Rezension: Bea Dieker, Vaterhaus

Bea Dieker wurde 1960 im Münsterland geboren. Sie studierte Visuelle Kommunikation und ist als Künstlerin tätig. „Vaterhaus“ ist ihr erster Roman.

Quelle: www.jungundjung.at
Quelle: www.jungundjung.at

Anfangsschwierigkeiten
Was da als Roman daherkommt, machte es mir zunächst schwer, hineinzufinden. Adjektivlastige, oft nur aus einem, zwei oder drei Worten bestehende Sätze, merkwürdig gedrechselte Formulierungen („Formen und Farben, die mir die pastellige Verheißung eines unbeschwerten, fröhlichen Lebens entgegenwehten“, S. 7), komplizierte, oft nicht nachvollziehbare Beschreibungen des Interieurs („Hohe, sanft geschwungene Theke, besetzt mit strengen, vertikal verlaufenden, vor- und zurückspringenden Leisten… die gelben nach vorn herausstehend, die schwarzen sich mit ihrem hinteren Platz bescheidend“, S. 8) sowie ungebräuchliche Formulierungen („setzte meinen Atem still“, S. 9) und merkwürdig unpassende Adjektive („keusch gemusterte Kittelschürze“, S. 21), ebenso Wortneuschöpfungen („asthmagelb“, „Nuschelfarben“ S. 30/31) ließen immer meinen Lesefluss stocken.

Thema?
Noch auf S. 26 war mir nicht klar, warum mich die Erinnerungen dieser Frau interessieren sollten. Es war mir, als sähe ich ein altes Fotoalbum an mit Menschen, die mir völlig unbekannt sind. Keine Geschichten hinter den Menschen. Der Großvater war im Krieg? So what? Das waren Millionen andere auch. Nicht mal da etwas, das aus dem Einheitsbrei heraussticht. Eine Aneinanderreihung von Worten: „Plötzlich in großer Mission unterwegs. Auf großer Fahrt. Abenteuer. Bedeutung. Ausland. Mittendrin. Fremde Sprachen. Fremde Gesichter. Fremde Gefahr. Russland. Gefangennahme.“

Erst auf S. 27 scheint etwas durch, was mich interessieren könnte. Die Protagonistin hockt sich hinter die Tür und kackt. Und taucht die Füße ihrer Puppe in den Haufen, um damit die Tapete zu „bemalen“. Nach dem Geschrei der Mutter das Resümee: „In diesem Moment begann ich, eine klammheimliche und hartnäckige Missachtung zu entwickeln für alles, was je aus mir hervorkommen sollte.“ Doch im weiteren Verlauf des Buches erfährt man dazu nichts mehr.

Auf S. 36 fasst die Autorin die vorher schon geäußerten Gedanken ihrer Figur über den Verlust des Birnbaums noch einmal in Form eines Gedichtes zusammen. Der Verlust des Baumes ging einher mit der Unverträglichkeit von Birnen. Bis zum Zeitpunkt ihrer Erinnerung daran. Jetzt kann sie wieder Birnen essen.

Brüche
Auf S. 51 dann die Vermutung, die später zur Gewissheit wird: Der Vater schlägt die Mutter. Der erste auftauchende Konflikt ist jedoch viel zu schnell wieder abgehandelt, wird zur Normalität, löst nur später, viel später, eine Aktion der Protagonistin aus. Es geht weiter mit unzähligen Partizipialkonstruktionen und Beschreibungen von Umbauten und Veränderungen. Ansonsten ist alles, was die Protagonistin auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden erlebt, allseits bekannt. Nichts, was nicht jeder von uns ähnlich erlebt hätte. Nichts, was durch die artifizielle manieristische Sprache gewönne.

Endlich, auf S. 58, explodiert die bürgerliche Wohlanständigkeit der Wirtschaftswunderjahre. Spät, viel zu spät, wird es interessant. Aber nur vorübergehend. Im ganzen Roman ist keine Entwicklung der Protagonistin zu finden, keine mit dem Älterwerden einhergehende Wandlung. Nur Aneinanderreihungen von Vorkommnissen.

Mein Fazit
Statt Beschreibungen von Tapeten- und Fliesenmustern, Um- und Ausbauten hätte ich mir von der Autorin gewünscht, die Figuren lebendiger zu gestalten, ihnen mehr Tiefe zu geben. So waren sie für mich nur Statisten in einem Haus, das am Schluss ebenso dem Verfall preisgegeben ist wie deren Bewohner.

Bea Dieker, Vaterhaus
Jung und Jung, Salzburg und Wien 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Vaterhaus-9783990270745
Autorin der Rezension: Cornelia Lotter
www.autorin-cornelia-lotter.de

Rezension: Andrei Mihailescu, Guter Mann im Mittelfeld

Sowjetunion, Vietnam, Nord-Korea, Kuba – über Diktaturen gibt es viele Geschichten und Gerüchte von Hunger, Elend, Terror und Unterdrückung. Nicht so zu Rumänien am Ende der Donau, immerhin Teil der EU. Andrei Mihailescu nimmt den Leser in seinem Buch „Guter Mann im Mittelfeld“ mit zu einem Leben unter einem Regime, das den großen Diktatoren in nichts nachsteht.

