Rezension: Kenneth Bonert, Der Löwensucher

Die Regeln des Lebens sind einfach aber grausam: Fressen oder gefressen werden. Und je härter die Zeiten, desto schneller stellt sich die Frage, was man sein möchte, ein Löwe oder ein Schaf, das sich vor dem Löwen fürchtet. Doch der Preis, der für ein Leben als Löwe gezahlt wird, ist für die Hauptfigur in Kenneth Bonerts Roman höher als dieser glaubt.

Eine Geschichte vom Erwachsenwerden
1924 wandert die Jüdin Gitelle mit ihren beiden Kindern von Litauen nach Südafrika zu ihrem Mann Abel aus, der dort eine Uhrmacher-Werkstatt betreibt. Kaum angekommen, macht sie sich energisch daran, das Leben der Familie so zu organisieren, dass es die Kinder, allen voran ihr Sohn Isaac, auf den sie große Hoffnungen setzt, einmal besser haben werden. Dabei ist Isaac alles andere als ein einfaches Kind, zieht mit den schwarzen Jungs durch das jüdische Ghetto, fliegt von mehreren Schulen und lässt keine Möglichkeit aus, sich zu prügeln. Gitelle jedoch hält zu ihrem „klugen Jungen“, der sich, wie sie meint, hocharbeiten wird. Getrieben davon, zu den Löwen gehören zu wollen und beflügelt vom Traum der Mutter vom eigenen, großen Haus, in dem auch ihre Schwestern leben können, versucht Isaac sich erst in einem Umzugsunternehmen, wo er seiner ersten Liebe und seinem erbittertsten Feind begegnet. Mit dem Vertreter Bleznik lernt er Geschäfte und Investitionen, beginnt schließlich eine Lehre als Karosseriebauer, einen Beruf, für den er Talent und Leidenschaft entwickelt. Doch Isaac muss auch lernen, dass die eigene Wut und die Härte der Mutter gegen die Welt nicht immer gute Ratgeber sind. Als der zweite Weltkrieg ausbricht, meint Isaac schließlich die Entscheidung zwischen Löwe und Schaf treffen zu müssen – mit für ihn ungeahnten Folgen.

Südafrika aus der Perspektive eines Heranwachsenden
Kenneth Bonert beschreibt die Geschichte eines ganzen Landes über mehr als zwei Jahrzehnte anhand des Schicksals zweier Menschen. Die Rassentrennung, die antisemitische Bewegung der Greyshirts, die Beteiligung am zweiten Weltkrieg und das Leben in Ghettos im Gegensatz zum Luxus der weißen Oberschicht, all das sieht der Leser durch die Augen von Isaac und seiner Mutter Gitelle. Besonders Isaac ist so lebendig dargestellt, dass man sich in seinen Kopf versetzt meint und ihm mehrfach einen guten Rat aus der Sicht eines Erwachsenen geben möchte. So gelingt es dem Autor, die Leser über die fast 800 Seiten so zu faszinieren, dass man immer weiter liest, nur um zu wissen, wie es denn nun weitergeht mit Isaac und seiner Jagd nach dem Glück.

Mein Fazit
Vor dem Hintergrund der ständigen Debatte um die nach Europa strömenden Flüchtlinge ist dieses Buch eine wohltuende Erinnerung daran, dass es noch gar nicht so lange her ist, dass aus Europa geflüchtet wurde: vor dem Hunger, vor Verfolgung, Hoffnungslosigkeit und Unterdrückung. Und auch wenn diese Geschichte in den 1920er bis 1940er Jahren spielt, so ist es doch eine Handlung, wie man sie auch heute tausendfach erlebt – die Suche eines jungen Menschen nach seinem Glück. Damit ist „Der Löwensucher“ ein lesenswertes Buch über Träume, Wünsche, Ziele und den steinigen Weg dorthin.

Kenneth Bonert, Der Löwensucher
Diogenes, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Der-Loewensucher-9783257069235
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezension: Brooke Davis, Noch so eine Tatsache über die Welt

„Ihr werdet alle sterben. Alles ist gut.“ Das ist die Botschaft der siebenjährigen Millie Bird, die mit den beiden Greisen Agatha und Karl sowie der einbeinigen Schaufensterpuppe Manny durch Australien stolpert. Eine Reisegemeinschaft, die auch Jonas Jonasson zur Ehre gereicht hätte.

