Rezension: Nicola Nürnberger, Berlin wird Festland

Quelle: openhouse-verlag.de
Quelle: openhouse-verlag.de

Wie findet man zu sich selbst, wenn rundherum alles in Auflösung begriffen ist? Wie geht man mit der Veränderung um, die man nicht beeinflussen kann, und die gerade deswegen furchterregend ist? Diese Fragen, die Nicola Nürnberger in ihrem Roman „Berlin wird Festland“ stellt, aber nicht zu beantworten vermag, sind wahrscheinlich so alt wie die Menschheit selbst – und in manchen Situationen offensichtlicher als in anderen.

Über die Schwierigkeiten eines Neuanfangs
Berlin, 1991: der Mauerfall ist keine zwei Jahre her, und die Trennung zwischen Ost und West ist noch deutlich sichtbar in der „Insel“ West-Berlin mitten in Ostdeutschland. Christine ist aus der hessischen Provinz zum Studium nach Berlin gekommen und genießt die vermeintliche Freiheit der wilden Umbruchszeiten. Nach und nach merkt sie, dass die rasante Veränderung rundum nicht nur gute Seiten hat: zwischen aufkeimendem Rechtsradikalismus, gewaltbereiten Demonstranten und den Alten, die sich die „guten alten Zeiten“ zurück wünschen, muss sie ihren eigenen Weg finden. Monty, der „schon“ 30 ist und die Wende vor Ort miterlebt hat, hilft ihr, eine Brücke zu schlagen zwischen Ost und West, Alt und Neu. Und so, wie sich die Liebesgeschichte zwischen den beiden entwickelt, entwickelt sich auch Christines Verständnis dafür, dass positive Veränderungen bei ihr selbst beginnen müssen.

Autorin Nicola Nürnberger mit Verleger Rainer Höltschl. Foto: Detlef M. Plaisier
Autorin Nicola Nürnberger mit Verleger Rainer Höltschl. Foto: Detlef M. Plaisier

Erinnerungen, die man nicht aufschreibt, gehen verloren
Nicola Nürnberger zeichnet das Bild Berlins nach der Wende aus der Sicht einer jungen Frau: lebendig, furchteinflößend, voller Chancen und Widersprüche. Auch die Gefühlswelt und die Gedanken werden eingefangen und zeigen die Diskrepanz zwischen den jungen Menschen, die noch getrennt nach Ost und West aufgewachsen sind; zeigen, wie wenig der Westen vom Osten wusste und wie gönnerhaft mit den Menschen umgegangen wurde, die sich „drüben“ eine bessere Zukunft aufbauen wollten, frei von Stasi-Terror und Regime-Repressalien. Ebenso wird klar, wie viele Menschen damals schon eine schöne, friedliche neue Welt wollten, in der alle zufrieden miteinander leben können. Als Christine beschließt, ihre Erlebnisse aufzuschreiben, gemeinsam mit den Erinnerungen der Alten, die sie als Mitarbeiterin eines Besuchsdienstes betreut, möchte sie kein typisches Tagebuch schreiben, Erinnerungen für die Nachwelt erhalten.

Mein Fazit
Eine gelungene Mischung aus Lebensbild einer jungen Studentin, die zum ersten Mal wirklich verliebt ist und merkt, dass es mehr gibt im Leben als die akademische Welt, Ausgehen und One-Night-Stands, und der Beschreibung einer Stadt im Wandel. Wer selbst studiert hat, erkennt sich in Christine wieder, in der Unbedarftheit und Sorglosigkeit, mit der sie ihren Alltag bestreitet, aber auch in ihrem Entsetzen, als sie begreift, dass akademische Diskussionen und Protestplakate an der rauen Wirklichkeit vorbei gehen. Eine lesenswerte Erzählung, die hilft, Erinnerungen aufzufrischen und zu erkennen, dass die Welt von damals von der heutigen gar nicht so weit entfernt ist.

Nicola Nürnbeger, Berlin wird Festland
Open House Verlag, Leipzig 2014
Interview mit Nicola Nürnberger hier
Online bestellen: http://www.openhouse-shop.com/produkt/nicola-nuernberger-berlin-wird-festland/
Autor der Rezension: Harry Pfliegl