Rezension: Michael Cunningham, Die Schneekönigin

Inspiriert durch die Märchen von Hans Christian Andersen, verwebt Cunningham in seinem Roman magische Elemente mit der Lebens- und Gefühlswelt zweier Brüder.

Zum Autor
„The Hours“ wurde für Michael Cunningham, geboren 1952, der Durchbruch. Auf den Pulitzerpreis und PEN/Faulkner Award folgte die umjubelte Verfilmung mit Nicole Kidman in der Hauptrolle. Sein Roman „Fünf Meilen bis Woodstock“ bot ebenfalls Stoff für die Kinoleinwand. Cunningham lebt in New York City und unterrichtet Kreatives Schreiben an der Columbia.

Quelle: www.randomhouse.de
Quelle: www.randomhouse.de

Ein himmlisches Licht scheint auf die Tragik des Alltags
An einem kühlen Novemberabend des Jahres 2004 befindet sich der 38jährige Barrett Meeks auf dem Heimweg durch den Central Park. Seine Gedanken kreisen um seine letzte Beziehung, die vor wenigen Tagen mit einer schlichten SMS beendet wurde. Langsam macht die leidenschaftliche Wut der Verbitterung über sein gescheitertes Liebesleben Platz. Als er in den Himmel blickt, wird dieser plötzlich von einem hellen, fast göttlichen Licht erhellt, das nur er zu sehen scheint. Liegt darin ein Omen für kommende Ereignisse?

Barrett kehrt nach diesem Erlebnis in die abgelebte Wohnung in Bushwick zurück. Mit ihm leben dort sein älterer Bruder Tyler und dessen schwer krebskranke Verlobte Beth. Während Barrett sich nach seinem Studium an einer Eliteuniversität mit einem Job als Verkäufer in der kleinen Szeneboutique begnügt, wo er sich ganz seinen Gedanken zur Welt hingeben kann, müht sich der talentierte, aber gescheiterte Musiker Tyler, den perfekten Song zu schreiben. Als Beth, geschwächt von Krankheit und Medikamenten, schläft, versucht er zwischen Kaffee und den heimlichen Kokaindröhnungen ein Lied aufs Papier zu bringen, um seiner Geliebten ein besonderes Hochzeitsgeschenk zu machen.

Einige Monate später scheint Beth beinahe genesen, was Barrett in seinem Glauben an eine höhere Macht bestärkt. Tyler hingegen kämpft nun mit Schuldgefühlen und dem Ehealltag.

Zwischen der Handlung
Der Roman beleuchtet episodenhaft das (Zusammen-)Leben einer kleinen Personengruppe um die Meeks-Brüder und legt den Fokus nicht auf die großen Ereignisse wie die bevorstehende Hochzeit oder die spätere plötzliche Genesung Beths, sondern konzentriert sich auf deren emotionalen Effekt bei den Protagonisten. Die Erzählung beschränkt sich auf das Vorher und Nachher, die wichtigen Informationen zu den einschneidenden Erlebnissen werden dem Leser nur häppchenweise durch die Überlegungen der Figuren zugespielt. Durch den Wechsel der Erzählperspektiven schafft Cunningham genügend Raum, um die Motivation jeder Figur offenzulegen. Doch dieses Konzept weist in der Ausführung einige Mängel auf, denn die Gedanken der Figuren kreisen meist um die Figur selbst, die eigenen Probleme, das eigene Leid – ohne von der Stelle zu kommen. Ein Bezug zu Andersens Märchen wird nur in kleinen Momenten geschlagen, in denen Cunningham die Geschichte des zersplitterten Zauberspiegels aufgreift; die „echte“ Schneekönigin ist eher Inspiration als Leitmotiv.

Mein Fazit
Die Mischung aus minimaler Handlung und egozentrischen Figuren hat mich nicht überzeugt. Nach einem starken Einstieg flacht das Buch zusehends ab, verliert sich in den Gedankenschaukeleien der Protagonisten, bis der Roman schließlich ohne jegliche Auflösungen endet. Was ist passiert, Mr. Cunningham?

Michael Cunningham, Die Schneekönigin
Luchterhand Literaturverlag, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Die-Schneekoenigin-9783630874586
Autorin der Rezension: Jasmin Beer

Gastkommentar: Mein jüdischer Abend auf der Leipziger Buchmesse 2015

Heute geht es ins Ariowitsch Haus, Zentrum jüdischer Kultur im Leipziger Waldstraßenviertel.

Um 19 Uhr beginnt die Lesung von Michael Degen. Er stellt seinen Roman „Der traurige Prinz“ vor.
Der Saal füllt sich, alle Plätze sind bereits besetzt. Michael Degen steht noch immer auf der Theaterbühne, und das mit 82 Jahren. Bemerkenswert. Schon die ersten Passagen machen Lust, weiter zuzuhören. Es ist spannend und dabei so bildhaft, dass man glauben könnte, man sei selbst bei der Begegnung von Michael Degen und Oskar Weber dabei. Die Lesung macht Lust auf mehr von diesem Buch.

