossen wird, zum Beispiel. Dass man sich näher kommt.“ So erfüllt Waldtraut Lewin das Vermächtnis von Anne Frank aus ihrem Tagebuch, wo es heißt: „Ich will fortleben, auch nach meinem Tod.“
Waldtraut Lewin blieb das Schicksal von Anne Frank durch einen mutigen und vermögenden Großvater erspart, der als Jude in der deutschen Gesellschaft angepasst lebte und für die Familie mit Bestechung einen gefälschten Ariernachweis kaufte. Den aktuellen Aufruf der israelischen Politik, die Juden Europas mögen in das gelobte Land zurückkehren, hält Waldtraut Lewin für ein Deckmäntelchen zum Bau neuer Siedlungen. „Juden sollten sich nicht aus Europa vertreiben lassen, nur weil ein paar verrückte Typen mal wieder hetzen. Juden gehören seit Jahrhunderten nach Europa. Ich bleibe hier.“
Foto von Waldtraut Lewin in der LVZ-Autorenarena: Detlef Plaisier