DIE WELT formuliert es drastisch: Mit der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2015 sei vorgezeichnet, dass sich der Deutsche Buchpreis selber abschaffe. Nicht nur, dass als großes Manko Literaturkritiker keine ausreichende Stimme in der Jury hätten (was Leipzig Lob einbringt). Wer den „provokativsten, intelligentesten, sprachmächtigsten und verstörendsten Roman des Jahres“ nicht auf die Shortlist setze (gemeint ist Clemens J. Setz‘ „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“), der entwerte den kommenden Preisträger von vornherein, wer es auch sei.
Zustimmung. Doch es gibt noch mehr zu kritisieren. Was in Deutschland auf der Agenda steht, spiegelt sich in der Auswahl wieder: Drei Männer, drei Frauen. Und durch die unbegreifliche Streichliste jetzt mit Jenny Erpenbecks „Gehen, ging, gegangen“ ein Flüchtlingsroman als Favorit. Alles andere wäre eine Überraschung. Dazu fielen neben Clemens J. Setz auch die zwei anderen Longlist-Titel von Suhrkamp durch den Jury-Rost. Ein Indieverlag ist gar nicht mehr vertreten. Subjektiv fand auch mein Favorit „Baba Dunjas letzte Liebe“ (bei KiWi) keine Gnade.
Also: Herzlichen Glückwunsch, Jenny Erpenbeck. Doch dieses Jahr ist der Deutsche Buchpreis vergleichbar dem Friedensnobelpreis an Obama: Er ist ohne Wert.
Das Finale des ZDF-„aspekte“-Literaturpreises für das beste literarische Debüt des Jahres 2015 haben sechs Romane erreicht:
Kristine Bilkau, Die Glücklichen
Mirna Funk, Winternähe
Franziska Hauser, Sommerdreieck
Kat Kaufmann, Superposition
Richard Schuberth, Chronik einer fröhlichen Verschwörung
Dimitrij Wall, Gott will uns tot sehen
Der Preisträger oder die Preisträgerin des ZDF-„aspekte“-Literaturpreises 2015 wird am Freitag, 9. Oktober 2015, in „aspekte“ bekannt gegeben. Mitglieder der Jury sind Jana Hensel (Autorin), Ursula März (Die Zeit), Daniel Fiedler (Redaktionsleiter ZDF Kultur Berlin), Clemens Schick (Schauspieler) und Volker Weidermann („Das Literarische Quartett“, Der Spiegel).
Die Preisverleihung findet am 15. Oktober um 10.30 Uhr am ZDF-Stand im Rahmen der Frankfurter Buchmesse statt. Das ZDF vergibt den „aspekte“-Literaturpreis seit 1979 für das beste deutschsprachige Prosa-Debüt. Er ist mit 10 000 Euro dotiert.
Ich drücke Kristine Bilkau alle Daumen! Eine Rezension zu ihrem nominierten Debut gibt es hier.
Esther Verhoef, 1968 in den Niederlanden geboren, ist eine Sachbuch- und Krimi/Thrillerautorin. Für ihre Bücher wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Mit dem vorliegenden Buch kam sie sofort auf Platz 1 der niederländischen Bestenliste. Esther Verhoef lebt mit ihrem Mann in Südfrankreich.
Eine Frau und drei Männer. Eine Frau, die den schrecklichen Erfahrungen ihrer Kindheit und Jugend nicht entfliehen kann. Eine Frau, die endlich den Mut aufbringt, sich ihr eigenes Glück zu gönnen. Wie viel Leid kann ein Mensch ertragen, ohne verrückt zu werden?
Inhalt
Vera, eine Tierfotografin, seit 20 Jahren verheiratet, trifft sich seit zwei Jahren regelmäßig alle sechs Wochen für eine Nacht mit ihrem Liebhaber, der ebenfalls verheiratet ist. Beide erleben diese Stunden sehr intensiv. Es ist mehr als Sex. Es sind die Gespräche über fast alles, die sie so mit ihren jeweiligen Partnern nicht führen können.
