Rezension: Christina Baker Kline, Der Zug der Waisen

Christina Baker Kline wuchs in England und in den USA auf. Sie unterrichtete Literatur und Kreatives Schreiben und wurde als Buchautorin und Herausgeberin von Anthologien bekannt. Ihr Roman „Der Zug der Waisen“ war in den USA ein großer Erfolg und führte viele Monate die Charts der New York Times an.

Quelle: www.randomhouse.de
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Eine ganz besondere Freundschaft
Im Mittelpunkt des Romans stehen zwei Frauen, die auf den ersten Blick nicht gegensätzlicher sein könnten: Die 17jährige Halbwaise Molly hat schon ein turbulentes Leben in verschiedenen Pflegefamilien hinter sich und ist so auf die Gothik-Schiene geraten. Auch in ihrer neuen Pflegefamilie läuft es nicht gut. Eines Tages gerät sie in Schwierigkeiten und wird zu Sozialstunden verurteilt, die sie dank ihres Freundes bei der 91jährigen Vivian ableisten kann. Sie soll der alten Dame helfen, ihren Dachboden zu entrümpeln. Sind beide zunächst nicht sehr angetan von der Aufgabe, wird eines doch schnell klar: Entrümpelt werden soll gar nichts. Vielmehr scheint es so, als ob Vivian all ihr Habe noch einmal – ein letztes Mal? – genau sehen möchte. Beim Betrachten der „Schätze“ erinnert sich Vivian an die nicht immer leichten Stationen ihres Lebens: Langsam und vorsichtig wird aus dem Erinnern ein Erzählen und ein Austausch. Begegnen sich Molly und Vivian zunächst voller Vorsicht, entwickelt sich doch langsam aber sicher eine wundervolle Freundschaft zwischen ihnen, bei der sie sich einander öffnen und zu vertrauen lernen. Denn eines ist klar: So verschieden, wie es auf den ersten Blick scheint, sind die beiden Frauen dann doch nicht. Sie sind einander eher viel ähnlicher, als man je zu vermuten gewagt hätte.

Ein vergessenes Kapitel amerikanischer Geschichte wird neu geschrieben
Denn beide Frauen teilen eine Gemeinsamkeit: Eine sehr harte Vergangenheit, die sie nachhaltig prägen sollte. Molly verlor den Vater und die Mutter war nicht mehr in der Lage, sie zu versorgen. Auch Vivian wurde nach einem verheerenden Brand zur Waise. Gemeinsam mit vielen anderen Kindern wurde sie 1929 in einen so genannten „Orphan Train“ verfrachtet und in den Mittleren Westen geschickt, wo sie auf einer Farm ein neues Zuhause finden sollte. Ein liebevolles Heim erwartete dabei aber nur die wenigsten Kinder, und auch Vivian hatte schwere Bewährungsproben zu erdulden, bevor ihr Leben in geordneten Bahnen verlief.

Mein Fazit
Christina Baker Kline greift mit dieser Thematik ein bisher kaum bekanntes Kapitel der US-amerikanischen Geschichte auf und vermischt es mit der Geschichte einer ganz besonderen Freundschaft. Präzise recherchiert bringt sie die Fakten über die „Orphan Trains“, die zwischen 1854 und 1929 über 200.000 Waisen in den Mittleren Westen brachten, in ihr Buch ein und überzeugt dabei mit einer eingängigen Sprache und einem gefühlvollen Stil. Präzise Beschreibungen, die neben der Recherche auch auf Zeitzeugenberichten basieren, geben der ernsten Thematik die nötige Tiefe. Die tiefgründige Erzählung lebt von viel Gefühl, einer großzügigen Prise Humor und großem schriftstellerischem Talent.

Christina Baker Kline, Der Zug der Waisen
Goldmann, 2014
Trailer zum Buch: https://www.youtube.com/watch?v=NC2zHfUiOvQ
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Der-Zug-der-Waisen-9783442313839
Autorin der Rezension: Julia Groß

Rezension: Erik Lindner, Auf der Suche nach dem Nudossi-Äquator

Erik Lindner, geboren 1964, ist promovierter Historiker und beschäftigt sich besonders mit deutsch-jüdischer Geschichte. Er ist als Geschäftsführer der Axel-Springer-Stiftung tätig.