Quelle: www.kunstmann.de
Quelle: www.kunstmann.de

Verlassene und Hinterbliebene
Die Australierin Brooke Davis wählt eine ungewöhnliche Geschichte für ihr Debüt: Als ihr Hund Rambo stirbt, beginnt das kleine Mädchen Millie tote Dinge zu „sammeln“. In ihre Liste all dessen, was sie sterben sieht – Spinnen, Vögel, Weihnachtsbäume, Zugfahrten, Kerzen – reiht sich plötzlich auch ihr Vater ein. Zu diesem Zeitpunkt hat Millie durch ihre Sammlung den Tod bereits als eine natürliche Tatsache der Welt erkannt und verkraftet den Verlust verhältnismäßig gut. Nicht so ihre Mutter. Diese lässt Millie eines Tages im Kaufhaus stehen, heißt sie zu warten und verschwindet.

Nach zwei Tagen des Wartens flieht Millie vor der Polizei und potentiellen Pflegeeltern. Kurze Zeit später begibt sie sich auf die Suche nach ihrer Mutter. Unterstützt und begleitet wird sie dabei von ihren neuen Freunden: der Schaufensterpuppe, in dessen stummer Gesellschaft Millie gewartet hat und die schließlich den Namen „Manny“ erhält; der 82jährigen Agatha Pantha, die in Millies Nachbarschaft wohnt, das Haus seit dem Tod ihres Mannes nicht mehr verlassen hat und ihre Tage damit fristet, sich selbst und andere anzuschreien und ihre Wangenelastizität, Faltenanzahl und Armschwabbelstärke zu dokumentieren; sowie dem 87jährigen Karl dem Tasttipper, der alles (auf unsichtbaren Tastaturen) mittippt, was er sagt und stets ein paar Tasten in der Hosentasche bei sich trägt. Auch er leidet unter dem Verlust seiner Frau und erwählt sich das Kaufhaus zu seinem Domizil, bis er dort Millie kennenlernt.

Heiteres Beileid
Brooke Davis erzählt ihre traurig-komische Geschichte angenehm kurzweilig. Die knappen Kapitel gestatten es mir, immer wieder zu pausieren, wenn es mir doch mal zu bunt wird – was nicht selten geschieht. Spannend und interessant finde ich, wie Brooke Davis ihre Protagonisten mit Trauer und Gram umgehen lässt; mitreißend ist es insofern, als ich mich immer wieder echauffiere über das ungeheuerliche Verhalten von Millies Eltern, die sich stets mehr für den Fernseher als für ihre Tochter interessierten und nun gar Millies Mutter, die ihr siebenjähriges (!) Kind sang- und klanglos zurücklässt. Amüsant sind die Eigenheiten der Charaktere, so etwa Millies beharrliche Annahme, dass ihre Rabenmutter sich nur verlaufen hat, weswegen sie kontinuierlich Schilder mit der Auskunft „Hier bin ich, Mum“ anfertigt. Nervig und unsympathisch dagegen ist das permanente Schreien der griesgrämigen Agatha Pantha, für die ich keinerlei Mitgefühl aufbringen und über deren absehbares Happy End ich mich dementsprechend auch nicht freuen kann.

Mein Fazit
Wer ein Faible für ungewöhnliche, kreativ verfasste Geschichten hat, ist mit diesem Buch gut beraten. Mich persönlich hat der Roman stilistisch und während des Lesens durchaus angesprochen, am Ende jedoch inhaltlich enttäuscht, da ich mich für die Figuren nur teilweise erwärmen konnte und mir einen aussagekräftigeren Epilog gewünscht hätte.

Brooke Davis, Noch so eine Tatsache über die Welt
Verlag Antje Kunstmann, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Noch-so-eine-Tatsache-ueber-die-Welt-9783956140532
Autorin der Rezension: Katja Weber

Drei unfreundliche Thesen über Literaturblogs

Fabian Thomas veröffentlicht im Netzmagazin The Daily Frown drei Verallgemeinerungen zum Thema Literaturblogs, die er als Thesen ausgibt und zur Diskussion auffordert:

  1. Literaturblogs fehlt es an Distanz.
  2. Lesen wird durch Blogs in die comfort zone gedrängt.
  3. Literaturblogger leiden unter Gefallsucht.