Lucien, Veras Mann, hat ebenfalls eine Affäre, von der Vera etwas ahnt. Er kann nicht damit umgehen, dass Vera auf Grund ihrer Kindheitserlebnisse keine eigenen Kinder will. Als Luciens Vater seiner Familie bei einem Familienessen von seiner unheilbaren Krankheit erzählt, unternehmen alle gemeinsam eine letzte Reise nach Florida. Dort lernt Vera Luciens Halbbruder Aaron kennen, der spürt, dass zwischen Vera und ihrem Mann vieles im Argen liegt. „Es braucht nicht viel, um ein Leben aus den Angeln zu heben.“ (S. 444) Diese Erfahrung wird Vera selbst machen, und das, was sie erleiden muss, ist mehr, als manche Menschen ertragen können. Rückblickend sagt sie: „Angst war meine Triebfeder, mein Geleit, mein Schutz… Aber ich habe nicht gelebt.“ (S. 473)
Der Roman erzählt Veras Wandlung von einer zutiefst verängstigten und bindungsscheuen Frau hin zu einer Frau, die den Kampf gegen ihre inneren Dämonen aufnimmt und fast daran zerbricht. Einer ihrer Leitsprüche ist: „Man ist die Person, die man sich entschieden hat zu sein, jeden Tag aufs Neue.“ (S. 34) Als alles über ihr zusammenbricht, resümiert sie resigniert: „Glücklich sein zu wollen ist vielleicht noch zu viel verlangt.“ (S. 587)
Formelles
Das Buch besteht aus zwei Teilen, wovon der erste Teil 460 Seiten einnimmt und der zweite 144 Seiten. Im ersten Teil setzt die Autorin jedem Kapitel der Gegenwart ein kurzes der Vergangenheit (andere Schriftart, die Kapitelnummer statt in Ziffern in Buchstaben) voran. In den Kindheitskapiteln wird von einer, durch Gewalterfahrungen und Angst geprägten Schulzeit erzählt. Die Erwachsenen kommen darin nur am Rande vor, jedenfalls nicht als Helfer und Beschützer. Auch die besondere Rolle der psychisch kranken Mutter nimmt breiten Raum ein.
Die Autorin erzählt in der Ich-Form, wodurch sie dem Leser einen unmittelbaren Zugang zur Protagonistin ermöglicht. Die einzelnen Kapitel sind sehr kurz, oft nur zwei bis drei Seiten. Für mich war dieses ständige Umschalten von Vergangenheit auf Gegenwart und umgekehrt sehr anstrengend. Ich hätte gern länger in einer Zeitebene verweilt und wäre dem Handlungsverlauf lieber weiter gefolgt. Dadurch fiel es mir am Anfang auch schwer, zu den Figuren eine tiefere Bindung herzustellen. Andererseits erhielt das Ganze durch den schnellen Wechsel auch einen ungeheuren Drive, ein Tempo, das es mir schwermachte, das Buch aus der Hand zu legen.
Mein Fazit
Dieses Buch ist uneingeschränkt zu empfehlen. Selten habe ich ein so tief- und nahegehendes Psychogramm einer Persönlichkeit gelesen; die Hauptfigur, die 38-jährige Vera, ist eine Protagonistin, mit der man mitleiden und mitfiebern kann.
Wie findet man zu sich selbst, wenn rundherum alles in Auflösung begriffen ist? Wie geht man mit der Veränderung um, die man nicht beeinflussen kann, und die gerade deswegen furchterregend ist? Diese Fragen, die Nicola Nürnberger in ihrem Roman „Berlin wird Festland“ stellt, aber nicht zu beantworten vermag, sind wahrscheinlich so alt wie die Menschheit selbst – und in manchen Situationen offensichtlicher als in anderen.