Quelle: www.murmann-verlag.de
Quelle: www.murmann-verlag.de

Als ehemalige DDR-Bürgerin waren mir vor Lektüre dieses Buches nicht nur einige Marken gut im Gedächtnis geblieben, sondern ich verwende sie auch bewusst weiter, sofern sie hier, im Südwesten Deutschlands, in den Regalen der Supermärkte zu finden sind. So spüle ich mein Geschirr aus Prinzip mit fit, creme meine Haut mit Florena, bestreiche alles, was sich dazu eignet, mit Bautz‘ner Senf, trinke, wenn ich etwas zu feiern habe, nur Rotkäppchen Sekt und esse grundsätzlich keine anderen Gurken als die aus dem Spreewald.

Die Überlebenden der Wende
Das Buch, in dem die Geschichte von ca. 100 Marken und Produkten aus den Bereichen Lebensmittel, Körperpflege, Technisches und Schönes nachgezeichnet wird, hat mir nun gezeigt, dass noch viele andere Marken der ehemaligen DDR überlebt haben, wenn auch nicht immer unter dem Dach der ehemaligen Gründer der Marke und leider nicht immer am alten Standort. In dieser Menge war das für mich eine echte Überraschung.

Die Nachwendezeiten sind mir noch gut in Erinnerung, als vor jedem Kaff auf der grünen Wiese ein Zelt aufgestellt wurde, in dem von der holländischen Gurke bis zum Waschmittel alles verkauft wurde – Hauptsache, es kam aus dem Westen. Und die endlich konsummündigen Bürger kauften, was das Portmonee hergab. Irgendwann jedoch, als leider viele der DDR-Betriebe ihre Produktion mangels Nachfrage eingestellt hatten, stellten sie fest, dass der selbst gezogene Salat aus dem Garten wesentlich besser schmeckte als das Grünzeug aus Holland und dass Spee genauso sauber wusch wie Persil, vom Preis ganz abgesehen.

Im Buch wird für viele Produkte dieser Weg von der einstigen DDR-Marke, die mangels Alternativen eine Monopolstellung hatte, über das zeitweise Verschwinden bis hin zur glanzvollen Wiederauferstehung nachgezeichnet. Auch ehemalige Betriebsangehörige oder mutige West-Investoren werden mit ihrer Leistung bei der Erhaltung eines Teils der DDR-Warenkultur gewürdigt. Ebenso bleibt nicht unerwähnt, dass es viele Glücksritter und Heuschrecken gab, die für einen schnellen Profit durchaus lebensfähige Betriebe herunterwirtschafteten und abwickelten. Auch das Handeln der Treuhand war dabei nicht immer von Weitsicht und Fairness geprägt.

Umso erfreulicher ist es, dass mittlerweile viele ehemalige DDR-Bürger wieder zu „ihren“ Marken als einem Teil ihrer Identität zurückgefunden haben. Viele Verbraucher in den alten Bundesländern kennen jetzt Produkte aus der ehemaligen DDR und haben sie schätzen gelernt. Das Potential ist sicher noch lange nicht ausgeschöpft. Und auch ich werde mich, sobald ich meinen Wohnsitz nach Leipzig verlegt habe, verstärkt auf die Suche nach „Ostprodukten“ begeben, um die Firmen, die immer noch ihren Sitz und ihre Produktionsstätten dort haben, zu unterstützen.

Mein Fazit
Ein informatives und interessantes Buch für all jene, die einmal hinter die Kulissen von Markenrecht und Produktentwicklung unter den besonderen Bedingungen der geschichtlich einmaligen „Eingliederung“ schauen wollen. Und ein Muss für jeden, der mit Halloren Kugeln, f6 oder Schwalbe schöne Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend in der DDR verbindet.

Erik Lindner, Auf der Suche nach dem Nudossi-Äquator
Murmann Publishers GmbH, Hamburg 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Auf-der-Suche-nach-dem-Nudossi-quator-9783867744225
Autorin der Rezension: Cornelia Lotter
www.autorin-cornelia-lotter.de

Rezension: Roger Cockrell (Hrsg.), Michail Bulgakow – Ich bin zum Schweigen verdammt

Quelle: www.randomhouse.de
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Autor und Werk
Michail Afanassjewitsch Bulgakow wurde am 15. Mai 1891 in Kiew geboren und zählt zu den bedeutendsten Satirikern der russischen Literatur. Nach dem Abitur absolvierte er zunächst erfolgreich ein Medizinstudium, bevor er im Oktober 1921 nach Moskau ging und dort zu schreiben begann. An dieser Stelle setzt das Werk „Ich bin zum Schweigen verdammt“ an. Es umfasst die Briefe und einige Tagebucheintragungen Bulgakows aus den Jahren 1921 bis 1940 und wurde im März 2015 zu seinem 75. Todestag veröffentlicht.