Na, wenn das keinen Widerspruch provoziert. Die vollständige Argumentation (?) und Diskussion steht hier.

Rezension: Jacinta Nandi, nichts gegen blasen

Das satte Pink vor dem blassrosa Hintergrund macht es unmöglich, kein zweites Mal hinzugucken. Das ist doch wohl nicht…? Ist das etwa…? Nein, ist es nicht. Es ist keine Fotze, die mir hier entgegenspringt, sondern ein geöffnetes Geldtäschchen. Ich muss schmunzeln. Ein originelles und cleveres Cover, wenn man bedenkt, dass „Fotze“ ursprünglich „Tasche“ bedeutet.

Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de
Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de

Humorvoll und gleichmütig
So amüsant wie die Umschlaggestaltung liest sich auch das Buch mit dem vielsagenden Titel „nichts gegen blasen“. Jacinta Nandi hat nichts einzuwenden gegen blasen, ficken, Weintrinken, rauchen im Bett (wenn sie sturmfrei hat), viel und ungesundes Essen und Dokus über Lady Di. Das einzige, was ihr wirklich aufstößt, ist die Frage, warum sie nach Deutschland kam. Dann gibt sie ehrliche Antworten (wegen des Kindergeldes, um Gerhard Schröders Schwanz zu lutschen, um ihr Deutsch zu verbessern), die allesamt wahr sind oder komplett erfunden – wer weiß das schon.

Tatsache ist jedenfalls, dass die Halb-Inderin im Jahr 2000 von London nach Berlin zog, wo sie seither lebt und arbeitet. Sie ist Mitglied verschiedener Lesebühnen, schreibt eine Kolumne für das englischsprachige Magazin Exberliner und einen Blog für die taz. Dort wie auch hier in ihrem ersten Buch erzählt sie Episoden aus ihrem nicht ganz uninteressantem Leben: Von ihrer Mutter, die an MS erkrankte, ihrer Tante Trudie, die früher auf den Namen Bob hörte und als ihr Stiefvater ein richtiges Arschloch war, von ihren Fickterminen mit schönen Penissen und Muschis und ihrer Zeit im Frauenhaus, in das sie flüchtete als ihr Exmann sie kurz nach der Geburt ihres Sohnes erst anschrie und schließlich verprügelte, weil er mit ihrer Stilltechnik unzufrieden war. Selbst so schockierende Geschichten wie diese letzte erzählt die Autorin mit solcher Nonchalance, dass ich mir das Lachen nur schwer verkneifen kann:

„Warum hat er dich denn angeschrien?“
„Wegen dem Winkel.“, sage ich.
„Wegen dem Winkel?“, fragt Jens, total überrascht.
„Wegen des Winkels“, sage ich.
„Ja“, sagt Jens. „Wegen des Winkels. Aber welchen Winkel meinst du?“
„Wegen dem Winkel meiner Brustwarze.“

Keine Feuchtgebiete
Nandis Stil ist Geschmackssache: Sie arbeitet mit systematischen Wiederholungen und einer derben, unverblümten Sprache. Unter anderem wohl letzterer wegen wird sie bisweilen mit Charlotte Roche verglichen. Den ersten Satz des Buches lesend („Ich habe einen ganz schlimmen Pilz […]“) fürchte auch ich kurzfristig hier einer weiteren Helen zu begegnen. Aber Nandi kennt Grenzen. Bei aller Offenheit verschont sie uns doch mit feuchten Details. Der größte Unterschied zwischen ihr und Roche aber ist, dass sie nicht schockieren oder provozieren, sondern zum Lachen bringen will: „I would say anything: I’d admit to having raped a baby bunny for the fun of it, murdered my granny for a bet or wanked off a homeless guy for a fiver, IF there was a laugh in it.“ So bleibt immer ein letzter Zweifel, ob Nandis ehrliche Erzählungen auch wahr sind oder nur lustig sein sollen.

Mein Fazit
Jacinta Nandi hat mich mehrmals zum Lachen gebracht, genauso oft aber auch mit ihrem eigenwilligen Stil und einer gewissen Bedeutungsarmut ermüdet. Insgesamt ist das Buch ein großes Kann, definitiv aber kein Muss.