Über die Schwierigkeiten eines Neuanfangs
Berlin, 1991: der Mauerfall ist keine zwei Jahre her, und die Trennung zwischen Ost und West ist noch deutlich sichtbar in der „Insel“ West-Berlin mitten in Ostdeutschland. Christine ist aus der hessischen Provinz zum Studium nach Berlin gekommen und genießt die vermeintliche Freiheit der wilden Umbruchszeiten. Nach und nach merkt sie, dass die rasante Veränderung rundum nicht nur gute Seiten hat: zwischen aufkeimendem Rechtsradikalismus, gewaltbereiten Demonstranten und den Alten, die sich die „guten alten Zeiten“ zurück wünschen, muss sie ihren eigenen Weg finden. Monty, der „schon“ 30 ist und die Wende vor Ort miterlebt hat, hilft ihr, eine Brücke zu schlagen zwischen Ost und West, Alt und Neu. Und so, wie sich die Liebesgeschichte zwischen den beiden entwickelt, entwickelt sich auch Christines Verständnis dafür, dass positive Veränderungen bei ihr selbst beginnen müssen.
Erinnerungen, die man nicht aufschreibt, gehen verloren
Nicola Nürnberger zeichnet das Bild Berlins nach der Wende aus der Sicht einer jungen Frau: lebendig, furchteinflößend, voller Chancen und Widersprüche. Auch die Gefühlswelt und die Gedanken werden eingefangen und zeigen die Diskrepanz zwischen den jungen Menschen, die noch getrennt nach Ost und West aufgewachsen sind; zeigen, wie wenig der Westen vom Osten wusste und wie gönnerhaft mit den Menschen umgegangen wurde, die sich „drüben“ eine bessere Zukunft aufbauen wollten, frei von Stasi-Terror und Regime-Repressalien. Ebenso wird klar, wie viele Menschen damals schon eine schöne, friedliche neue Welt wollten, in der alle zufrieden miteinander leben können. Als Christine beschließt, ihre Erlebnisse aufzuschreiben, gemeinsam mit den Erinnerungen der Alten, die sie als Mitarbeiterin eines Besuchsdienstes betreut, möchte sie kein typisches Tagebuch schreiben, Erinnerungen für die Nachwelt erhalten.
Mein Fazit
Eine gelungene Mischung aus Lebensbild einer jungen Studentin, die zum ersten Mal wirklich verliebt ist und merkt, dass es mehr gibt im Leben als die akademische Welt, Ausgehen und One-Night-Stands, und der Beschreibung einer Stadt im Wandel. Wer selbst studiert hat, erkennt sich in Christine wieder, in der Unbedarftheit und Sorglosigkeit, mit der sie ihren Alltag bestreitet, aber auch in ihrem Entsetzen, als sie begreift, dass akademische Diskussionen und Protestplakate an der rauen Wirklichkeit vorbei gehen. Eine lesenswerte Erzählung, die hilft, Erinnerungen aufzufrischen und zu erkennen, dass die Welt von damals von der heutigen gar nicht so weit entfernt ist.
Bereits vor einiger Zeit erschien im Leipziger Open House Verlag Paula Bomers Erzählungsband „Baby“. Bevor sich die Autorin im Herbst dieses Jahres mit ihrem neuen Werk „Neun Monate“ auf Lesereise begibt, lohnt es sich, einen kurzen Blick auf ihre erste Veröffentlichung in deutscher Übersetzung zu werfen.
Zur Autorin
Paula Bomer, geboren in Indiana, ist ein kleines Mysterium, was ihre Vita betrifft. Denn obwohl sie bereits eine Vielzahl von Essays und Geschichten veröffentlicht hat, bleiben doch die klassischen Angaben zum Werdegang im Verborgenen. Auf ihr Debüt „Baby and Other Stories“ folgten bisher zwei gefeierte Romane. Heute lebt Paula Bomer in New York.