Quelle: www.hanser-literaturverlage.de
Quelle: www.hanser-literaturverlage.de

Leben zwischen Angst, Resignation und Hoffnung
Bukarest, 1980. Stefan Irimescu ist Journalist bei einer der größten rumänischen Tageszeitungen. Zwar weiß er, dass er Teil einer gewaltigen Propaganda-Maschinerie ist, doch er redet sich ein, dass er mit seinen an der Zensur vorbei gemogelten Spitzfindigkeiten in den Artikeln und durch das Abfangen von unvorsichtigen Leserbriefen nicht wirklich davon betroffen ist. Als er sich offen mit dem Securitate-Beamten in der Zeitung anlegt, wird er verhaftet und verhört – und Tage später zerlumpt und verletzt auf einer Baustelle wieder freigelassen. Dort trifft er auf Raluca, Architektin und Ehefrau des mächtigen Parteikaders Ilie Stancu. Raluca und Stefan beginnen eine Affäre, die nicht lange geheim bleibt. Als Ralucas Ehemann davon erfährt, lässt er sich von einem Parteifreund bei der Securitate helfen, um Stefan erneut verhaften und im Gefängnis verschwinden zu lassen. Doch statt ihn zu brechen, lässt die Zeit im Gefängnis Stefan über elegantere Wege des Widerstandes nachdenken und seine Liebe zu Raluca noch wachsen.

Von den Problemen und Siegen des Alltags
Die unter Ceauşescu in Rumänien errichtete sozialistisch-stalinistische Diktatur brachte der rumänischen Bevölkerung anfangs, angefacht durch den allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung der späten 1960er Jahre, den erhofften Wohlstand. Doch das schlug schnell um: zum Zeitpunkt der Geschichte von Andrei Mihailescu, zwischen 1980 und 1982, herrschte allgemeiner Mangel. Anstehen für Brot, Milch oder Ersatzkaffee gehörte zum Alltag. Eier, Zucker oder Fleisch waren kaum oder nur durch Beziehungen zu Parteikadern zu bekommen. Unter dem Terror-Regime des Geheimdienstes Securitate wagte niemand offen aufzubegehren aus Angst, zu Tode gefoltert zu werden oder elend in einem Gefängnis dahin zu vegetieren. „Guter Mann im Mittelfeld“ bringt die Situation der Menschen ohne unnötige Sentimentalitäten und gerade damit umso erschreckender zum Leser.

Mein Fazit
„Guter Mann im Mittelfeld“ ist ein Buch, das gerade wegen seiner authentischen, unprätentiösen Schilderung des Lebens in Rumänien unter der Ceauşescu-Diktatur unter die Haut geht. Das Aufeinanderprallen der Welten von Stefan und Raluca, die Unterschiede zwischen den Privilegierten und der normalen Bevölkerung und die Willkür der Verhaftungen durch die Securitate führen vor Augen, dass es keinen Grund gibt, als Europäer auf andere Erdteile herabzublicken. Ist es doch gar nicht so lange her, als vor unserer Haustür Terror-Regime an der Macht waren. Eine unbedingte Leseempfehlung!

Andrei Mihailescu, Guter Mann im Mittelfeld
Hanser, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Guter-Mann-im-Mittelfeld-9783312006694
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezension: E. L. Doctorow, In Andrews Kopf

Neueste Forschungsergebnisse und diverse esoterisch angehauchte Theorien besagen, dass auch Zellen ein Gedächtnis haben – und dass es etwas wie ein kollektives Bewusstsein gibt. Doch das ist nicht irgendwo gespeichert, sondern einfach da. Was würde aber geschehen, wenn man das Bewusstsein aller Menschen in einem Supercomputer speicherte? Würden die Menschen dann als ihre Geschichte lebendig bleiben oder würden sich eher Geschichte und Geschichten vermischen? Genau diese Frage ist der zentrale Punkt in E. L. Doctorows „In Andrews Kopf“. Der Text ist das letzte Buch des Autors, der im Alter von 74 Jahren am 21. Juli 2015 verstarb.

Quelle: www.kiwi-verlag.de
Quelle: www.kiwi-verlag.de

Machen wir unsere Geschichte oder macht die Geschichte uns?
Andrew ist Professor der Kognitionswissenschaften und erzählt aus seinem Leben. Von der ersten Ehefrau, von der er sich scheiden ließ. Von der zweiten, die er eigentlich gar nicht geheiratet hat, die am 11. September 2001 starb. Von seinen Töchtern: Die eine starb seiner Meinung nach durch seine Schuld, weil er ihr ein falsches Medikament gab. Die zweite musste er nach dem Tod ihrer Mutter weggeben – zu seiner ersten Frau, als Wiedergutmachung. Von den Höhen und Tiefen, von den Glücksmomenten und dem tiefen Fall. Und von seinem Traum, einem Supercomputer, in dem das Bewusstsein all jener gespeichert ist, die einmal lebten und noch leben, jeder ihrer Gedanken, alle ihre Gefühle, jede Handlung, jedes Wort. Und davon, dass es damit möglich sein müsste, Verstorbene wieder lebendig werden zu lassen außerhalb unserer Erinnerung. Und wirft dabei immer wieder die Frage auf, ob wir unsere Geschichten bestimmen – oder die Geschichten, wer wir sind?

