Was in unserer Erinnerung Fakt oder Fiktion ist, kann niemand so genau sagen. Allzu schnell werden unangenehme Erlebnisse verdrängt und nur die schönen Momente mit einer Person hervorgehoben. Schon wenn man drei Augenzeugen eines Vorgangs befragt, erhält man vier verschiedene Versionen der Ereignisse, einfach weil jedes Gedächtnis anders funktioniert. Dennoch verlässt sich der Mensch auf seine Erinnerungen mehr als auf Erzählungen anderer – was aber, wenn das Gehirn nicht mehr zwischen Erinnerung und erfundenen Geschichten unterscheiden kann?
Am Anfang ist die Krankheit
Martin Strauss erfährt von seinem Arzt, dass er an einer seltenen neurologischen Krankheit leidet, dem sogenannten Konfabulismus. Davon Betroffene erzählen objektiv falsche Dinge, bilden sich aber fest ein, diese wären wahr und sie hätten sie genau so erlebt. Martin Strauss wird also seine Erinnerungen verlieren und schon bald nicht mehr unterscheiden können, was wahr ist und was sich sein Gehirn nur ausgedacht hat. Dabei blickt Martin auf ein langes und wie er meint auch sehr ereignisreiches Leben zurück, hat er doch den weltberühmten Magier und Entfesselungskünstler Harry Houdini getötet – gleich zweimal. Zumindest glaubt er das und möchte seine Geschichte unbedingt aufschreiben, bevor er sie für immer vergisst. Sein Grund: Er möchte Alice, von der er glaubt, dass sie Houdinis Tochter ist, unbedingt die Wahrheit über ihren Vater und über sich selbst sagen.
Drei Handlungsstränge, zwei Leben, eine Geschichte?
Steven Galloway verwebt in seinem Roman drei Handlungsstränge miteinander. Zum einen die gut recherchierte und realistisch dargestellte Biographie des weltberühmten und bekannten Zauberers und Entfesselungskünstlers Harry Houdini. Zum zweiten das Leben des jungen Martin Strauss als Student in Montreal, wo er auf Houdini trifft und in dessen Verwirrspiele verstrickt wird. Das wiederum führt dazu, dass Martin den Zauberer gleich zweimal töten kann. Der dritte Erzählstrang behandelt die Gegenwart, als Martin auf einer Parkbank vor dem Krankenhaus sitzt und über seine Erinnerungen und sein Leben sinniert, bevor er diese beiden aus seinem Gedächtnis verliert. Oder hat er das vielleicht schon?
Mein Fazit
Unsicherheit ist faszinierend, zumindest im Fall dieses Buches. Die Houdini-Biographie ist gespickt mit korrekten Fakten, wie zum Beispiel der Bekanntschaft mit Sir Arthur Conan Doyle. Auch Martins Biographie und seine Version der Ereignisse beim Zusammentreffen mit Houdini in der Vergangenheit scheinen mehr als realistisch. Wenn, ja wenn da nicht die Gegenwart wäre und seine Krankheit. Denn in der Gegenwart tauchen bei Martin immer wieder Erinnerungsfetzen auf, die so nicht stattgefunden haben können, wenn er Houdini wirklich getötet hat. Bis zum Schluss bleibt offen, welche der Erinnerungen real sind und welche aufgrund des Konfabulismus erfunden wurden, um die Erinnerungslücken zu schließen. So bleibt es jedem selbst überlassen, zu entscheiden, was real in Martins Leben passiert ist. Genau das macht den Reiz des Buches aus. Denn seien wir ehrlich: Haben wir uns nicht selbst schon manchmal gefragt, ob ein Ereignis wirklich genauso stattgefunden hat, wie wir uns daran erinnern?
Steven Galloway, Der Illusionist
Luchterhand, 2015
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Autor der Rezension: Harry Pfliegl