Kindergeschrei und Beziehungsbrei
„Baby“ vereint zehn kurze Erzählungen. Alle beschreiben die Schattenseiten des Alltagslebens und zwischenmenschlicher Beziehungen – und alle haben eines gemein: Die Protagonisten stehen nach einem Einschnitt in ihrem Leben vor einer großen Ungewissheit, werden mit dem Ergebnis einer falschen Entscheidung konfrontiert. Sei es die Krankheit der ungeliebten Ehefrau zu ignorieren oder ein Baby zu bekommen in der Hoffnung, das süße kleine Zauberwesen könnte eher Spaß als Anstrengung sein. Der Leser folgt den Figuren in ihre tiefsten Gedanken und erhascht so einen Blick hinter die Zuckergussfassade der weißgetünchten Gartenhäuser.
Der Funke Wahrheit im Abgrund
So niedlich der Titel auch anmutet: „Baby“ ist etwas härtere Kost und nicht als spaßige Lektüre am Baggersee gedacht. Bomers Protagonisten sind aggressiv, wütend und zum Teil schon so verbittert, dass sie die Welt nur noch zynisch und verächtlich betrachten können. Dabei bedient sich die Autorin einer sehr klaren Bildsprache, etwa wenn sie in „Die Mutter seiner Kinder“ den spießigen Ted davon fantasieren lässt, wie er seinen Chef vergewaltigt. Nicht alle Figuren sind sympathisch und das ist gut so! Gerade die Schwächen und Abgründe machen Bomers Figuren so lebensecht. Mancher Leser mag sich ertappt fühlen, dass auch er schon solche Gedanken hegte, sie dann aber doch wieder vergrub, so wie Karen, die während eines Treffens der Anonymen Alkoholiker offen sagt, sie vermisse das Trinken.
Mein Fazit
Die krassen und am Ende immer offenen Erzählungen haben mich zu Beginn überrannt. Doch mit jedem Kapitel haben mich Bommers Figuren und deren Sichtweise der Welt mehr gefesselt. Allerdings empfehle ich, das Buch in kleinen Happen zu genießen, denn die teilweise bitterböse Kost liegt schwerer im Magen, als es das Cover vermuten lässt.
Romane in Form von E-Mails sind mittlerweile nichts Neues mehr. In „Das Jahr des Rehs“ stammen diese aber nicht nur aus einer Feder: Zwei Protagonistinnen und zwei Autorinnen treffen in diesem Buch aufeinander.
Zu den Autorinnen
Ursula Kollritsch, geboren 1972, und Stephanie Jana, Jahrgang 1975, tauschen wie ihre Romanfiguren fast jeden Tag E-Mails aus. Die freiberufliche Lektorin und die Texterin reden dabei sowohl über Berufliches als auch über Privates. Beide leben mit ihren Familien in Bad Honnef.
Nach langer Zeit wieder vereint
Seit 17 Jahren haben sich die Freundinnen Bella und Bine aus den Augen verloren, bis plötzlich bei der Architektin Bine eine E-Mail ihrer ehemals besten Freundin eintrifft. Schnell ist die lange Funkstille zwischen beiden vergessen: Gemeinsam erinnern sie sich an alte Schulfreunde und Liebhaber, lesen gespannt von den Lebenspfaden der anderen. Während Bine mit Mann und Kindern in der hessischen Heimatprovinz lebt, hat es die aufgeweckte Journalistin Bella mit ihrem Sohn nach Berlin verschlagen. Ihre große Liebe, Lebenspartner Andrej, schaut dort nur selten und gerne unangekündigt vorbei. Die Freundinnen schreiben einander über ein ganzes Jahr hinweg von kleinen Anekdoten des Alltags bis hin zu den großen Dramen des Lebens, teilen wie alte Freundinnen Freud und Leid.