Jacinta Nandi, nichts gegen blasen
Ullstein, 2015
Homepage der Autorin: www.jacinta-nandi.de
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Nichts-gegen-blasen-9783864930294
Autorin der Rezension: Katja Weber

Rezension: Carl Nixon, Lucky Newman

Mit den Worten „Meine Mutter hat sich unsterblich in einen Mann ohne Gedächtnis verliebt“ erringt ein über 80-jähriger Mann das Interesse von Carl Nixon. Damit die Geschichte seiner Familie nicht verloren geht, möchte der alte, wohlhabende Mann diese erzählt haben: in einem Buch.

Quelle: www.weidleverlag.de
Quelle: www.weidleverlag.de

Was wäre, wenn wir noch einmal komplett neu anfangen müssten?

Mai 1919, in einer kleinen Stadt einer britischen Kronkolonie: die Krankenschwester Elizabeth Whitman erhält ein Angebot, gegen gute Bezahlung einen reichen Mann zu pflegen, der mit einer Kriegsverletzung aus dem Ersten Weltkrieg heimkehrte. Doch die Kopfverletzung, die der wohlhabende Paul Blackwell erlitten hat, hatte weitreichende Folgen: sein gesamtes Gedächtnis ist ausgelöscht, er weiß weder wer noch wo er ist, kennt niemanden seiner alten Freunde und auch seine Frau nicht mehr und auch alle gesellschaftlichen Regeln sind ihm fremd. Seine Erinnerung beginnt erst in dem Moment, als er schwer verletzt mehrere Tage in der Kälte eines Schützengrabens ausharren muss, während rund um ihn der Krieg tobt. Da er sich nicht an seinen Namen erinnern kann, nennen ihn die Sanitäter „Lucky“. Fortan ist das sein Name.

Während seine Frau unbedingt will, dass er sich daran erinnert, Paul Blackwell zu sein, hat Elizabeth Verständnis für Lucky und seinen Versuch eines Neuanfangs, ist doch ihr eigener Ehemann und Vater ihres Sohnes im Krieg verschollen. Als Lucky zwar lernt, sich in der Gesellschaft zu bewegen, jedoch sein Gedächtnis nicht wieder erlangt, lässt seine Frau ihn in eine Irrenanstalt einweisen, wo er unter Drogen gesetzt wird – und Elizabeth, die sich in Lucky verliebt hat, beginnt um seine Freiheit und damit um sein Leben zu kämpfen.

Humor als Waffe gegen den Schrecken

Carl Nixon gelingt es fast vom ersten Satz an, seine Leser mit seinem ironischen Stil in den Bann zu ziehen. Die Schrecken des Ersten Weltkriegs, die Armut und das Elend jener Männer, die als Soldaten in den Krieg zogen und als Krüppel wieder kamen, das Sterben und die Leiden derer, die daheim in der Ungewissheit leben müssen, ob ihr Sohn, Mann oder Vater überhaupt noch lebt – sind die zentralen Themen das Buches. Der Autor lässt Elizabeth ihrem Sohn eine Geschichte erzählen über einen Ballonfahrer, der in fernen Ländern wilde Abenteuer erlebt, von Heldenmut, Tod und Schätzen umgeben. Am Ende der Geschichte stirbt der Ballonfahrer, weil er sich für seine Freunde opfert. So soll der Verlust seines Vaters für den Buben leichter zu ertragen und besser zu begreifen sein. Diese Geschichte in der Geschichte und das gesamte Buch sind dabei ironisch-witzig, regen immer wieder zum Lachen an und machen es damit möglich, das Grauen zu begreifen, ohne daran zu zerbrechen, eine der größten Stärken der Menschheit, konzentriert in einem Buch.

Mein Fazit

Eine ungewöhnliche Lebensgeschichte, in ungewöhnlichem Stil erzählt. Eine Geschichte, die von der ersten Seite an fasziniert, und die man eigentlich nicht mehr aus der Hand legen will, bis man sie ganz gelesen hat. Durch die selbstironischen Einwürfe des Autors als Erzähler entsteht zusätzlich der Eindruck, das Ganze würde am Lagerfeuer erzählt werden, während die Leser mit offenem Mund lauschen – eindeutig ein Buch, das man gelesen haben sollte.

