Dass kein episches Werk vonnöten ist, um die Geschichte zweier Familien zu erzählen, die schicksalhaft miteinander verwoben zu sein scheinen, beweist Ratih Kumala mit ihrem fünften Roman „Das Zigarettenmädchen“. Geschickt lässt die Autorin zudem die wechselhafte Geschichte Indonesiens während des 20. Jahrhunderts sowie Mythen und Einblicke in die Herstellung der für Indonesien typischen Nelkenzigaretten in das Werk einfließen. Ratih Kumala spart auch die blutigen Episoden während der japanischen Besatzung und nach Suhartos Machtergreifung nicht aus. Diese „Säuberungen“ hatten in den 1960er Jahren etwa eine Million Indonesier das Leben gekostet.
Auf der Suche nach der Geliebten
Der Zigarettenmagnat Pak Raja liegt im Sterben und flüstert immer wieder den Namen Jeng Yah. Hinter dem Rücken seiner eifersüchtigen Frau bittet er die Söhne, nach „seinem Zigarettenmädchen“ zu suchen. Denn Jeng Yah war seine Verlobte, die er verlassen musste, nachdem sich General Suharto an die Macht geputscht hatte. Pak Raja, ursprünglich ein mittelloser Wanderarbeiter, hatte vor der Hochzeit mit der hübschen Tochter eines Zigarettenfabrikanten ein eigenes Geschäft eröffnen wollen, weil er nicht auf das Geld seines Schwiegervaters angewiesen sein wollte. Deshalb plante er, mit Geld von der kommunistischen Partei eine eigene Marke etablieren – und stand genau deshalb nach dem Machtwechsel auf der Todesliste der neuen Herrscher. Während ihm die Flucht gelingt, geraten seine Verlobte und deren Vater in Gefangenschaft und erlangen ihre Freiheit nur durch sehr glückliche Umstände.
Pak Raja findet in einer Stadt Unterschlupf, ausgerechnet beim ärgsten Konkurrenten seines Schwiegervaters, dessen älteste Tochter sich in ihn verliebt. Was Pak Raja zu diesem Zeitpunkt nicht wusste: Sein tatsächlicher und sein Beinahe-Schwiegervater waren schon seit ihrer Jugend erbitterte Konkurrenten, was sich im Lauf der Jahre zu einer regelrechten Feindschaft steigerte. Pak Rajas Söhne erfahren während ihrer Suche die Geschichte ihrer Familien und decken ein Verbrechen ihres Vaters an der Verlobten auf, das dieser fast mit ins Grab genommen hätte.
Eine Saga mit leisen Melodien
Einfühlsam versetzt sich Ratih Kumala in ihre Protagonisten hinein und lässt sie dadurch im Kopf des Lesers umso lebendiger werden. Die Autorin schildert aus der Perspektive des neutralen Beobachters den Alltag der Menschen, erzählt von deren Wünschen und Träumen vor dem Hintergrund massiver historischer Umwälzungen. Dadurch verwebt sie geschickt die Geschichte zweier Familien über drei Generationen hinweg und reichert ihre Saga mit zahlreichen hintergründigen Details an. Dazu gehört etwa die Legende der wunderschönen Roro Mendu, die für ihren süßen Speichel berühmt war. Eher nebenbei, dafür aber umso eindrücklicher, fließen die blutigen Gräueltaten der Machthaber mit ein. Etwa indem Ratih Kumala beschreibt, wie die Menschen täglich zum Fluss gehen, um zu sehen, ob unter den dahin treibenden Leichen möglicherweise ein verschwundener Bekannter oder Verwandter sein könnte.
Fazit
Ratih Kumala gelingt durch ihre einfühlsame Erzählweise ein Kunststück, das nur wenige Autoren schaffen: Sie erzeugt Bilder im Kopf des Lesers. Wohltuend ist die neutrale Position der Autorin, die nur schildert und nicht wertet. Das gilt sowohl für die Charaktere ihrer Geschichte als auch für die umwälzenden Ereignisse inklusive blutiger Gräueltaten der jeweiligen Machthaber. Ratih Kumalas fesselnde Erzählweise ist beileibe keine leichte Kost, aber leichter zu verdauen als im Vergleich Laksmi Pamuntjaks Abrechnung mit der indonesischen Geschichte in „Alle Farben rot“.
Ratih Kumala, Das Zigarettenmädchen
CulturBooks Verlag Hamburg, 2015
Die Autorin im Gespräch: http://www.culturbooks.de/ratih-kumala-im-gespraech/
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Autoren der Rezension: Harry Pfliegl / Detlef M. Plaisier