Rezension: Vladimir Sorokin, Telluria

Immer schon haben Menschen darüber spekuliert, wie die Zukunft der Menschheit und der Erde wohl aussehen würde. Unzählige Bücher wurden geschrieben, um die Spekulationen festzuhalten und später mit der Realität abzugleichen. Bei Vladimir Sorokins „Telluria“ wünscht man sich, dass die Vision nie Wirklichkeit wird.

Quelle: www.kiwi-verlag.de
Quelle: www.kiwi-verlag.de

Düstere Welten
Der eurasische Kontinent, Mitte des 21. Jahrhunderts: die Staaten, wie wir sie kennen, sind vom Erdboden verschwunden, stattdessen gibt es unzählige Klein- und Kleinststaaten. Köln, Bayern, Moskau sind beispielsweise eigene Republiken, jeder ist mit jedem verfeindet, der Kontinent ist als Folge der vielen Kriege völlig verwüstet. Europa wurde von den Taliban überrannt, die einen radikalen Islamismus installierten. Wissenschaft und Forschung haben Fortschritte gemacht, Autos fahren mit Kartoffelgas, und dank der Gentechnik gibt es riesige Arbeitspferde, die wieder als Beförderungsmittel dienen. Zugleich bevölkern allerlei seltsam anmutende Lebewesen die Erde: Kreuzungen aus Mensch und Tier, Zwerge, Riesen, lebendige Schachfiguren oder aufrecht laufende Hunde und Wölfe. Was alle Lebewesen miteinander verbindet, ist die Sehnsucht nach Telluria, dem gelobten Land. Die Republik Telluria ist das einzige Gebiet auf der Erde, wo die Tellur-Nägel nicht als Suchtmittel verboten sind, sondern zur Heilung und Behandlung eingesetzt werden. Die Tellur-Atome gehen, wenn die Nägel an passender Stelle in den Kopf geschlagen werden, eine Verbindungen mit den chemischen Botenstoffen im Gehirn ein, und führen zu einem Rauschzustand, in dem die Benutzer keine Angst, Schmerzen oder Trauer kennen. Da spielt es auch keine Rolle, wenn bei falscher Benutzung durch die „Zimmerleute“ oder schlechten Bedingungen die Nutzer an den Nägeln sterben – die Sehnsucht nach dem Rausch ist größer. Und so treibt es alle Protagonisten des Buches nach Telluria, wo sie sich endgültige Befriedigung ihrer Sucht erhoffen.

Feuerwerk der Stile
Vladimir Sorokin hat keinen eigenen Stil – oder vielmehr, er hat alle. In 50 Episoden, die völlig unterschiedlich gestaltet sind, vom Märchen zur Dokumentation, vom Heldenlied über Gedicht zu Epos, von der Reiseerzählung zum Roman, werden die Situationen der Protagonisten geschildert; unzusammenhängend und doch wie ein Mosaik ein Ganzes ergebend, da sich die verschiedenen Blickwinkel alle zu einem Ereignis ergänzen. Telluria ist keine fortlaufende Erzählung, es gibt keinen roten Faden, und so ist der Leser in jeder Episode gezwungen, sich im Hinblick auf Protagonisten, Szenerie, Schreibstil und Handlung völlig neu zu orientieren. Das macht den Stoff interessant, damit aber auch zu einer anspruchsvollen Lektüre.

Mein Fazit
Wer bereit ist, sich auf radikale Stilwechsel einzulassen, sich nicht vor einer düsteren Zukunftsprognose fürchtet und Verständnis für die russische, oft etwas melancholische, Seele hat, der wird Telluria lieben. Zeitgleich ist der Text ein wichtiger aktueller Denkanstoß zu der Frage, was geschieht, wenn wir eine Politik der Abschottung und des Nationalismus auf die Spitze treiben und damit zunehmend alle humanistischen und sozialen Werte aus der Gesellschaft drängen.

Vladimir Sorokin, Telluria
Kiepenheuer & Witsch, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Telluria-9783462048117
Autor der Rezension: Harry Pfliegl