Schreiben unter schwersten Bedingungen – Opfer der Zensur
Ließen sich die ersten Moskauer Jahre noch gut an (Bulgakow schrieb und publizierte in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften und veröffentlichte auch einige Prosastücke), wendete sich das Blatt im Jahr 1929 gravierend. Bei einer Hausdurchsuchung wurden Bulgakows persönliche Tagebücher sowie seine satirische Erzählung „Hundeherz“ beschlagnahmt und erste Verbote seiner Bücher und Theaterstücke auf den Weg gebracht.

Ab 1930 wurden die Werke Bulgakows endgültig nicht mehr veröffentlicht und seine Stücke verschwanden von den Spielplänen des Theaters. Eine unwürdige Existenz und ein Kampf ums Überleben begannen für den Mann, dessen Leben allein die Schriftstellerei war. In seinen Briefen beklagt er dies bei Freunden und Bekannten, sucht nach Rat und bittet um Hilfe – auch bei staatlichen Instanzen. Solle es keine Arbeit für ihn geben, dann wolle er wenigstens kurz das Land verlassen, um neue Kraft zu tanken oder Aufträge zu finden.

Gefangen im eigenen Land
Doch auch die Ausreise, und sei sie auch nur zu Urlaubszwecken, wurde Bulgakow verwehrt. Er war somit gezwungen, in Moskau zu bleiben, bei unveränderter Arbeitssituation und immer schlechterer Gesundheit. Bulgakow arbeitete als Dramaturg und schrieb, immer mit dem Wissen, nie veröffentlicht zu werden oder erneut dem Verriss und der Zensur zum Opfer zu fallen. Der Kampf gegen die Windmühlen setzte sich unerbittlich fort und sollte bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1940 nicht enden.

Politik und Schriftstellerei
Neben seinen Problemen als Schriftsteller wird in seinen Briefen und Tagebüchern auch das große Interesse am Zeitgeschehen deutlich. So beschäftigt er sich gerade in den ersten Jahren stark mit den politischen Geschehnissen in der UdSSR und der internationalen Situation außerhalb des eigenen Landes, die er mit scharfem Blick verfolgt.

Mein Fazit
Für mich sind Briefromane und Tagebuchaufzeichnungen immer ein besonderer Lesegenuss, schildern sie die Geschehnisse doch immer aus einer authentischen und persönlichen Sicht. „Ich bin zum Schweigen verdammt“ ist eine klare Buchempfehlung für jeden Leser, der biografische Lektüre zu schätzen weiß und dabei noch ein großes Interesse für den Menschen Bulgakow, Russland, das Theater und die geschichtlichen und politischen Ereignisse der Zeit hat. Ergänzt werden die Briefe und Aufzeichnungen durch einen ausführlichen biographischen und bibliographischen Anhang, sodass das Buch in seiner Gesamtheit zu einem unverzichtbaren Zeugnis des Lebens Bulgakows wird.

Roger Cockrell (Hrsg.), Michail Bulgakow – Ich bin zum Schweigen verdammt
Luchterhand, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Ich-bin-zum-Schweigen-verdammt-9783630874661
Autorin der Rezension: Julia Groß
https://zimttraeumereien.wordpress.com/

Rezension: Helle Helle, Färseninsel

Quelle: www.doerlemann.com
Quelle: www.doerlemann.com

Die Handlung
Die Ich-Erzählerin strandet in einem kleinen Kaff an der dänischen Küste. An einer Bushaltestelle trifft sie auf John und Putte, ein Ehepaar, das in der Nähe der Bushaltestelle wohnt, und wird von ihnen kurzerhand aufgenommen. Die beiden machen keinen großen Aufwand um ihren Gast und schon bald gehört Bente, wie sie von Putte spontan getauft wird, einfach dazu, als sei das schon immer so gewesen.

Poesie von Handlung und Worten
Was in der Zusammenfassung vielleicht etwas langweilig klingt, ist alles andere als monoton. Die Handlung des Buches zieht mich als Leserin sofort in ihren Bann, ohne dass ich so recht beschreiben könnte, warum das so ist. Denn nüchtern betrachtet ist die Geschichte gar nicht besonders aufregend oder spannend. Aber das ist vielleicht genau das Geheimnis. Denn die Autorin Helle Helle schildert ihre einfache Geschichte in einfachen Worten und Sätzen, die dennoch wie Poesie sind. Ich muss mich nicht durch Wortungetüme kämpfen oder durch undurchsichtige Handlungsstränge, um zum wahren Kern des Buches vorzudringen. Es ist einfach alles schon da und wird so leichtfüßig erzählt, dass ich schon zusammen mit Putte, John und Bente in ihrem Haus lebe.