Wahrheit ist immer subjektiv
Doctorow lässt seinen Protagonisten Andrew sagen: „Heutzutage kann ich niemandem trauen, am allerwenigsten mir selbst“. Gemeint ist, dass wir alles durch Filter wahrnehmen und so unsere Erinnerung beeinflussen und verfälschen. Manches geht verloren, manches wirkt überdimensioniert. Und jeder Mensch erlebt die Wirklichkeit ein wenig anders, wenn auch die Unterschiede im Gespräch oft verwischen. Doctorow gelingt es, diese Verwirrung und Vermischung der unterschiedlichen Perspektiven in seine Sprache zu packen: manchmal für mich als Leser verwirrend, spricht der Protagonist abwechselnd von sich oder von „Andrew“, und die Einwürfe, die sein vermutlicher Psychotherapeut macht, sind teilweise nur an den Formulierungen oder Fragen zu erkennen. Damit wird der Leser immer weiter hineingezogen in die Welt „in Andrews Kopf“.

Mein Fazit
Verwirrend und faszinierend zugleich zwingt mich „In Andrews Kopf“ zum aufmerksamen Lesen. Je weiter ich lese, desto eher frage ich mich, was wirklich passiert ist. Was hat Andrew erfunden, damit die Abfolge der Ereignisse in seinem Kopf Sinn ergibt, sodass er nicht daran zerbricht? Ein Buch für alle, die mit schöner Regelmäßigkeit an ihrem Verstand zweifeln – und gerade deswegen gerne in den Kopf anderer eintauchen möchten.

E. L. Doctorow, In Andrews Kopf
Kiepenheuer & Witsch, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/In-Andrews-Kopf-9783462048124
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Online-Lesemarathon: Die Welt liest „Krieg und Frieden“ von Leo Tolstoi

Gerne gebe ich heute eine Meldung von Russia Beyond The Headlines wieder:

„Auch in diesem Jahr wird es wieder einen Online-Lesemarathon zu einem Werk des berühmten russischen Schriftstellers Leo Tolstoi geben: Vom 8. bis 11. Dezember kann jeder, der des Russischen mächtig ist, ein Kapitel aus dessen weltberühmten Roman „Krieg und Frieden“ auf der Videoplattform Youtube vorlesen. Starten soll der Marathon am 8. Dezember um 10 Uhr morgens Moskauer Zeit (8 Uhr deutsche Zeit). Die Aktion findet im Rahmen des russischen Literaturjahres statt.

Bis zum 18. November können sich Interessierte auf der Webseite voinaimir.com anmelden, den Teilnahmeantrag ausfüllen und eine Videoprobe hochladen. Die Jury wird anschließend 1 300 Teilnehmer auswählen.

Wie Fjokla Tolstaja, Urenkelin von Tolstoi und Leiterin des Projektes, verriet, werde in mehreren russischen Regionen und auch weltweit an ausgewählten Orten vorgelesen. „Gelesen wird unter anderem auf einem Atomeisbrecher, am Baikalsee und auf der Internationalen Raumstation“, kündigte sie an. Die Lesung wird live auf Youtube übertragen.

„Krieg und Frieden. Wir lesen den Roman“ setzt die erfolgreiche Aktion des vergangenen Jahres fort, in dem eine Online-Lesung von Tolstois „Anna Karenina“ stattfand. Diese wurde auf Initiative von Google und des Tolstoi-Museums in der einstigen Residenz des Schriftstellers in Jasnaja Poljana (Russland) im Oktober veranstaltet. Die Lesung schaffte es in das Guinness-Buch der Rekorde als „der erfolgreichste Online-Lesemarathon“ – er wurde von Zuschauern aus mehr als 106 Ländern verfolgt.“

Rezension: Jiří Kratochvil, Gute Nacht süße Träume

Keine leichte Kost präsentiert der tschechische Autor Jiří Kratochvil seinen Lesern in „Gute Nacht, süße Träume“: Er beschreibt, was sich in der Todesnacht von Adolf Hitler in seiner Heimatstadt Brünn zugetragen haben könnte. Dabei gelingt ihm das Kunststück, inmitten eines düsteren Endzeitszenarios eine Geschichte zu erzählen, die oftmals zum Schmunzeln anregt und in der die Grenzen zwischen Fantasy und Realität nicht klar gezeichnet sind.