Carl Nixon, Lucky Newman
Weidle Verlag, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Lucky-Newman-9783938803714
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezension: Dagmara Dominczyk, Wir träumten jeden Sommer

Mit Schauspielern, die sich als Autoren ausprobieren, ist es ja oft so wie mit Sängern, die plötzlich große Kinohits produzieren wollen: Viel heiße Luft und jede Menge Selbstbeweihräucherung. Nun hat Dagmara Dominiczyk ihren Debütroman vorgelegt.

Zur Autorin
1976 in Polen geboren, emigrierte die Autorin im Alter von sieben mit ihrer Familie nach New York. Später studierte sie am renommierten Carnegie Mellon University Dramaturgie, spielte unter anderem am Broadway, bis sie schließlich 2001 eine kleinere Rolle in Rock Star erhielt. Es folgten weitere Auftritte in Kinsey und Running with Scissors. Heute lebt Dagmara Dominczyk mit ihrem Mann und zwei Kindern in New Jersey.

Quelle: www.suhrkamp.de
Quelle: www.suhrkamp.de

Die Sommer einer Jugend
Für Anna ist es wie ein Traum, als sie nach vielen Jahren endlich wieder ihren Heimatort wiedersehen kann. Nachdem ihre Familie aus politischen Gründen in die USA geflüchtet war, sieht sie 1989 endlich ihre Großeltern wieder und findet mit ihrem Exotenstatus als Mädchen aus Amerika sofort auch viele Freunde unter den Kindern in ihrem Ort. Sie kehrt im nächsten Jahr zurück und verbringt von nun an die Sommer gemeinsam mit ihren zwei besten Freundinnen, der schüchternen Kamila und der schönen Justyna, am See und in den Hügeln der Umgebung. Typische Mädchenthemen und Eifersucht adoleszente Eifersüchteleien kreisen stetig zwischen ihnen, bis der Sommer kommt, in dem Anna ihre Unschuld verliert. Sie wird von einem der Jungen aus der Gruppe vergewaltigt, traut sich aber nicht darüber zu reden. Daraufhin wendet Anna ihrer Heimat den Rücken zu.

Viele Jahre später steht das Leben der drei Freundinnen, die sich schon lange aus den Augen verloren haben, am Scheideweg: Anna ist eine berühmte Schauspielerin geworden. Sie versteckt sich vor ihrem Manager und vor allem dem Ende ihrer Beziehung. Nach dem schockierenden Geständnis ihres Ehemannes flüchtet Kamila zu ihren Eltern in die USA und Justyna sitzt mitten in der Nacht mit ihrem kleinen Sohn in dem Haus, in dem soeben ihr Mann von ihrem Schwager ermordet wurde. Können diese Schicksalsschläge die Freundinnen nach so langer Zeit wieder zusammenführen…

Frauenroman oder Entwicklungsroman?
Dagmara Dominczyk schreibt sicher und nüchtern sowohl über die Jugendepisoden der drei Protagonistinnen als auch über die Ereignisse in folgenden Jahren. Durch den stetigen Sprung zwischen den vergangenen Sommern in Polen und den aktuellen Geschehnissen schaffst sie es, die Handlung interessant und spannend zu halten. Sofort fallen die Verbindungen zur eigenen Biographie der Autorin ins Auge, womit besonders die Figur Anna sehr plastisch und lebensecht wirkt. Ihre beiden Freundinnen hingegen erstarren in ihren Stereotypen: Justyna als gefallene Schönheit, Kamilla als die pummelige und ewig graue Maus. Genau wie diese beiden Gegensätze steckt der Roman zwischen leichter Sommerlektüre und Coming of Age-Drama fest. Für ersteres ist der Roman zu ernst und für letzteres streift er die wichtigen Themen zu oberflächlich.

Mein Fazit
Ein sehr gelungenes Debüt, das meine Erwartungen übertroffen, aber leider zu viele interessante Aspekte der Geschichte übergangen hat. Der Roman hat bei mir kein wirkliches Echo hinterlassen, nachdem er wieder im Regal stand.

