Rezensionsreihe Israel zur Leipziger Buchmesse 2015, Teil 5: André Herzberg, Alle Nähe fern

André Herzberg (Jahrgang 1955) ist Musiker, Sänger, Schauspieler, Moderator und Autor. Er stammt aus einer „streng kommunistischen“ (Vita) jüdischen Familie. 2000 erschien sein erster Erzählband Geschichten aus dem Bett. 2004 wurde sein autobiografischer Roman Mosaik veröffentlicht.

Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de
Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de

Startschwierigkeiten
Das Buch ist in jeder Hinsicht ungewöhnlich. Die ersten Seiten lassen noch keine wirkliche Lesefreude aufkommen. Ich kämpfe damit, dass das Buch im Präsens geschrieben ist. Es fällt mir dadurch deutlich schwerer, mich in die Vergangenheit zu versetzen. Allerdings bekommt das Buch dadurch auch eine gewisse Schnelligkeit. Dazu tragen auch die kurzen und knappen Kapitel bei, die von einer ungeheuerlichen Intensität sind. André Herzberg baut mit nur wenigen, aber intensiven Worten eine Dramatik auf, die mich dann doch fesselt.

Blankes Entsetzen
„Man wird ihnen sagen, sie sollten duschen. Nachher wird man verwerten, was von toten Körpern nützlich ist. Haare, Goldzähne, eben alles was noch zu gebrauchen ist.“ Mir laufen eiskalte Schauer über den Rücken, als André Herzberg trocken, unterkühlt und doch so erschreckend real die Konzentrationslager beschreibt. Jeder Satz klingt, als spräche man nicht über Menschen, sondern über unbrauchbare Dinge, die man einfach entsorgt. An dieser Stelle fesselt mich das Buch, es nimmt mich geradezu ein. Ich muss an das Konzentrationslager von Dachau denken, dass ich vor einigen Jahren besucht habe.

Im Eiltempo durch das Jahrhundert
André Herzberg führt seine Leser mit einer deutsch-jüdischen Familiengeschichte temporeich durch mehr als ein Jahrhundert deutscher Geschichte – drei Generationen, zwei Weltkriege, zwei Diktaturen. Der Bogen wird gespannt von den Schiffen der Cunard Reederei auf ihrem Weg nach New York, etwa um 1910 bis 1912, bis zum Fall der Mauer. Wie schwergewichtig die Ereignisse auch sein mögen, André Herzberg erzählt sie unterkühlt, fast schon nebenbei, als sei er nur ein neutraler Beobachter. Dabei haben die Geschehnisse während der NS-Zeit wesentlich stärker auf mich gewirkt als die neuere deutsche Geschichte.

Die Erzählkunst von André Herzberg kann darauf verzichten, Jahreszahlen oder Daten aufzulisten. Mit nur wenigen Andeutungen weiß der Leser, welche politischen Ereignisse bevorstehen und an welchen Orten er sich befindet. Ich habe beim Lesen von meinen vielen Reisen profitiert. Ich kenne Israel, Kapstadt und das jüdische Viertel von New York. So bekam der Text für mich noch einen besonderen Reiz.

Mein Fazit
Ein temporeiches Buch, das nach den ersten Kapiteln an Fahrt aufnimmt. Ich empfehle es weiter. Einziges Manko: Ich hätte mir etwas mehr „Auseinandersetzung“ zwischen Juden und Deutschen gewünscht. Manche Ereignisse werden zu schnell erzählt und enden zu abrupt.

André Herzberg, Alle Nähe fern
Ullstein Hardcover, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Alle-Naehe-fern-9783550080562
Link zum Autor: www.andreherzberg.de
Autorin der Rezension: Carina Tietz
www.carina-tietz.de/