Der Autor
Jiří Kratochvil, Schriftsteller, Dramaturg, Kritiker und Publizist, wurde 1940 in Brünn in Tschechien geboren. Er studierte Philosophie, hatte in der sozialistischen Tschechoslowakei lange Publikationsverbot und verdiente sich als Kranführer, Heizer und Bibliothekar den Lebensunterhalt. Seine Werke sind in mehrere Sprachen übersetzt, 1999 erhielt er die höchste Auszeichnung seines Landes, den Jaroslav Seifert-Preis.

Quelle: www.braumueller.at
Quelle: www.braumueller.at

Der Inhalt
Schauplatz der Handlung ist das mährische Zentrum Brünn. Die deutschen Besatzer haben die Stadt auf ihrem Rückzug vor der Roten Armee bereits verlassen, jedoch sind einige deutsche Scharfschützen zurückgeblieben und am Stadtrand kommt es immer wieder zu Scharmützeln. Zwei der Protagonisten, Kostja und Kuba, irren durch die von Bomben zerstörte Stadt: Sie suchen einen amerikanischen Fallschirmspringer, der Penicillin bei sich haben soll, das in den Kliniken dringend benötigt wird.

Protagonist eines zweiten Handlungsstranges ist Jindřich, der von einer Zigeunerin als entscheidendes Zünglein an der Waage auserkoren wurde, sollte es zur mythischen Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse kommen. Begleitet wird Jindřich von einer sprechenden Katze, die ihn leitet und beschützt. Mehrfach kreuzen sich die Wege des Trios, bevor sie sich letztlich auf eine völlig unerwartete Art endgültig begegnen.

Wenn Surrealismus real wird
Jiří Kratochvil entwickelt einen ganz eigenen Sprachstil, um das Grauen der letzten Kriegstage in Worte zu verpacken. Er vermischt geschickt Realität, Mythologie und Fantasy und erschafft damit ein auch für die Nachkriegsgeneration nachvollziehbares Endzeitszenario, in dem sich eine surreale oder groteske Situation an die nächste reiht. Über weite Passagen, etwa bei der Hochzeit der Liliputaner, die auf einem Dach stattfindet, erinnert das Werk an den Surrealismus in den Filmen des chilenischen Autors Alejandro Jodorowsky.

Mein Fazit
Wer die Literatur der Postmoderne schätzt, wird „Gute Nacht, süße Träume“ lieben. Allerdings muss sich der Leser tief auf die Geschichte einlassen. Zunächst ist das Buch etwas schwierig zu lesen. Das liegt einerseits an den zahlreichen tschechischen Eigennamen, andererseits an den langen, oft verschachtelten Sätzen, mit denen der Autor als Stilmittel arbeitet. Gut, dass das Buch mit Anmerkungen abschließt, in denen wichtige Begriffe und die Schauplätze erläutert werden.

Jiří Kratochvil: Gute Nacht, süße Träume. Aus dem Tschechischen von Christa Rothmeier
Braumüller Literaturverlag, Wien 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Gute-Nacht-suesse-Traeume-9783992001477
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezensionsreihe Indonesien zur Frankfurter Buchmesse 2015, Teil 2: Andrea Hirata, Der Träumer

Dass der amerikanische Traum selbst in den entlegensten Winkeln der Welt umsetzbar ist, zeigt der indonesische Autor Andrea Hirata im zweiten Teil seiner Autobiographie „Der Träumer“. Denn trotz aller Widerstände gelingt es ihm, eine gute schulische Ausbildung zu erhalten und im Ausland zu studieren. Selbst seine große Liebe aus Kindertagen scheint nicht unwiderbringlich verloren.

Der Autor
Andrea Hirata wurde auf der Insel Belitung, Indonesien, geboren, wo er auch heute lebt. An der University of Indonesia schloss er ein Wirtschaftsstudium ab. Mit einem EU-Stipendium setzte er seine Ausbildung in Paris und Sheffield fort. Sein Debüt „Die Regenbogentruppe“ (in 25 Sprachen übersetzt) machte ihn zum meistgelesenen Schriftsteller Indonesiens. Wie „Die Regenbogentruppe“ wurde auch „Der Träumer“ in Indonesien verfilmt.

Quelle: www.hanser-literaturverlage.de
Quelle: www.hanser-literaturverlage.de

Der Inhalt
Eigentlich wäre der kleine Ikal mit seinen zwölf Jahren alt genug, um zu arbeiten und seine Familie mit zu ernähren. Grundkenntnisse im Schreiben und Rechnen hat er ja auf der Regenbogenschule erworben. Doch die Arbeit im Zinnbergwerk, die sein verkrüppelter Vater Tag für Tag verrichtet, ist schlecht bezahlt, beschwerlich und bietet keine Perspektiven.

So darf Ikal mit seinem Cousin Arai, der seit dem Tod seiner Eltern in Ikals Familie lebt, die Oberschule in der Bezirkshauptstadt besuchen. Die beiden jungen Männer können sich jedoch nicht voll auf die Schule konzentrieren, sondern müssen für ihren Unterhalt schwer arbeiten. Trotzdem gelingt es ihnen, so gut abzuschließen, dass sie anschließend ein Studium in Jakarta beginnen können. Dank eines EU-Stipendiums können sie an der renommierten Sorbonne in Paris studieren. Seinen Abschluss macht Ikal, der sich für Wirtschaftswissenschaften entschieden hat, schließlich an der Sheffield Hallam University.

