Liebe Leserinnen und Leser: wohl selten war es so wertvoll, auf meine Meinung einen Dreck zu geben. Denn was jetzt kommt, könnt ihr glauben oder auch nicht. Mit diesem Buch tue ich mich nämlich sehr sehr schwer. Und mit der Besprechung dazu fast noch mehr.
Normalerweise startet man als Rezensent ja vorurteilslos frei ins Lesen eines Romans, oder sollte es zumindest versuchen. Das hier in der Kritik stehende Werk von Sofi Oksanen wurde mir allerdings schon vorab in mehreren TV-Kritikerrunden und noch mehr Feuilletons dermaßen wortgewaltig und tiefschürfend um die Ohren gehauen, dass eine objektive Beschäftigung mit Form oder Inhalt keine realistische Option war. Warum? Weil ich den schärfsten Lästereien über diese Prosa fast uneingeschränkt zustimmen muss. Vom Start weg und in allen Punkten.
Aber Vorsicht! Dieses Buch ist auch ausgesprochen konsequent! In seiner Diktion. In seinem Impetus. Und ja, auch in seiner ganz eigenen Wahrhaftigkeit. Und eben das kann vielen Lesern ausgesprochen gut gefallen. Anderen dagegen ganz und gar nicht.Zu den Letzteren gehöre ich.
Die Fakten: 1941 wird Estland von der Wehrmacht okkupiert. Die Soldaten fangen reichlich Tauben, um sie zu essen. Der Titel ist damit geboren. Der Plot behandelt den Lebensweg von drei zentralen Protagonisten: Edgar mit seiner unausgelebten Homosexualität ist opportunistisch bis zur Skrupellosigkeit; Juudith, seine Frau verliebt sich in den SS-Hauptsturmbannführer Hertz; und Roland, Vetter von Edgar, gibt den aufrechten Freiheitskämpfer. Stoff für Verwicklungen ist damit reichlich gewoben. Diese werden aus wechselnden Perspektiven beschrieben. Und nach den Nazis kommen die Sowjets. Deren Besatzungszeit bereitet die Bühne für die zweite Erzählebene und neuerliche “Charakterprüfungen“ der Figuren, angesiedelt in den Neunzehhundertsechzigerjahren in der Baltischen Sowjetrepublik. Wobei generell, ob 1944 oder 1966, die tiefere Gestaltung der Charaktere zugunsten der Handlungsstränge leider auf der Strecke bleibt.
Zum Erzählstil: hier muss ich den meisten Kritikern beipflichten. Insbesondere die Tonalität aus Perspektive von Juudith spielt schon fast ins Unerträgliche. Schwülstige Schöpfungsschilderungen treffen auf völkische Fantasien. Blut und Boden Symbolik feiert fröhliche Urständ. Nation und Natur werden zur Legitimation einer nordischen Identität, die sich dem Spielball der Geschichte so gut es eben geht zu erwehren versucht. Kann man ja machen. Und ich weiß aus eigenen Besuchen in Estland, dass die Angst dieses Landes vor einer erneuten Fremdherrschaft, ganz gleich von welcher Ideologie befeuert, einen Grundton des Alltagsbewusstseins vieler Menschen dort bildet. Ich persönlich mag es allerdings nicht so „allegorisch überdeutlich und melodramatisch süß“ – um hier mal den Kritiker der Süddeutschen Zeitung zu zitieren.
Unbestritten freilich hat Frau Oksanen, Jahrgang 1977, mit ihrer Herkunft den richtigen Background für diesen literarischen Versuch: sie ist Tochter einer estnischen Mutter und eines finnischen Vaters. Und ganz bestimmt werden viele Leser den Stil des Romans für sich auch sehr stark als zu Herzen gehend, poetisch, vielstimmig und lebendig erleben. Ich empfand es in großen Teilen halt einfach bloß als nationalistischen Kitsch – bin aber eben auch weder Este, noch Russe oder habe jemals in irgendeiner Armee gedient. Und zumindest Letzteres war meine eigene Entscheidung.
Sofi Oksanen, Als die Tauben verschwanden
Kiepenheuer & Witsch, August 2014
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Autor: Harald Wurst | ph1.de