Von Rehen und Hühnern
Jana und Kollrisch behalten die typischen Elemente des Mail-Romans bei, verzichten auf alles Geschnörkel außerhalb des Webs. So bleiben für den Leser aber auch die Inhalte der Telefonate und der beiden Treffen zwischen Bine und Bella verborgen. Es entstehen Handlungslücken, die auf die Dauer den Leser von den Protagonistinnen entfremden. Die Verteilung der Figuren auf zwei Autorinnen funktioniert erstaunlich gut, denn die Freundschaft der beiden 40-jährigen Frauen und ihr „Wiedersehen“ nach vielen Jahren wirkt sehr glaubhaft, sowohl in der Charakterisierung als auch in ihrem Sprachgebrauch. Bella ist die scheinbar etwas aufgeschlossenere und mutigere. Allerdings vergisst sie auch nicht, ihre beste Freundin in mindestens jeder fünften E-Mail darauf hinzuweisen, dass sie in Berlin lebt. Bine ist etwas ruhiger und lernt erst mit der Zeit aus sich herauszugehen. Als Gegenstück muss sie zunächst aber regelmäßig betonen, wie normal ihr Leben doch sei – fast schon langweilig.
Die Handlung des Romans verläuft trotz der guten Idee erstaunlich banal und einige der Schicksalsschläge wirken arg konstruiert. Bevor sich etwas Lesevergnügen einstellt, müssen einige Seiten gackernder „Bist du es wirklich?!“ überwunden werden.
Fazit
Am Ende fehlt dem Buch Schwung. Auch den großen Dramen des Lebens geht spätestens nach der Hälfte des Buches die Puste aus, bis die E-Mails schließlich nur noch so dahinplätschern. Wer Glattauers „Gut gegen Nordwind“ mochte, ist hier gut aufgehoben.
… und ich möchte gar nicht viel dazu sagen, sondern auf die liebevollen Kommentare meiner Bloggerkollegin Sophie verweisen. Lest rein und bildet euch ein Urteil hier.
Alte Leute im radioaktiv-verseuchten Dorf Tschernowo – das Thema von Alina Bronskys jüngstem Roman reizt mich nicht wirklich. Doch immerhin ist das Buch ansprechend schlank. 154 Seiten, das sollte machbar sein. Kurze Zeit später bedaure ich, dass es nur 154 Seiten sind…
Strahlend schönes Leben
Die über achtzigjährige Baba Dunja ist die erste, die Jahre nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl in ihr altes Heimatdorf Tschernowo zurückkehrt. Ihrem Beispiel folgen bald andere alte Leute, die nichts mehr zu verlieren haben. Unverwüstlich fristen die Greise dort einen beschaulichen Lebensabend, trinken Wasser aus dem Brunnen, naschen verstrahlte Früchte aus ihrem Garten und verarbeiten ihre dahingeschiedenen Hühner zu kräftigenden Suppen. Alle paar Wochen unternimmt einer der Alten den langen Fußmarsch zur kilometerweit entfernten Haltestelle, hofft auf gut Glück, dass der Bus in die nächstgelegene Stadt noch immer fährt und kauft dann dort für alle ein, was man nicht selbst anbauen kann. Ansonsten bleiben die Dorfbewohner von der Welt und dem 21. Jahrhundert so abgeschottet und unbehelligt wie nur irgend möglich – ohne Flachbildfernseher, Internet, Telefon. Das einzige Handy, das jemals nach Tschernowo mitgebracht wurde, fand dort keinen Empfang. Was kein allzu großes Unglück darstellt: Schließlich gehe von den Dingern Strahlung aus, wie Baba Dunjas Nachbarin Marja zu berichten weiß.
Idyllisch erzählt
Die erfahrene Autorin Alina Bronsky erzählt sehr liebevoll und mit leisem Witz. Ohne mich auch nur ansatzweise mit den Romanfiguren zu identifizieren, kann ich mich doch in alle einfühlen. So anschaulich malt Bronsky ihre Geschichte. Die „Todeszone“ Tschernowo erscheint – durch die Augen Baba Dunjas betrachtet – wie die letzte Idylle, wo alles seinen Platz und seine Richtigkeit hat, die heißen trockenen Sommer, ebenso wie die kalten Winter, die Kranken und die Gesunden, die Lebenden und die Toten. Der Titel „Baba Dunjas letzte Liebe“ meint sicherlich mehreres: Den Geist ihres verstorbenen Mannes Jegor, der sie stets begleitet, auch ihre Enkelin Laura, der sie beständig Briefe schreibt, obgleich sie ihr nie begegnet ist, maßgeblich aber spricht er wohl ihre Heimat an, der sie selbst um den Preis der Trennung von ihrer Familie treu bleibt.
