Rezension: Ulrike Draesner, Sieben Sprünge vom Rand der Welt

Ulrike Draesner, geboren 1952 in München, lebt als Romanautorin, Lyrikerin und Essayistin in Berlin. Sie studierte Anglistik, Germanistik und Philosophie. Mit dem vorliegenden Roman steht sie auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2014.

Vertreibung & Erinnerung

Quelle: www.randomhouse.de

Das große Thema des Romans ist die Vertreibung im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges. Draesner lässt den Leser aus verschiedenen Perspektiven diesem Trauma folgen. Die Lebenslinien zweier Familien begegnen sich in den Nachgeborenen. Die Familie des Affenforschers Eustachius Grolmann wird aus Oels in Schlesien nach Bayern vertrieben, die Familie des Psychologen Boris Nienaltowski – Spezialgebiet: Traumata der Nachgeborenen der Flüchtlinge – von Ostpolen nach Wroclaw. Neben den aufwühlenden Schilderungen der letzten Kriegswochen steht immer die Frage im Raum: Wie wahr ist Erinnerung? Einerseits ist sie die Verklärung des Verlorenen, durch die auch all das den Wert verliert, das die Zwangsvertriebenen in der „neuen Welt“ umgibt, einschließlich der eigenen Kinder. Andererseits bedeutet Erinnerung auch die Frage nach dem Anteil der persönlichen Schuld. So plagt sich Eustachius Grolmann bis zum Tod mit Schuldgefühlen, weil er seinen behinderten Bruder Emil im Feuersturm von Breslau nicht davon abgehalten hatte, sich der SS anzuschließen.

Forschergeist & Affenhirn

Eustachius Grolmanns Lieblingssatz lautet: „Gott schuf den Menschen, weil er vom Affen enttäuscht war. Seither verzichtet er auf weitere Experimente.“ (Mark Twain). Die Frage, ob der freie Wille nur eine Illusion ist und inwieweit Affen überhaupt über freien Willen verfügen, bleibt bis zum Schluß unbeantwortet. „Wir forschen mit Menschenaffen auf der Suche nach uns selbst.“ (S. 118). Der Affenforscher Grolmann ist gewitzt und schlau genug, um nicht nur Tochter Simone und Enkelin Esther, sondern auch Boris über seinen eigentlichen Plan zu täuschen: Er will sich ein Paradies an der Seite zweier Bonobo-Affen schaffen und in diesem Kokon weiter an den Fragen forschen, die ihn umtreiben. Seine Tochter meint, ihr Vater habe sie nur im Zusammenhang mit den Affen bemerkt. Vielleicht wurde sie deshalb selbst zur Affenforscherin.

Väter

Ein Thema, das sich ebenfalls durch den ganzen Roman zieht, ist das Thema der Väter. Hier im Buch sind es Vater und Tochter (Eustachius und Simone) sowie Vater und Sohn (Hannes und Eustachius). Der eine kann seiner Tochter nicht zeigen, dass er sie liebt. Sie tut deswegen alles, um sich über das, was er liebt – die Affen – näher an ihn und in sein Blickfeld zu schieben. Dieser Vater, Eustachius, spürt viele Jahre zuvor, dass sein Vater, Hannes, den älteren behinderten Bruder mehr liebt als ihn, den er bestenfalls durch Schläge wahrnimmt. Die Erfahrung, ignoriert zu werden, überträgt sich vom Vater Eustachius auf die Tochter Simone.

Fazit

Dieses Buch ist ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung eines lange tabuisierten Themas. Doch etwa ab der Mitte des Buches mochte ich die Geschichten, erzählt aus neun verschiedenen Perspektiven in elf Abschnitten, all diese Geschichten von Vertreibung, Zerstörung und Tod, nicht mehr lesen. Hier wäre weniger mehr gewesen. So schienen mir sowohl die Kapitel von Jennifer, Boris‘ Tochter, als auch von Halka relativ entbehrlich zu sein. Dass am Ende im Esther-Kapitel noch einmal das Thema Migration in der heutigen Zeit auf eine doch sehr bizarre Weise erneut aufkommt, wirkt auf mich zu bemüht, so als müsse die Autorin mit Macht einen aktuellen Bezug herstellen. Für Leser mit einem starken Interesse an diesem historischen Thema ist der Roman jedoch zu empfehlen.

Ulrike Draesner, Sieben Sprünge vom Rand der Welt
Luchterhand Literaturverlag, 2014
Link zu Amazon: http://amzn.to/1xoA8kp

Autorin: Cornelia Lotter
www.autorin-cornelia-lotter.de