20 Uhr. Die witzigste Stunde des Abends beginnt: Josef Joffe und Professor Hellmuth Karasek erzählen Witze.
Josef Joffe: Mach dich nicht so klein, du bist nicht so groß!
Hellmuth Karasek: Das find ich aber gar nicht komisch!
Der Saal ist brechend voll, selbst auf den Stufen zum Saal und am Rand der Bühne wird noch Platz genommen, damit auch alle hineinpassen. Zugegeben: Ich verstehe nicht viel von Witzen und meist muss man mir Witze auch erklären, aber hier war es einfach ein Erlebnis. Ich habe jeden Witz verstanden und musste, wie jeder andere auch im Saal, die ganze Stunde einfach nur herzhaft lachen. Ich hatte noch ein Buch zum Signieren dabei. Auch dafür fand sich nach der Lesung noch Zeit, und so bin ich nun stolz auf ein Autogramm von Professor Karasek.

Um 21 Uhr sollte die Lesung von André Herzberg beginnen. Sie verzögert sich um eine halbe Stunde. Angekündigt ist die Buchvorstellung „Alle Nähe fern“ mit Musikbegleitung. Der Saal hat sich nach Karasek, dem Zugpferd des Abends, leider schon etwas geleert. Herzbergs Buch erzählt die Familiengeschichte von drei Generationen vom Ersten Weltkrieg über Migration bis heute, von Fremdheit zwischen Vätern und Söhnen. Als es zur Musik übergeht, hören wir den Titel „Märchen der Freiheit“, vorgetragen von André Herzberg mit Gitarre und Mundharmonika. Hier muss ich leider sagen: Die Musik gefällt mir besser als der Text. Das liegt vielleicht daran, dass mich Herzbergs Geschichte nicht wirklich mitnimmt. Was bleibt, ist sein Satz „Musiker sind wie die Sonne. Sie gehen im Osten auf und im Westen unter.“

Vielen Dank für den Text an Sandra Gräfenstein!

Gastkommentar: Mein Buchmesse-Freitag, der 13.

Autorin Sandra Gräfenstein (links) auf der Leipziger Buchmesse 2015. Foto: privat
Autorin Sandra Gräfenstein (links) auf der Leipziger Buchmesse 2015. Foto: privat

Dieses Jahr geh ich nicht allein auf die Buchmesse, sondern nehme eine gute Freundin mit. Für sie ist es das erste Mal (auf der Messe), für mich das dritte Mal. Wir haben keine festen Termine, wir wollen einfach durch die Hallen schlendern und schauen, was es Neues gibt.

Los geht’s, als wir um 9:30 Uhr in der Glashalle ankommen, die schon geöffnet ist. Die Hallen öffnen um zehn. Der erste Weg führt zum ZDF. Ich hole ein neues Käppi für den Sommer, eine Tüte Gummibärchen für unterwegs und den neuen Einkaufswagenchip.

Um zehn geht’s zuerst in Halle 2. Ich sichere mir alles Wichtige an Studiensachen, die neu und wieder zum Mitnehmen sind, bei der Bundesbank und der Bundesregierung. Meine Freundin sucht alles zur Vorbereitung auf das erste Schuljahr zum Lesen lernen, zum Malen und Basteln. Mir fällt zum ersten Mal auf, wie groß das Angebot ist… kleine Pixi-Bücher einfach zum Mitnehmen, ein Euro-Banknoten-Spiel von der Bundesbank, Bücher mit Geschichten zu Europa und zur Umwelt, Ritter- und Weltraumgeschichten. Eine Weltkarte haben wir auch gefunden, bereits laminiert und perfekt geeignet als Schreibtischunterlage zum Lernen.

Danach besuchen wir die Hallen 4, 5 und 3. Halle 1? Nein Danke, viel zu voll. Die Besucher werden jedes Jahr mehr. Bereits jetzt, gegen 13 Uhr, ist es nicht mehr so einfach, zur Glashalle zu gelangen. Die Durchgänge sind teilweise gesperrt. Leider stehen wir gerade an der falschen Röhre, hier ist nur noch Einbahnstraße in die Halle hinein. Also auf in die Schlange zum anderen Durchgang zur Glashalle und erstmal einen Kaffee und ein paar Kekse. Die Preise machen genügsam.

Frisch gestärkt trauen wir uns ein zweites Mal in die Hallen 3 und 2 – einfach nochmal durchschlendern und dann rechtzeitig zu 15 Uhr am Blauen Sofa eintreffen, damit wir einen guten Platz finden für die Gesprächsrunde mit Gregor Gysi und Friedrich Schorlemmer.

So, nun ist es aber gut. Beim Stehen schmerzen bereits die Füße. Auf zum Auto, auf dem Sofa zuhause etwas ausruhen. Ich freue mich schon auf morgen Abend. Dann gibt es Begegnungen im Ariowitsch Haus um 20 Uhr mit Hellmuth Karasek und um 21 Uhr mit André Herzberg.

Autorin Sandra Gräfenstein liest zur Zeit eher Fachbücher für das BWL-Fernstudium. Blogs liest sie nur, weil es dieses Blog gibt.