Dagmara Dominczyk, Wir träumten jeden Sommer
Insel Verlag, 2014
Dagmara Dominczyk in der Darian Library 2013 (englisches Original): https://www.youtube.com/watch?v=RxxKqrJ66ZU
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Wir-traeumten-jeden-Sommer-9783458175940
Autorin der Rezension: Jasmin Beer

André Herzberg bei Lehmanns. Oder: Was passiert, wenn Autoren auch noch singen können

Endlich wieder Dienstag, endlich wieder Leseabend bei Lehmanns. Auf diesen Abend hatte ich mich schon sehr gefreut, denn bereits einige Wochen zuvor hörte ich in vielen Gesprächen, dass André Herzberg auf der Bühne ein wahres Erlebnis sei – als Musiker wie Autor.

Bereits eine halbe Stunde vor Beginn der Veranstaltung, während Kunden noch plaudernd durch die Bücherreihen schlendern, keimt in mir das Gefühl: Dieser Abend wird anders. Der Tisch auf der kleinen Bühne ist beiseitegeschoben worden und André Herzberg ist mit der Technik beschäftigt. Seine Gitarre will gestimmt und korrekt an den Verstärker angeschlossen sein. Routine für den Musiker, den die meisten Gäste an diesem Abend vor allem als Sänger der Berliner Rockband Pankow kennen. Nur ich nicht. Ich musste das in Vorbereitung auf die Lesung recherchieren, weil ich einfach zu jung bin und meine Mutter eben mehr Interesse für Marianne Rosenberg an den Tag gelegt hatte.

Lesung André Herzberg bei Lehmanns 09. Juni 2015. Foto Detlef M. Plaisier (55)André Herzberg steht selbstverständlich nicht das erste Mal in Leipzig auf einer Bühne. Erst vor wenigen Wochen hatte er sein Buch „Alle Nähe fern“ im Rahmen der Buchmesse präsentiert und auch an diesem Dienstag wird er nach Ladenschluss von den drei Generationen einer Familie lesen, die ihren Platz und ihre Zugehörigkeit suchen und sich dabei immer mehr voneinander entfernen. „Je näher das Buch in die Gegenwart kommt, umso autobiographischer wird es“, lächelt Herzberg gleich zu Beginn der Lesung die meist gestellte Frage souverän weg.

Vom Kaiserreich bis heute zieht sich der Roman, folgt der männlichen Linie vom Ablegen des jüdischen Glaubens durch den Vater zu Gunsten des Kommunismus bis zur Wiederentdeckung durch den Sohn. Die Parallelen zwischen Buch und Herzbergs eigener Familiengeschichte sind offensichtlich. Auch der Lesung verleiht er diese Persönlichkeit, denn zu Beginn singt er mit seiner klaren und doch etwas rauchigen Stimme ein Lied über das Märchen der Freiheit, spricht frei mit dem Publikum. Er gibt jedem im Raum das Gefühl, man sitze mit ihm bei einem Bier in einer urigen Kneipe. In seinem sympathischen Berliner Dialekt erzählt Herzberg, wie Heinrich Zimmermann aus dem ersten Weltkrieg nach Hause kommt oder wie dessen Enkel Jakob aus einem wirren Traum seiner Beschneidung erwacht, die sein kommunistischer Vater jedoch nie zuließ. Zwischendurch greift er wieder zur Gitarre, steht beim Applaus auf, gibt gern den Rufen nach Zugabe nach.

www.ullsteinbuchverlage.de
www.ullsteinbuchverlage.de

Er plane das auch ein, erzählt Herzberg, je nachdem wie das Publikum in Stimmung sei und auch, um die Aufmerksamkeit der Zuhörer rund um die ernsten Themen wie Nationalsozialismus, Nachkriegszeit und Existenzangst aufrecht zu halten. Herzberg sucht für jeden neuen Auftritt die passenden Passagen im Roman und Lieder aus. Jeder Auftritt ist anders. Man kann ihm förmlich dabei zusehen, wie er zwischen der Rolle des Autors und der des Musikers hin- und herspringt, in seiner Körperhaltung, seiner Stimme. Er liest, wie es nur wenige Autoren können, und gerade das hat dem Abend eine ganz besondere Note verliehen.

Ich habe André Herzberg sowohl als Autor als auch als Musiker kennen lernen dürfen. Aber zwei Dinge sind in jeder seiner Rollen gleich geblieben: Sein Hut und seine roten Turnschuhe – er möchte ja auch wiedererkannt werden. Mein Buch signiert André Herzberg schlicht mit dem Vornamen. Ein Überbleibsel aus der Musikerzeit, sagt er. Es ginge einfach schneller.