Mein Fazit
Ich konnte dem Roman keine explizite Moral oder tiefere Botschaft entnehmen und war auch nicht gewillt, danach zu suchen. Die Geschichte ist einfach wunderschön geschrieben, weder traurig, noch fröhlich, und hat bei mir, ohne dass ich es erklären könnte, ein gutes Gefühl hinterlassen. Wer also gerade ohne Lesestoff ist, sollte hier getrost zugreifen.
Künstler gelten oft als seltsam und kauzig – nur nennt man das bei ihnen dann „exzentrisch“ und es gehört quasi zum Berufsbild. Felix Hasenmeister, der Violinist und Protagonist in Tilman Strassers Roman „Hasenmeister“, entspricht diesem Klischee von Genie und Wahnsinn. Doch was behält die Oberhand?
Wenn der Sohn die Träume des Vaters verwirklichen soll
Felix Hasenmeister, Sohn eines Arztes mit Ambitionen im Geigenspiel, dessen Mutter bei der Geburt starb, besitzt eine ausgeprägte musikalische Begabung. Das führt ihn ins Konservatorium, wo ihm nach Abschluss eine brillante Karriere als Konzertsolist vorausgesagt wird. Doch nach seinem Abschlusskonzert flüchtet Felix in die Abgeschiedenheit einer Übezelle, um sich vor der Welt zu verstecken. Gesucht nur von seiner geliebten Carla, offenbart Felix in der Dunkelheit der Zelle seine Geschichte vom musikalischen Wunderkind bis zum Abschlusskonzert. Nach und nach bietet sich eine Sicht auf Felix‘ Welt, dominiert von seinem Vater, der das Kind nicht wirklich lieben kann, weil seine Frau bei der Geburt starb, und seinen Geigenlehrern, die seine Psyche nachhaltig beeinflussen. Hin- und hergerissen zwischen Liebe und Hass auf die Musik und überschattet von allerlei seltsamen Begebenheiten, mischen sich die Erinnerungen mit den Empfindungen in Felix‘ selbstgewählter Isolation, sodass am Ende die Unterscheidung in Wahn und Wirklichkeit auch für den Leser schwierig ist.
Es sind die Erinnerungen, die uns prägen
Tilman Strasser gelingt es ausgezeichnet, die jeweiligen Situationen so zu schildern, wie ein Kind oder Jugendlicher im jeweiligen Alter dies gesehen haben könnte. Damit werden die Erinnerungen aber nicht rosiger, sondern gewinnen sogar noch an Schrecken, da das Kind Felix viel vom Verhalten der Erwachsenen, die es umgeben, einfach nicht versteht. Da ist etwa die erste Geigenlehrerin, die wohl ein Verhältnis mit dem Vater hat, und als dieser Geigenunterricht und Verhältnis beendet, zur irren Stalkerin wird. Da ist der dritte Lehrer, der fantastische Geschichten über seine Rettung durch die Musik erzählt. Und da ist das Verhältnis zu Carla, einer verheirateten Ärztin, der Felix mit einem kindlich-naiven Blick begegnet. Alle diese Dinge tragen dazu bei, Felix‘ Welt anhand der Erinnerung zu betrachten, immer überschattet vom despotischen Vater, der sich ein Vergnügen daraus macht, den Jungen subtil zu quälen, der ihm doch nur gefallen will. Das führt den Leser zur Erkenntnis, dass der Wahnsinn im Genie eher mit seinem Werdegang und weniger mit natürlicher Veranlagung zu tun hat – es ist die Umwelt, die uns mehr prägt als unsere Gene.