Kurze Irritation durch Rückblicke
Was mich als Leserin in den ersten Kapiteln zunächst etwas irritiert, sind die Rückblicke. In diesen erzählt Bente, wie und warum sie an die dänische Küste gekommen kam, warum sie ihren Mann verließ und welche psychischen Probleme sie in der Vergangenheit plagten. Beim ersten Mal ist für mich nicht sofort erkennbar, dass es sich um ein „Rückblickkapitel“ handelt und so bin ich kurz verwirrt, weil die Handlung nicht nahtlos an das vorher Geschilderte anschließt. Sobald aber klar wird, dass es sich um einen Rückblick handelt, bin ich wieder im Lesefluss. Auch in den Rückblenden bleibt Helle Helle ihrem Stil treu. Sie erzählt auch hier leichtfüßig mit viel Poesie und ohne große Dramatik. Manches ahne ich mehr als dass es ausgesprochen wird.

Mein Fazit: Sehr lesenswert
„Färseninsel“ von Helle Helle kann ich uneingeschränkt zur Lektüre empfehlen. Es ist ein Buch in einer wunderbaren Sprache, mit echten Menschen, mancher Tragik und einigen skurrilen Aktionen, die ich selbst aus meinem Alltag kenne. Schon nach ein paar Seiten ist dieses Buch wie ein guter Freund, an dessen Seite ich mich wohlfühle.

Helle Helle, Färseninsel
Dörlemann Verlag AG, Zürich 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Faerseninsel-9783038200147
Website der Autorin: http://www.hellehelle.net/english/
Autorin der Rezension: Yvonne Giebels

Rezension: John Burnside, Haus der Stummen

John Burnsides prosaisches Erstlingswerk ist von morbider Spannung. Die Sprache ist intelligent, der Stil durchdacht, die Gedanken philosophisch. Dennoch bin ich froh, als ich das Buch endlich zuklappen kann.

Quelle: www.randomhouse.de
Quelle: www.randomhouse.de

Ohnegleichen
„Niemand kann behaupten, es hätte mir freigestanden, die Zwillinge zu töten, so wenig wie es mir freistand, sie auf die Welt zu bringen.“ Ich wüsste nicht, welchem Genre ich den Roman des schottischen Lyrikers zuordnen sollte, der mit diesem Satz beginnt. Er ist schauerlich, doch kein Horror – obwohl man ihn sicherlich horrorhaft à la Shining verfilmen könnte. Er ist packend und doch kein Thriller. Der Ich-Erzähler wird zum mehrfachen Mörder, doch steht dies weder im Mittelpunkt der Geschichte, noch muss er je fürchten, dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Suche nach der Seele
Der Roman fingiert die Memoiren eines Psychopathen: Luke ist von Kindesbeinen an vom Forscherdrang gepackt und seziert Tiere bei lebendigen Leib, um zu sehen, wo ihre Seele sitzt. Als er nicht fündig wird, überlegt er, dass die Seele vornehmlich in der Sprache zu finden sein müsste und also beim Menschen. Seine Mutter, zu der er eine krankhaft enge Bindung hegt, hat ihm vom Mogulherrscher Akbar erzählt, der einst eine Gruppe Neugeborener von stummen Ammen aufziehen ließ, um zu sehen, ob Sprache angeboren oder erlernt sei. Dieses Experiment will Luke nun nach strengen wissenschaftlichen Richtlinien wiederholen. Die stumme Amme spielt er selbst, seine Probandenanzahl beschränkt sich auf zwei: Zwillinge, die ihm von der obdachlosen Lillian geboren werden. Er sperrt das Geschwisterpaar in seinen Keller – fernab jeglicher menschlicher Stimme…

Methodische Redundanz
Der Charakter Lukes ist ausgetüftelt: Statt eines seelenlosen Monsters, zeichnet Burnside hier das Bild eines Mannes, der menschliche Emotionen durchaus kennt und versteht, diese aber mit Bedauern ausblendet, sobald sie drohen, seine Forschung zu gefährden. Alles was er tut, hat Methode, folgt Ritualen – dieser Charakterzug spiegelt sich auch im Stil der Erzählung, die an vielen Stellen redundant ist: Immer wieder geht es mit der Mutter allmählich zu Ende, immer wieder ist es, als wäre sie noch immer da, immer wieder scheint das Experiment gescheitert – um dann doch wieder fortgesetzt zu werden. Obgleich anscheinend gewollt, empfand ich diese psalmartigen Wiederholungen als störend; vielleicht aber auch nur, weil sie den Fortgang der Erzählung aufhielten und mich damit umso mehr auf die Folter spannten.