Autorin Jasmin Beer hat inzwischen einen festen Platz bei den Leseabenden von Lehmanns. Eine Rezension zum Buch gibt es hier. Rezensentin Carina Tietz schreibt: „André Herzberg baut mit nur wenigen, aber intensiven Worten eine Dramatik auf, die mich fesselt.“

Alle Fotos: Detlef M. Plaisier

4782

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Diese Überschrift gab es doch schon auf diesem Blog? Richtig. Aber man kann es nicht oft genug sagen: Wer Bücher liebt, kauft in einer der 4782 Buchhandlungen vor Ort in Deutschland. Und da gibt es keine Ausrede: Wer nicht weiß, wo er bequem um die Ecke stöbern und bestellen kann, der klickt ganz einfach hier und bekommt den Buchhändler in seiner Nähe angezeigt – mit Adresse, Website und Routenplaner. Auf gehts!

Rezension: Gabrielle Zevin, Die Widerspenstigkeit des Glücks

„Wie kann man, umgeben von so vielen Büchern, nur so unglücklich sein?“ Diese Frage aus einem Buch des isländischen Autors Jón Kalmar Stéfansson kommt mir als Leserin am Anfang dieses Buches von Gabrielle Zevin unwillkürlich in den Sinn. Denn dass der Buchhändler A.J. Fikry in seinem kleinen Buchladen auf einer malerischen Insel unglücklich ist, steht außer Zweifel. Doch eine hübsche Buchverlegerin, ein lesehungriger Polizist und vor allem ein kleines, zweijähriges Waisenmädchen sorgen bald dafür, dass A.J. zum Bittersein keine Zeit und keinen Grund mehr hat.

Quelle: www.randomhouse.de
Quelle: www.randomhouse.de

Romantische Geschichte mit ein bisschen Kitsch
Zugegeben, das Ganze klingt zunächst ein bisschen kitschig und ist es an manchen Stellen auch, aber gegen gut dosierten Kitsch habe ich als Leserin nichts einzuwenden. Je weiter das Buch fortschreitet, desto spannender entwickeln sich die Figuren und so manche Geheimnisse kommen ans Licht. So ist das Waisenmädchen Maya in Wahrheit keine Waise, sondern eng mit einer der Hauptpersonen verbandelt. Diese Handlungsbögen machen immer wieder Lust aufs Weiterlesen. Lediglich am Ende ihres Romans trägt Gabrielle Zevin ein wenig zu dick auf. Hier wäre weniger mehr gewesen. Mich versöhnt, dass die Autorin am Ende des Romans noch einmal alle Handlungsbögen so geschickt zusammen führt, dass keine Fragen mehr offen bleiben. Das mag ich als Leserin besonders, denn da halte ich es mit Officer Lambiase, einer weiteren Hauptperson des Buches, die es ebenfalls nicht ausstehen kann, wenn zum Schluss etwas offen bleibt.

Literatur- und Lebensempfehlungen
Eine besonders gute Idee von Gabrielle Zevin sind die „Zwischenkapitel“, die den eigentlichen Buchkapiteln vorgeschaltet sind. Viele Autoren stellen ja Zitate berühmter Schriftsteller an den Anfang eines Buchkapitels. Zevin geht einen Schritt weiter. Sie lässt A.J. Fikry in diesen Zwischenkapiteln Leseempfehlungen für seine Tochter geben, gepaart mit klugen Ratschlägen für ihren späteren Lebensweg. Was für mich als Leserin zunächst etwas ungewohnt ist, entwickelt sich immer mehr zu einem spannenden Stilmittel. Ich habe mir jedenfalls fest vorgenommen, der einen oder anderen Leseempfehlung des Buchhändlers zu folgen.

Mein Fazit: Urlaubslektüre!
Wer ein bisschen Romantik mag und noch ein Buch für den Urlaub sucht, für den ist „Die Widerspenstigkeit des Glücks“ genau passend. Eine wunderbare Geschichte über die Liebe zu Büchern und Menschen und darüber, dass in jedem von uns ein Leser oder eine Leserin steckt und auf jeden auch das richtige Buch wartet.