Nach der Rückkehr in die Heimat landet Ikal in einem tristen, von der Wirtschaftskrise gezeichneten Land. Statt eines Jobs, der seinen Fähigkeiten entspricht, arbeitet er im Kaffeehaus seines Onkels. Dieser verschwindet eines Tages und kehrt mit A Ling zurück, einer jungen Frau, in die sich Ikal schon als Schüler verliebt und die er immer wieder verzweifelt gesucht hatte.

Ein einfühlsamer Autor
Andrea Hirata erzählt die Geschichte seiner Jugend plastisch, sodass im Kopf des Lesers fast zwangsläufig die Bilder vom Leben und Alltag einfacher Menschen auf einer kleinen indonesischen Insel entstehen. Aus jeder Zeile spricht die Liebe zu Kultur, Land und Leuten, die sich auch über kleine Dinge im tristen Alltag freuen können – und sei es nur das Thema einer Radioübertragung. Die Hintergründe zu den gesellschaftlichen Umwälzungen in Indonesien während des ausgehenden 20. Jahrhunderts reißt er nur insoweit an, als diese Details wichtig für die Geschichte sind und diese abrunden.

Mein Fazit
Der Autor erzählt auf eine zum Teil naiv wirkende und dennoch brillante Art die Geschichte eines jungen Mannes, der an sich und seine (bescheidenen) Träume glaubt und dann auch verwirklicht. Obwohl Andrea Hirata auf eine unmittelbare Sozial- oder Gesellschaftskritik verzichtet, erhält „Der Träumer“ angesichts der aktuellen Diskussion um syrische Flüchtlinge auch eine politische Dimension

Andrea Hirata, Der Träumer
Carl Hanser Verlag, München 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Der-Traeumer-9783446247918Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Verlagsperlen bei Lehmanns: Im Birnbaum Verlag einfach ein gutes Buch machen

Auf dem Podium sitzen zwei Männer, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Beide verbindet eine Mission: Sie wollen einfach nur „ein gutes Buch machen“. Geht das? Klar, wenn man sich ehrlich eingesteht, dass Schreiben und Verlegen allein ohne einen sicheren Brotberuf das Überleben nicht sichert.

Verleger Oliver Weidlich. Quelle: Birnbaum Verlag
Verleger Oliver Weidlich. Quelle: Birnbaum Verlag

„Erstmal muss mein Bauchgefühl stimmen.“ Verleger Oliver Weidlich weiß, wonach er neue Bücher für das Verlagsportfolio seines Birnbaum Verlages aussucht. Die meisten neuen Autoren kommen über Autorennetzwerke, dazu gibt es Sichtungen bei Lesungen, erst einer hat es mit einer konventionellen Manuskripteinsendung geschafft. Keiner der Verlagsautoren kommt aus Leipzig. Klartext: „Aus dem Deutschen Literaturinstitut war noch nichts dabei für uns.“

Weidlichs Anspruch ist zeitgenössische, junge Literatur. Wenn das Bauchgefühl nicht eindeutig ist, helfen manchmal Testleser aus der Schnitttmenge der Zielgruppe. So kommen dann Autoren wie Anette Lang zum Birnbaum Verlag, die sechs kitschfreie Kurzgeschichten zur Liebe vorlegte. Oder Konrad Fischer, der Notate aus der früheren DDR nach 40 Jahren aufarbeitete. Oder Martin Spieß, der mit einer Fluchtgeschichte nach dem Tod des Vaters einen Beitrag zur Erinnerungskultur leistet. Die Zusammenarbeit mit den Autoren von Lektorat bis Cover ist eng, auch als Erfahrung aus einer Tätigkeit Weidlichs bei einem großen Verlag vor der eigenen Gründung. Die Startauflagen sollten bei Birnbaum jeweils um 500 Exemplare liegen, legt Weidlich auf Nachfrage offen. Aber: „Je anspruchsvoller der Text, desto niedriger die Verkaufszahlen.“ Bei einem Ladenpreis von 12 Euro bliebe beim Autor etwa ein Euro hängen. Ernüchternd.

Christoph H. Winter liest. Foto: Detlef M. Plaisier
Christoph H. Winter liest. Foto: Detlef M. Plaisier

An Weidlichs Seite sitzt Christoph H. Winter, hemdsärmelig, mit einer Spur zuviel Selbstsicherheit, dennoch der Schwiegermuttertraum schlechthin, erinnernd an den jungen Simon Baker (kennen Sie nicht? The Mentalist!). Er liest Anfangspassagen aus seinem Roman „Über uns die Berge. Unter uns der See“, seine erste Lesung aus dem Buch überhaupt. Frühe Notizen entstanden schon 2010. Es habe dem Text gut getan, zu reifen: „Distanz macht rund.“ Das Publikum stellt die üblichen Fragen: Warum schreiben Sie überhaupt? Und ist der Text autobiographisch? „Ich will kein politischer Günther Grass sein“, sagt Winter. „Ich will beim Lesen eine Sogwirkung erzeugen.“ Und irritierend dürfe es auch sein.