Mein Fazit
Philosophische Tiefgründigkeit gepaart mit eiskalter wissenschaftlicher Methode erzeugt eine subtile Spannung, die mich zwei Tage lang in Atem hält. Mehr als einmal muss ich den Bleistift zücken, um mir die interessanten Gedanken zur Bedeutung der Sprache anzustreichen. Dennoch kann ich mich nicht dazu durchringen, das Buch zu empfehlen. Bei aller Brillanz war die Geschichte so grausam, dass ich mich allein durch die Lektüre eines Verbrechens an meinem eigenen Kind schuldig fühlte.

John Burnside, Haus der Stummen
Albrecht Knaus Verlag, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Haus-der-Stummen-9783813506129
Autorin der Rezension: Katja Weber

Rezension: Jan Guillou, Die Brückenbauer

Knapp 800 Seiten entführen den Leser nach Norwegen, Deutschland und Afrika zu Anfang des 20. Jahrhunderts.

Drei Brüder, Fischersöhne einer westnorwegischen Insel, erleiden das gleiche Schicksal wie so viele von ihnen: Ihr Vater kommt beim Fischfang ums Leben. Da sie überdurchschnittlich intelligent und handwerklich begabt sind, nimmt sich eine Stiftung ihrer an. Sie kommen über Umwege an das renommierte Polytechnikum in Dresden, um zu den besten Ingenieuren des Landes ausgebildet zu werden. Die Brüder verpflichten sich, die Ausbildungssumme durch ihre Arbeit und Expertise zurückzuzahlen und nach Beendigung des Studiums nach Norwegen zurückzukehren. Dort sollen sie die „unmögliche Brücke“ über die Herdangervidda, die höchste und unwirtlichste Hochebene Europas, bauen.

Quelle: www.randomhouse.de
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Anders als geplant
Natürlich sind auch Ingenieurstudenten nicht gegen Liebe gefeit. Einer der Brüder flieht nach einem Liebesdebakel nach Deutsch-Ostafrika, der andere folgt seiner verbotenen Liebe nach England. So bleibt die Last der Rückzahlung auf dem ältesten Sohn hängen, der sich in die Pflicht fügt. Auch er kämpft um seine Liebe und will durch seine Arbeit dem voreingenommenen reichen Vater seiner deutschen Freundin beweisen, dass er für sie sorgen kann. Von hier an teilt sich der Roman in zwei Handlungsstränge – dem Bruder in England ist der zweite Teil der Trilogie gewidmet – und nimmt den Leser mit in die eisigen Höhen Norwegens und die heiße Wildnis Deutsch-Ostafrikas.

Reizvoller Wechsel
Diese Gegensätze in Natur und Menschen, die Parallele des Eisenbahnbaus – denn der mittlere Bruder ist am Bau der Tanganjikabahn beteiligt – und der Hintergrund des vibrierenden neuen Jahrhunderts mit all seinen technischen Möglichkeiten zieht den Leser in den Lesefluss hinein. Der Einfluss, den der technische Wandel auf die Gesellschaft und die Stellung der Frauen hat, die scheinbar unbekümmerte Zeit, in der alles möglich ist, wenn man es nur will, werden von Guillou in beeindruckenden Bildern beschrieben. Kleiner Clou: Sein Großvater und dessen Brüder haben 1901 das Technikum in Dresden abgeschlossen. Guillou hat die Rede des damaligen Dekans fast 1:1 in seinem Roman übernommen. Diese Verknüpfung von familiärem Hintergrund und Fantasie in historischem Rahmen hat einen großen Reiz. Doch was der Leser im Gegensatz zu den jungen und ungestümen Protagonisten weiß: Europa befindet sich am Rande des ersten Weltkrieges und Freunde werden bald zu Feinden…

Längen und Klischees
Ab diesem Zeitpunkt schwächelt das Buch dann auch. Generell beschreibt Guillou vieles sehr detailliert, aber gerade im letzten Drittel wird es extrem. Anfangs ist es noch interessant zu sehen, wie sich der beginnende Krieg auf die beiden Brüder auswirkt. Doch gerade der in Afrika spielende Teil greift arg tief in die Klischeekiste der Kolonialzeit. Das vorläufige Ende, als sich beide Brüder nach langer Zeit wieder begegnen, ist merkwürdig ungerührt und steif.

