Rezension: E. L. Doctorow, In Andrews Kopf

Neueste Forschungsergebnisse und diverse esoterisch angehauchte Theorien besagen, dass auch Zellen ein Gedächtnis haben – und dass es etwas wie ein kollektives Bewusstsein gibt. Doch das ist nicht irgendwo gespeichert, sondern einfach da. Was würde aber geschehen, wenn man das Bewusstsein aller Menschen in einem Supercomputer speicherte? Würden die Menschen dann als ihre Geschichte lebendig bleiben oder würden sich eher Geschichte und Geschichten vermischen? Genau diese Frage ist der zentrale Punkt in E. L. Doctorows „In Andrews Kopf“. Der Text ist das letzte Buch des Autors, der im Alter von 74 Jahren am 21. Juli 2015 verstarb.

Quelle: www.kiwi-verlag.de
Quelle: www.kiwi-verlag.de

Machen wir unsere Geschichte oder macht die Geschichte uns?
Andrew ist Professor der Kognitionswissenschaften und erzählt aus seinem Leben. Von der ersten Ehefrau, von der er sich scheiden ließ. Von der zweiten, die er eigentlich gar nicht geheiratet hat, die am 11. September 2001 starb. Von seinen Töchtern: Die eine starb seiner Meinung nach durch seine Schuld, weil er ihr ein falsches Medikament gab. Die zweite musste er nach dem Tod ihrer Mutter weggeben – zu seiner ersten Frau, als Wiedergutmachung. Von den Höhen und Tiefen, von den Glücksmomenten und dem tiefen Fall. Und von seinem Traum, einem Supercomputer, in dem das Bewusstsein all jener gespeichert ist, die einmal lebten und noch leben, jeder ihrer Gedanken, alle ihre Gefühle, jede Handlung, jedes Wort. Und davon, dass es damit möglich sein müsste, Verstorbene wieder lebendig werden zu lassen außerhalb unserer Erinnerung. Und wirft dabei immer wieder die Frage auf, ob wir unsere Geschichten bestimmen – oder die Geschichten, wer wir sind?

Wahrheit ist immer subjektiv
Doctorow lässt seinen Protagonisten Andrew sagen: „Heutzutage kann ich niemandem trauen, am allerwenigsten mir selbst“. Gemeint ist, dass wir alles durch Filter wahrnehmen und so unsere Erinnerung beeinflussen und verfälschen. Manches geht verloren, manches wirkt überdimensioniert. Und jeder Mensch erlebt die Wirklichkeit ein wenig anders, wenn auch die Unterschiede im Gespräch oft verwischen. Doctorow gelingt es, diese Verwirrung und Vermischung der unterschiedlichen Perspektiven in seine Sprache zu packen: manchmal für mich als Leser verwirrend, spricht der Protagonist abwechselnd von sich oder von „Andrew“, und die Einwürfe, die sein vermutlicher Psychotherapeut macht, sind teilweise nur an den Formulierungen oder Fragen zu erkennen. Damit wird der Leser immer weiter hineingezogen in die Welt „in Andrews Kopf“.

Mein Fazit
Verwirrend und faszinierend zugleich zwingt mich „In Andrews Kopf“ zum aufmerksamen Lesen. Je weiter ich lese, desto eher frage ich mich, was wirklich passiert ist. Was hat Andrew erfunden, damit die Abfolge der Ereignisse in seinem Kopf Sinn ergibt, sodass er nicht daran zerbricht? Ein Buch für alle, die mit schöner Regelmäßigkeit an ihrem Verstand zweifeln – und gerade deswegen gerne in den Kopf anderer eintauchen möchten.

E. L. Doctorow, In Andrews Kopf
Kiepenheuer & Witsch, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/In-Andrews-Kopf-9783462048124
Autor der Rezension: Harry Pfliegl