Als Widmung schreibt er mir ins Buch „Auf ein gutes Buch!“ Erste Leseprobe am späten Abend: Ja, es gab einen Sog. Rezension folgt.

Verlagsvideo: https://vimeo.com/51666764
Christoph H. Winter, Über uns die Berge. Unter uns die See.
Anette Lang, Things that I won‘t do for love
Martin Spieß, So weit weg wie möglich
Konrad Fischer, Das diktierte Leben des Herrn F.
Bücher online bestellen: laden.birnbaumverlag.de/
www.birnbaumverlag.de

Rezensionsreihe Indonesien zur Frankfurter Buchmesse 2015, Teil 1: Laksmi Pamuntjak, Alle Farben Rot. Eine Saga von erschreckender Aktualität

Im Grunde erzählt die indonesische Autorin Laksmi Pamuntjak nur die Geschichte von Amba, einer Frau, deren Zukunft angesichts der politischen Verwicklungen in ihrer Heimat gestohlen wurde. Dabei spannt die Autorin einen Bogen über mehr als vier Jahrzehnte und nimmt Bezug auf eine bekannte Sage. Das Schicksal der Charaktere scheint also vorgezeichnet. Oder hätten sie doch die Chance gehabt, einen anderen Pfad zu wählen?

Foto: Hans Scherhaufer - Danke!
Die Autorin Laksmi Pamuntjak, fotografiert von Hans Scherhaufer – Danke!

Alle Farben Rot: Darum geht es
Die Autorin erzählt eine Dreiecksgeschichte aus der indischen Saga Mahabharata nach. Die Hauptfiguren darin sind Amba, die von Bishma entführt wird, woraufhin sie von ihrem Verlobten verschmäht wird. Amba wird unfreiwillig zur Schicksalsfigur in einem unseligen Bruderkrieg. Die reale Amba hingegen, Tochter eines Lehrers, beginnt ein Anglizistikstudium. Sie lebt getrennt von ihrem Verlobten, weil er in einer anderen Stadt als Lehrer arbeitet und deshalb den Kontakt mit Amba nur per Brief aufrechterhalten kann.

Während des Studiums nimmt Amba einen Job als Übersetzerin in einem Krankenhaus an und verliebt sich in den Arzt Bishma. Amba scheint ihr Glück gefunden zu haben.Angesichts der politischen Wirren stellt sich das vermeintliche Glück als großes Unglück ihres Lebens heraus: Eine leidenschaftliche Affäre endet nach etwa einem Monat, als Amba und Bishma sich während einer Straßenschlacht aus den Augen verlieren. Als Amba bemerkt, dass sie von Bishma schwanger ist, löst sie ihre Verlobung und geht nach Jakarta, ohne sich von der Familie verabschiedet zu haben. Sie heiratet einen deutschstämmigen, US-amerikanischen Anglizisten, der ebenso wurzellos ist wie sie und das Kind wie sein eigenes annimmt.

Und was ist mit dem Geliebten?
Anfang 2006 – ihr Ehemann ist inzwischen verstorben, das Kind erwachsen –, erhält Amba eine anonyme E-Mail. Bishma sei verstorben. Weil dieser mit linken Aktivisten sympathisiert hatte, war er nach Suhartos Machtergreifung im Straflager Buru inhaftiert worden, das er Zeit seines Lebens nicht mehr verlassen hatte. Amba reist nach Buru, findet tatsächlich Bishmas Grab und wird von einer Frau beinahe ermordet, weil sie ein Foto von der gemeinsamen Tochter auf die Grabstätte legen möchte. Nach dieser Verwicklung beginnt Amba zu erzählen…

Der Erzählstil
Laksmi Parmuntjak unterteilt ihre komplexe Saga von nahezu 700 Seiten in mehrere Bücher, die aus unterschiedlichen Blickwinkeln über die verschiedenen Schicksale und Zeitebenen berichten. Dabei bedient sie sich einer fast märchenhaften Sprache, sodass sich der Leser problemlos in die für Europäer fremde Welt hineinversetzen kann. Dabei gelingt es Laksmi Pamuntjak, die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen Indonesiens neutral zu schildern, ohne Sympathien für die eine oder andere Seite erkennen zu lassen oder gar Schuldzuweisungen zu geben.

Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de
Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de

Gefesselt von Tabus?
Laksmi Pamuntjak gelingt der schwierige Spagat, mit einigen Traditionen der jungen indonesischen Literatur zu brechen und sich zugleich an einige Tabus zu halten. Wie andere Autoren spricht auch Pamuntjak viele Geschehnisse aus der Zeit der Suharto-Diktatur nicht aus, sondern deutet nur an. Dies lässt Raum für die Phantasie des Lesers, dürfte aber auch der Tatsache geschuldet sein, dass ein Teil der indonesischen Gesellschaft noch den alten Strukturen verhaftet ist, wie es auch in Deutschland nach der Zeit des Nationalsozialismus und dem Fall der Berliner Mauer der Fall war.