Mein Fazit
Die Brückenbauer ist der erste Teil einer Trilogie und lässt sich gefällig lesen. Er bietet interessante und auch mitreißende Einblicke in Brückenbau unter extremen Bedingungen vor dem Hintergrund des beginnenden 20. Jahrhunderts. Die Themen Familie, Verpflichtungen, Liebe, Historie und großartige Landschaften sind Garanten für ein unterhaltsames Buch. Die Charaktere sind ansprechend gestaltet, die Protagonisten bleiben allerdings oft merkwürdig flach und neutral. Im letzten Drittel habe ich häufiger quergelesen, da die detaillierten Beschreibungen strategischer Kriegskünste in diesem Rahmen einfach zu langweilig wurden. So wirkt auch das gesamte Ende etwas hastig zusammengestrickt. Alles in allem aber ein empfehlenswertes Buch für ein verregnetes Wochenende.

Jan Gulliou, Die Brückenbauer
Heyne Verlag, 2012
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Die-Brueckenbauer-9783453268258
Autorin dieser Rezension: Dorothee Bluhm
www.wortparade.de

Rezension: Steven Galloway, Der Illusionist

Was in unserer Erinnerung Fakt oder Fiktion ist, kann niemand so genau sagen. Allzu schnell werden unangenehme Erlebnisse verdrängt und nur die schönen Momente mit einer Person hervorgehoben. Schon wenn man drei Augenzeugen eines Vorgangs befragt, erhält man vier verschiedene Versionen der Ereignisse, einfach weil jedes Gedächtnis anders funktioniert. Dennoch verlässt sich der Mensch auf seine Erinnerungen mehr als auf Erzählungen anderer – was aber, wenn das Gehirn nicht mehr zwischen Erinnerung und erfundenen Geschichten unterscheiden kann?

Quelle: www.randomhouse.de
Quelle: www.randomhouse.de

Am Anfang ist die Krankheit
Martin Strauss erfährt von seinem Arzt, dass er an einer seltenen neurologischen Krankheit leidet, dem sogenannten Konfabulismus. Davon Betroffene erzählen objektiv falsche Dinge, bilden sich aber fest ein, diese wären wahr und sie hätten sie genau so erlebt. Martin Strauss wird also seine Erinnerungen verlieren und schon bald nicht mehr unterscheiden können, was wahr ist und was sich sein Gehirn nur ausgedacht hat. Dabei blickt Martin auf ein langes und wie er meint auch sehr ereignisreiches Leben zurück, hat er doch den weltberühmten Magier und Entfesselungskünstler Harry Houdini getötet – gleich zweimal. Zumindest glaubt er das und möchte seine Geschichte unbedingt aufschreiben, bevor er sie für immer vergisst. Sein Grund: Er möchte Alice, von der er glaubt, dass sie Houdinis Tochter ist, unbedingt die Wahrheit über ihren Vater und über sich selbst sagen.

Drei Handlungsstränge, zwei Leben, eine Geschichte?
Steven Galloway verwebt in seinem Roman drei Handlungsstränge miteinander. Zum einen die gut recherchierte und realistisch dargestellte Biographie des weltberühmten und bekannten Zauberers und Entfesselungskünstlers Harry Houdini. Zum zweiten das Leben des jungen Martin Strauss als Student in Montreal, wo er auf Houdini trifft und in dessen Verwirrspiele verstrickt wird. Das wiederum führt dazu, dass Martin den Zauberer gleich zweimal töten kann. Der dritte Erzählstrang behandelt die Gegenwart, als Martin auf einer Parkbank vor dem Krankenhaus sitzt und über seine Erinnerungen und sein Leben sinniert, bevor er diese beiden aus seinem Gedächtnis verliert. Oder hat er das vielleicht schon?

Mein Fazit
Unsicherheit ist faszinierend, zumindest im Fall dieses Buches. Die Houdini-Biographie ist gespickt mit korrekten Fakten, wie zum Beispiel der Bekanntschaft mit Sir Arthur Conan Doyle. Auch Martins Biographie und seine Version der Ereignisse beim Zusammentreffen mit Houdini in der Vergangenheit scheinen mehr als realistisch. Wenn, ja wenn da nicht die Gegenwart wäre und seine Krankheit. Denn in der Gegenwart tauchen bei Martin immer wieder Erinnerungsfetzen auf, die so nicht stattgefunden haben können, wenn er Houdini wirklich getötet hat. Bis zum Schluss bleibt offen, welche der Erinnerungen real sind und welche aufgrund des Konfabulismus erfunden wurden, um die Erinnerungslücken zu schließen. So bleibt es jedem selbst überlassen, zu entscheiden, was real in Martins Leben passiert ist. Genau das macht den Reiz des Buches aus. Denn seien wir ehrlich: Haben wir uns nicht selbst schon manchmal gefragt, ob ein Ereignis wirklich genauso stattgefunden hat, wie wir uns daran erinnern?