Gabrielle Zevin, Die Widerspenstigkeit des Glücks
Diana Verlag, München 2015
http://gabriellezevin.com/
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Die-Widerspenstigkeit-des-Gluecks-9783453358621
Autorin der Rezension: Yvonne Giebels

Rezension: Nina Sedano, Happy End – Die stillen Örtchen dieser Welt

In ihrem neuen Buch ist die „Ländersammlerin“ Nina Sedano nicht nur Globetrotterin, sondern vor allem „Klobetrotterin“. Ein Muss für jeden, der mal muss.

Quelle: www.edel.com
Quelle: www.edel.com

Nach dem ersten harten Brocken wird es fluffig
Nina Sedano startet ihr „Happy End“ etwas unglücklich: In dem 30seitigen Kapitel über die Kulturgeschichte der Toilette bringt sie so viele Daten und Zahlen unter, dass – effektiv wie bei einer Klospülung – jede Information sofort durchgespült und weggeschwemmt wird. Hier hätte ich mir einen knackigeren, aufs Wesentliche beschränkten Abriss gewünscht, ergänzt durch numerische Details im Anhang. Zum Glück aber raubt mir schon das nächste Kapitel die Furcht, dass es in diesem Stile weitergehen könnte. Die Autorin durchmischt sehr geschickt und abwechslungsreich eigene kurze Erlebnisberichte sowie zahlreiche griffige Anekdoten rund um die Toilette. Ihre persönlichen Erzählungen umfassen dabei zwischen drei und sechs Seiten, die Anekdoten und Fakten gar nur wenige Zeilen. Vom ersten Kapitel abgesehen ist der Rest des Buches also im wahrsten Sinne des Wortes die perfekte Klolektüre – wobei ich selbst Bücher lieber auf dem Sofa lese und davon auch hier nicht abgerückt bin.

Unnützes und Witziges über äußerst Nützliches
Von überraschenden Geburten auf dem Örtchen, verlustig gegangenen Wertgegenständen, blinden WC-Passagieren, festgesogenen Hinterteilen auf Flugzeugtoiletten, Klosprüchen und -witzen bis hin zu makabren Todesfällen auf dem Abort ist alles dabei, was man sich an Klo-Wissen wünschen kann. Ein wenig erinnern mich die skurrilen Kurzzeiler, die Nina Sedano sorgfältig nach Ländern und Städten ordnet, an die Kategorie „Unnützes Wissen“ der NEON. Obwohl ich nur selten schallend lache, muss ich doch häufig schmunzeln und den einen oder anderen Satz auch ungläubig kopfschüttelnd mehrmals lesen. Als besonders angenehm empfinde ich den Schreibstil der „Klobetrotterin“, der durch und durch wort(witz)gewandt daher kommt – bisweilen aber auch etwas zu „klolossal“ üppig. Leider hat die Autorin bei aller Wortgewalt auf jegliche anderweitige Bebilderung verzichtet. Ohne die Unterstützung durch Photo oder Skizze hinterlassen die Beschreibungen der vielen bemerkenswerten Örtchen daher nur einen diffusen Eindruck.

Ansonsten aber lässt diese sympathische Klogeschichte nichts vermissen, nicht einmal die Moral: Nina Sedano will nicht nur erheitern, während wir uns erleichtern, sondern das Thema der Notdurft und deren Örtchen enttabuisieren. Wasser, Leben, Ausscheidungen – all das spielt ineinander. Um sich die Zusammenhänge vor Augen zu führen, empfiehlt Sedano allen den Besuch einer Kläranlage und lässt die Toilette selbst einen Appell an ihre Benutzer richten. Statt sie zu verpönen oder mit Müll zu stopfen, sollten wir ihr dankbar sein, denn die Einführung von Klosetts mit Wasserspülung hat unser Leben um 40 Jahre verlängert. Daher: Hoch auf die Toilette!

Mein Fazit
Nina Sedanos gelungene Mischung aus Witzigem und Wissenswerten befriedigt den Lesehunger im Großen wie im Kleinen, zwischendurch als auch am Stück. „Happy End“ ist „Klolektüre“ vom Feinsten und dennoch zu schade für einen Standort auf dem Abort.

Nina Sedano, Happy End – Die stillen Örtchen dieser Welt
Eden Books, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Happy-End-9783944296944
Autorin der Rezension: Katja Weber