Laksmi Pamuntjak ist eine der wenigen indonesischen Frauen, die publizieren. Obwohl sich ein allmählicher Wandel abzeichnet, ist die indonesische Literatur noch stark von Männern dominiert, die für Eliten schreiben, während in der einfachen Bevölkerung die mündliche Verbreitung von Geschichten noch sehr üblich ist. Laksmi Pamuntjak ist die erste Autorin, die sich des Themas der Gefängnisinsel Buru annimmt und dies zum Mittelpunkt ihres Romans macht. Sie hat sich für ihre Erzählung auf die Berichte von ehemaligen Gefangenen gestützt, was im Werk auch an zahlreichen Details ersichtlich wird. Unter anderem war auch der bedeutendste indonesische Schriftsteller Pramoedva Ananta Toer auf der Molukkeninsel inhaftiert. Davon erzählt sein autobiographisches Werk Stilles Lied eines Stummen.

Fazit
„Alle Farben Rot“ ist ein Roman, der sich leicht und zügig lesen lässt. Inhaltlich ist es jedoch keine einfache Kost. Es gelingt Laksmi Pamuntjak meisterhaft, die Geschichte einfacher Menschen zu erzählen, die ihr Glück angesichts von Umbrüchen und gesellschaftlichen Umwälzungen nicht finden dürfen, und zugleich das Interesse für eine fremde Kultur zu wecken. Durch die Wahl Indonesiens als Partnerland für die Frankfurter Buchmesse 2015 und die Präsentation von „Alle Farben Rot“ gewinnt die Saga um Amba und Bashnir ungewollt angesichts der Flüchtlingswelle, die sich 2015 aus Afrika auf den Weg nach Europa macht, erschreckende Aktualität. In den leidigen „Das Boot ist voll“-Diskussionen wird gern vergessen: Hinter jedem Flüchtling steht ein tragisches Einzelschicksal. Jeder Flüchtling hat eine menschenwürdige Behandlung verdient. Dass das auch im „zivilisierten“ Westen nicht zwangsläufig der Fall ist, zeigen nicht nur die Anfeindungen von Rechten, sondern auch die Zustände in den Auffanglagern, wo es oft am Nötigsten fehlt. So hatte Amnesty International bei der Augenscheinnahme des österreichischen Lagers Traiskirchen verheerende Zustände und gravierende Verstöße gegen die Menschenrechte festgestellt. So gerät die Frankfurter Buchmesse 2015, auch unter dem Blickwinkel des Buches von Laksmi Pamuntjak, zu einem politischen Plädoyer, und das ist gut so.

Laksmi Pamuntjak, Alle Farben Rot
Ullstein Verlag, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Alle-Farben-Rot-9783550080869
Autoren der Rezension: Harry Pfliegl / Detlef M. Plaisier

Anne Köhler liest bei Lehmanns: Atmosphärisch dicht und neue Blickwinkel

Anne Köhler stellte bei Lehmanns ihr Buch „Ich bin gleich da“ vor. Ich hatte es bereits gelesen, ein Autorenkollege hat für dieses Blog rezensiert. Der Verlag Dumont bewirbt den Text mit dem Schwerpunkt Küche und Kochen: „Für Elsa ist Kochen viel mehr als nur ihr Beruf oder die bloße Zubereitung einer Mahlzeit. Nur in der Küche gelingt es ihr, ihre Sorgen hinter sich zu lassen. … ein Roman über die Sehnsucht nach Familie und Geborgenheit – voller atmosphärischer Koch- und Küchenszenen.“ Doch Anne Köhler selbst setzt andere Schwerpunkte – was mich nach dem Abend veranlasst, das Buch noch einmal zu lesen.

Anne Köhler liest bei Lehmanns. Foto: detlef M. Plaisier
Anne Köhler liest bei Lehmanns. Foto: Detlef M. Plaisier

„Ich bin ein wahnsinniger Genussmensch.“ Anne Köhler gesteht es freimütig im Gespräch. „Wenn es mit dem Buch mal nicht vorwärts ging, war Kochen eine willkommene Ausrede.“ Sie habe sich lange „gegrämt“, nicht Köchin geworden zu sein. Doch nach der Recherche vor Ort in Spitzenrestaurants sei sie froh, dass Kochen privat geblieben ist, „einfach nur Entspannung und Vergnügen.“