Steven Galloway, Der Illusionist
Luchterhand, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Der-Illusionist-9783630874579
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezension: Martin Compart, Die Lucifer-Connection

Mit einer scheinbaren Bagatelle beginnt für den Privatdetektiv Gill eine kriminalistische Reise in die Abgründe der menschlichen Seele: Ein Junge, Michael Heimkann, sitzt weinend in seinem Büro und möchte den privaten Ermittler engagieren, weil sein kleiner, schwarzer Kater plötzlich verschwunden ist. Eigentlich möchte der ehemalige Geheimagent und Söldner ablehnen, doch er hat ein weiches Herz und liebt Katzen, weshalb er den Fall doch annimmt.

Quelle: evolver-books.at
Quelle: evolver-books.at

Wer hat die Kinder ermordet?
Gill gelingt es schließlich, die Katze zu finden. Diese wurde von professionellen Fängern aufgegriffen. Die Katze befindet sich in einem hervorragend geschützten Lagerhaus zusammen mit Hunderten von Artgenossen. Gill erfährt, dass die Tiere bei satanischen Ritualen geopfert werden sollen, was der Detektiv aber zu verhindern weiß.

Zwischenzeitlich hat ein Schatzjäger mit seiner Wünschelrute einen grausigen Fund gemacht: Er ist auf ein Massengrab mit Dutzenden von Kinderleichen gestoßen. In diesem Fall ermittelt Polizeidirektorin Alexa Bloch, Gills beste und wohl einzige Freundin. Sie hat ihm einmal das Leben gerettet, weshalb Gill für sie durch die Hölle und wieder zurück gehen würde.

Eine Nummer zu groß?
Bei einem Treffen sprechen die Polizistin und der Detektiv über ihre aktuellen Fälle und beschließen, den Stand der Ermittlungen abzustimmen. Denn sie sind unabhängig voneinander offensichtlich einem international agierenden Netzwerk von Satanisten auf die Spur gekommen. Diese Abstimmung soll schließlich Alexas Leben retten. Denn sie verspricht sich beim Satanisten-Beauftragten der katholischen Kirche, mit dem sie sich zu einem privaten Abendessen verabredet hat, weitere Erkenntnisse. Bei diesem Treffen stellt sich jedoch heraus, dass ausgerechnet der Mann der Kirche der Kopf der Satanisten ist.

Er entführt Alexa und verschleppt sie auf eine Sklavenfarm, auf welcher ein liberianischer Warlord Frauen als Gebärmaschinen hält, um die Kinder an die Satanisten zu verkaufen. Doch es gelingt Gill, sich an die Spur zu heften, eine kleine Privatarmee aufzustellen, die Farm dem Erdboden gleichzumachen und die Freundin zu befreien. Auch der Kopf der Satanisten entkommt ihm nicht. Weil dem Detektiv der Tod für dieses Monster in Menschengestalt als zu human erscheint, verdammt er ihn zu einem Schicksal, das schlimmer scheint als die Hölle…

Einfach fesselnd
Stellenweise badet der Autor regelrecht in Klischees, die der Leser aus Groschenromanen der 1960er Jahre kennt. Etwa, wenn er den Bordellbetreiber Klaus beschreibt, genannt „Karibik-Klaus“, der Gill den Rücken mit Geld und logistischer Unterstützung freihält. Geht es um die Schilderungen der grauenhaften Taten, zieht er sich jedoch auf die Rolle eines objektiven und neutralen Berichterstatters zurück, sodass ekel- und grauenhafte Details erst im Kopf des Lesers entstehen.

Mein Fazit
Martin Compart gelingt es meisterhaft, die Bilder der einzelnen Szenen nicht nur zu beschreiben, sondern im Kopf des Lesers zu erzeugen. Die Lucifer-Connection macht neugierig auf mehr, ist aber kein Lesestoff für schwache Nerven.

Martin Compart, Die Lucifer-Connection
EVOLVER BOOKS, Wien 2011
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Die-Lucifer-Connection-9783950255843
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezension: Zoё Angel und Charly Blood, Morbus Band 2 – Im Prater tanzt der Sensenmann

Quelle: www.evolver-books.at
Quelle: www.evolver-books.at

Wien ist anders…
Dass die Stadt an der Donau ein wenig anders ist, besagt schon ein Werbeslogan. Wie anders das Wien im Jahre 1984 wirklich ist, lernen der Privatdetektiv Bernd Waidmann und das Gruftie-Girl Petra Jesselmaier im Zuge ihrer Erlebnisse. Da gibt es das lebende Skelett Grimm, einen Teenager namens Sebastian, der über telekinetische Kräfte verfügt, eine lebende Puppe namens Maxi und noch viele weitere Gestalten, die eigentlich nur in den Sagen und Mythen der Stadt existieren sollten und doch mehr als real sind. Und dann wäre da noch Bernds Kontaktmann Harry, der irgendwie zwielichtig erscheint, denn er weiß mehr, als er anfangs zugibt, ist aber im Falle des Falles immer zur Stelle.