Mein Fazit
Aufgrund der Erzählweise mit ständigen Sprüngen zwischen Gegenwart, naher und ferner Vergangenheit, unterbrochen noch durch die SMS, die Carla an Felix schickt, sowie dem teilweise sehr ausschweifenden Schreibstil ist „Hasenmeister“ schwere Lesekost. Doch obwohl Tilman Strasser vielleicht ein wenig zu viel des Guten tut, wenn er gegen Ende des Buches mehr und mehr wahnwitzige Verknüpfungen andeutet, ist „Hasenmeister“ eine Empfehlung für all jene, die sich gern in die Abgründe der menschlichen Psyche versenken – und darin untergehen.
Nachdem Nina Blazon bereits großen Erfolg in der Fantasy-Literatur feierte, stellt sie nun ihren ersten Roman für ein erwachsenes Publikum vor, der beinahe ohne mythologische Gestalten auskommt.
Zur Autorin
1969 in Slowenien geboren, wuchs Nina Blazon in Bayern auf und studierte in Würzburg Germanistik und Slawistik. Nachdem sie bereits als Journalistin und Werbetexterin arbeitete, veröffentlichte sie 2003 ihren ersten Fantasy-Roman, den sie zu einer Reihe ausbaute. Knapp 30 Bücher hat sie bis heute geschrieben und erhielt unter anderem 2003 den Wolfgang-Hohlbein-Preis für fantastische Literatur sowie 2013 die „Kalbacher Klapperschlange“, ein Literaturpreis, der von einer Kinderjury vergeben wird. Nina Blazon lebt mit ihrer Familie in Baden-Württemberg.
Familien und andere Katastrophen
Was kann alles schief gehen, wenn man das erste Mal der Familie des neuen Freundes vorgestellt wird? Gäbe es in dieser Rubrik eine Katastrophenskala, Mo hätte eine volle 10 erreicht. Erst wird sie von ihrer eigenen Schwester vorgeführt, dann tötet sie den Kanarienvogel ihrer Schwiegereltern in spe. Und das sind nur zwei der traurigen Höhepunkte eines Nachmittags. Am Ende flieht die junge Fotografin vor dem Chaos mit dem Wagen ihres nun Ex-Freundes Leon und hat dessen eigensinnige Großmutter Aino gleich mit im Gepäck. Die beiden haben eines gemeinsam: Sie wollen weg und Aino hat auch schon einen Plan. Mit einigen Schwierigkeiten und vielen Streitereien begeben sich die ungleichen Frauen in auf die Spuren von Ainos Vergangenheit. Immer dabei: Ein mysteriöser Karton, der die Geheimnisse um Mos Kindheit birgt.
Durch die Linse
Wem vertrauen wir unsere Geheimnisse an und welche behalten wir ganz für uns? Diese Frage zieht sich durch das ganze Buch und Nina Blazon achtet sehr darauf, keine ihrer Figuren zu schnell zu entblättern. Im Mittelpunkt stehen die beiden auf ihre jeweils eigene Art und Weise eigenwilligen Frauen Mo und Aino. Die besondere Fähigkeit der jungen Mo besteht darin, hinter die zurechtgemachte Fassade von Familienbildern zu blicken. So wird der gesamte Roman aus ihrem Blickwinkel erzählt, während sie sich bemüht, hinter die Vergangenheit Ainos zu kommen. Dabei deckt sie aber ihre eigene Geschichte nur häppchenweise für den Leser auf, ebenso wie die alte Finnin ihre Beweggründe und die Geschehnisse in Helsinki während des Zweiten Weltkriegs nur ungern preisgibt.
Mein Fazit
Nina Blazon verwebt mit viel Feingefühl Familiendrama mit finnischer Geschichte und hat immer wieder ein Ass im Ärmel, wenn der Leser alle Geheimnisse entschlüsselt zu haben glaubt. Zugegeben: Der etwas kitschige Einband des Romans hat mich zu Beginn doch etwas abgeschreckt. Doch zwischen den Buchdeckeln steckt ein fesselnder Roman mit vielschichtigen Figuren und spannenden Wendungen. Nina Blazon zeigt, dass sie mehr als Fantasy kann.