Anne Köhlers eigene gastronomische Erfahrungen im Service und in einer Bistroküche waren letztlich nicht genug, um die Aktionen der Protagonistin Elsa in einer Sterneküche glaubhaft zu schildern. Was macht man da? Einfach bei Sterneköchen anfragen, ob man mal zusehen darf. Kolja Kleeberg war einer der ersten, der zusagte. Verdammt eng war es in der Küche, „gerade mal ein halber Quadratmeter, auf dem ich stehen konnte, ohne zu stören.“ Laut, heiß, viel Adrenalin – „es war heilsam“, sagt Anne Köhler rückblickend. Obendrauf gab’s noch eine Woche im Zwei-Sterne-Restaurant, „wo ich alle unliebsamen Tätigkeiten übernommen habe und die Jungköche freiwillig erzählten“ – so wurde die Recherche komplett. Überraschend ist Anne Köhlers Blick auf Köchin Elsa: „Sie hätte auch einen anderen Beruf ausüben können.“ Zu Beginn sei Kochen ja nicht ihre Leidenschaft gewesen, „und da war im Prinzip jeder Beruf möglich, der Kopf und Körper fordert und das Nachdenken verhindert.“

Als Anne Köhler liest, höre ich neue Glanzlichter: die Walpurgisnacht im Dorf, als wäre ich gestern dabei gewesen, das Spiegelbild eines Kindes im Wasser, das mit einem Schlag auf die Oberfläche zerstiebt – Anne Köhlers Stimmungen und ihre Stimme schmiegen sich an meine Gefühle an. Erst der kühle Abend bringt mich wieder zur Besinnung.

Rezension: Vladimir Sorokin, Telluria

Immer schon haben Menschen darüber spekuliert, wie die Zukunft der Menschheit und der Erde wohl aussehen würde. Unzählige Bücher wurden geschrieben, um die Spekulationen festzuhalten und später mit der Realität abzugleichen. Bei Vladimir Sorokins „Telluria“ wünscht man sich, dass die Vision nie Wirklichkeit wird.

Quelle: www.kiwi-verlag.de
Quelle: www.kiwi-verlag.de

Düstere Welten
Der eurasische Kontinent, Mitte des 21. Jahrhunderts: die Staaten, wie wir sie kennen, sind vom Erdboden verschwunden, stattdessen gibt es unzählige Klein- und Kleinststaaten. Köln, Bayern, Moskau sind beispielsweise eigene Republiken, jeder ist mit jedem verfeindet, der Kontinent ist als Folge der vielen Kriege völlig verwüstet. Europa wurde von den Taliban überrannt, die einen radikalen Islamismus installierten. Wissenschaft und Forschung haben Fortschritte gemacht, Autos fahren mit Kartoffelgas, und dank der Gentechnik gibt es riesige Arbeitspferde, die wieder als Beförderungsmittel dienen. Zugleich bevölkern allerlei seltsam anmutende Lebewesen die Erde: Kreuzungen aus Mensch und Tier, Zwerge, Riesen, lebendige Schachfiguren oder aufrecht laufende Hunde und Wölfe. Was alle Lebewesen miteinander verbindet, ist die Sehnsucht nach Telluria, dem gelobten Land. Die Republik Telluria ist das einzige Gebiet auf der Erde, wo die Tellur-Nägel nicht als Suchtmittel verboten sind, sondern zur Heilung und Behandlung eingesetzt werden. Die Tellur-Atome gehen, wenn die Nägel an passender Stelle in den Kopf geschlagen werden, eine Verbindungen mit den chemischen Botenstoffen im Gehirn ein, und führen zu einem Rauschzustand, in dem die Benutzer keine Angst, Schmerzen oder Trauer kennen. Da spielt es auch keine Rolle, wenn bei falscher Benutzung durch die „Zimmerleute“ oder schlechten Bedingungen die Nutzer an den Nägeln sterben – die Sehnsucht nach dem Rausch ist größer. Und so treibt es alle Protagonisten des Buches nach Telluria, wo sie sich endgültige Befriedigung ihrer Sucht erhoffen.

Feuerwerk der Stile
Vladimir Sorokin hat keinen eigenen Stil – oder vielmehr, er hat alle. In 50 Episoden, die völlig unterschiedlich gestaltet sind, vom Märchen zur Dokumentation, vom Heldenlied über Gedicht zu Epos, von der Reiseerzählung zum Roman, werden die Situationen der Protagonisten geschildert; unzusammenhängend und doch wie ein Mosaik ein Ganzes ergebend, da sich die verschiedenen Blickwinkel alle zu einem Ereignis ergänzen. Telluria ist keine fortlaufende Erzählung, es gibt keinen roten Faden, und so ist der Leser in jeder Episode gezwungen, sich im Hinblick auf Protagonisten, Szenerie, Schreibstil und Handlung völlig neu zu orientieren. Das macht den Stoff interessant, damit aber auch zu einer anspruchsvollen Lektüre.

Mein Fazit
Wer bereit ist, sich auf radikale Stilwechsel einzulassen, sich nicht vor einer düsteren Zukunftsprognose fürchtet und Verständnis für die russische, oft etwas melancholische, Seele hat, der wird Telluria lieben. Zeitgleich ist der Text ein wichtiger aktueller Denkanstoß zu der Frage, was geschieht, wenn wir eine Politik der Abschottung und des Nationalismus auf die Spitze treiben und damit zunehmend alle humanistischen und sozialen Werte aus der Gesellschaft drängen.

Vladimir Sorokin, Telluria
Kiepenheuer & Witsch, 2015
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Autor der Rezension: Harry Pfliegl