…und Clowns sind böse
Als Ergebnis des ersten Teils bekommen Petra und Bernd eine seltsame Einladung zum Stock-im-Eisen-Platz, der Petra auch nachkommt, Bernd jedoch nicht. Erwartet wird sie dort von Harry, der sich als Anführer einer Gruppe namens „Basilisk“ entpuppt. Deren Mitglieder kümmern sich bereits seit Jahrhunderten mit teilweise übersinnlichen Fähigkeiten darum, dass jene anderen Wesen, die die Stadt heimsuchen, entweder friedlich bleiben oder aber unschädlich gemacht werden. Diese Organisation will nun Petra, die selbst Visionen hat, und Bernd anwerben. Als Bernd nicht auftaucht, wird Petra vereidigt und die Organisation macht sich auf die Suche nach dem verschwundenen Fast-Mitglied.

Dabei entdeckt die Gruppe, dass Bernd in dem Fall eines Buben ermittelt hat, der im Wiener Prater verschwunden und nach ein paar Tagen wieder aufgetaucht ist. Merkwürdig: Ihn ergreift plötzlich Panik beim Anblick von Clowns. Das Ermittler-Team folgt den Spuren des Privatdetektivs, kommt ihnen dieses Vorgehen doch bekannt vor. Auf Petras Nachfrage wird ihr erklärt, dass solche Fälle schon mehrfach vorgekommen seien. Die Clowns kämen aus einer Parallel-Dimension und ernährten sich von den Emotionen der Kinder, die sie entführen und schlussendlich meist töten. Nun gilt es also neben Bernd auch den Clown zu finden.

Bernd jedoch hatte Glück. Er wurde zwar vom Clown angegriffen, jedoch von zwei Frauen im Prater entdeckt und gerettet. Sie nahmen ihn auf, pflegten ihn und stellten ihm Grimm, das lebende Skelett aus der Geisterbahn, vor. Grimm seinerseits hat Kontakte zu Basilisk, und als sein Freund Sebastian verschwindet, wendet er sich an die Organisation. Die Jagd ist eröffnet und kein böses Wesen entkommt den Fängen von Basilisk.

Mein Fazit
Die sehr morbide Handlung könnte nirgendwo anders spielen als in Wien, wo es durchaus möglich scheint, dem Donaufürsten, der Loreley oder anderen Mythen an der nächsten Straßenecke zu begegnen. Wer ohnehin schon Horror-Fan ist, wird begeistert in diesen Geschichten schwelgen, aber auch all jene, die einfach nur gruslige Unterhaltung mögen. Ich jedenfalls möchte jetzt auch alle anderen hefte lesen und eintauchen in das ganz andere Wien.

Zoё Angel und Charly Blood, Morbus Band 2 – Im Prater tanzt der Sensenmann
EVOLVER BOOKS, Wien 2013
Online bestellen: http://www.evolver-books.at/buchshop.php
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Diskussion: Preis der Leipziger Buchmesse für Literaturblogger

Dieser Beitrag richtet sich an alle Leser, besonders aber an Literaturblogger und Autoren.

In der Bloggerlounge der Leipziger Buchmesse 2015 hat Oliver Zille auf meine Frage, ob es denn auch bald einen Preis der Leipziger Buchmesse für Literaturblogger geben könne, geantwortet: „Wir haben das stark im Blick.“

Ich möchte diese Diskussion gern fördern und der Leipziger Buchmesse ein breites Meinungsbild von Betroffenen an die Hand geben. Mögt ihr mich unterstützen?

Ich frage euch:
Wann ist für euch ein Literaturblog preiswürdig?
Welche Kriterien sind für euch wichtig: Genre, Alter, Stil, Reichweite…?
Welche Blogs kommen gar nicht in Frage?
Wie sollte so ein Preis dotiert werden: mit Anerkennung oder mit Preisgeld?
Und wer sollte darüber entscheiden: Jury, Voting der Blogger…?

Ich habe schon viele Blogger und Autoren persönlich angeschrieben. Bitte sagt es auch weiter.

Vielen Dank für eure Mühe.