Treffen in der Bloggerlounge: Autoren und Blogger – eine zaghafte Liebe

In der Bloggerlounge der Leipziger Buchmesse trafen sich Nominierte und Ausgezeichnete des Preises der Leipziger Buchmesse mit Literaturbloggern. Beide Seiten verbindet die Leidenschaft für ihr Tun. Der Weg zueinander ist jedoch noch weit.

Erstmals hatte die Leipziger Buchmesse den 15 Nominierten des Preises der Leipziger Buchmesse jeweils einen Blogger als Pate zur Seite gestellt. Das Interesse auf Bloggerseite war groß, es kamen über 70 Bewerbungen. Leider wurde die Idee nicht zu Ende gedacht: Einige Nominierte offenbarten, sie hätten erst mit der Einladung zum Treffen in der Bloggerlounge von diesem Experiment der Buchmesse erfahren. Ein dicker roter Eintrag in das Aufgabenheft der Kommunikationsfachleute der Leipziger Buchmesse, aber auch der Verlage!

„Ich habe keinen Bock auf Twitter und Facebook. Da schwillt die Kommunikation doch nur an. Wirklichen Reichtum gibt es nur Face to Face.“ Autor Michael Wildenhain benennt deutlich sein Unbehagen. Er sei zwar viel im Netz unterwegs, lese aber selten Blogs. Seine Beobachtung: Dem ersten Enthusiasmus mit qualitätvollen Beiträgen folge fast überall mit zunehmender Zeit Ernüchterung und Ausdünnung. Jan Wagner, Preisträger in der Kategorie Belletristik (Verlosung eines signierten Exemplares hier) liest zwar selten Literaturblogs, hat aber immerhin mit seinem Bloggerpaten telefoniert. Philipp Ther, ausgezeichnet für sein kluges Geschichtswerk über das neoliberale Europa, bekennt, er müsse sich mit dieser „anderen Öffentlichkeit“ erst anfreunden. Bisher völlig ausgeschlossen von der Welt des Internets ist Mirjam Pressler, Preisträgerin für ihre Übersetzung von Amos Oz. Sie habe sich eine Homepage erstellen lassen, die aber nie angesehen. „Sind Blogger eigentlich untereinader vernetzt?“, fragt sie in die Runde und verspricht, künftig mal „hereinzuschnuppern“.

Ein Defizit also, das sich hier auf Autorenseite offenbart. Wie ist es zu bewerten? Führt es die Bemühungen der Leipziger Messe um die Einbindung der Blogger ad absurdum oder macht sie gar überflüssig? Ich denke, diese Lücke sollte eher Ansporn sein, den Gesprächsfaden zu intensivieren und neue Gesprächsformen zu suchen. Wie wäre es mit einer Blogger-Autoren-Runde, in der ausgesuchte Blogs live vorgestellt werden? Die Bloggerlounge mit einer verbesserten technischen Ausstattung wäre ein geeigneter Rahmen dafür.

Lesefreude teilen: Meine Buchverlosung zur Leipziger Buchmesse 2015

UPDATE 1. April 2015

Ich gratuliere den Gewinnern und danke allen für die Teilnahme. Ihr habt wunderbare Antworten gegeben, die mich zum Nachdenken gebracht haben. Die Bücher gehen nach Ostern raus, die Adressen habe ich alle.

Jan Wagner geht an Cornelia Lotter
Beni Frenkel geht an AlaMinor
Zwei Bärinnen geht an WortParade Dorothee Bluhm
Blutfrieden 1815 geht an Harry Pfliegl
Das Amazon Schreibexperiment geht an astel90

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Ich möchte die wunderbaren Leseentdeckungen der Leipziger Buchmesse 2015 mit meinen Lesern teilen. Ich verlose je ein Exemplar von

  • Jan Wagner, Regentonnenvariationen (Hanser Berlin), Preis der Leipziger Buchmesse 2015, vom Autor signiert
  • Beni Frenkel, Gar nicht koscher. Vom täglichen Schlamassel, als Jude durchs Leben zu gehen (Klein & Aber Zürich), vom Autor signiert
  • Meir Shalev, Zwei Bärinnen (Diogenes), vom Autor signiert
  • Sabine Ebert, 1815 Blutfrieden (Droemer Knaur), mit signierter Bildkarte der Autorin
  • 24 Stunden 24 Autoren, ein Schreibexperiment von Amazon-Autoren

Wenn eines der Bücher bald in eurem Regal stehen soll, sagt mir bis zum 31. März 2015: Warum ist Lesen für euch wichtig? Wer die Leipziger Buchmesse besucht hat, kann gern noch seine Meinung dazu sagen: Wie habt ihr die Messe in diesem Jahr erlebt? Und gebt bitte auch euer Wunschbuch an. Notwendiger Hinweis: Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Viel Erfolg und viel Spaß beim Lesen!

Hallo, Waldtraut Lewin: „Ich bleibe hier, denn Juden gehören nach Europa“

Fast fast jedes ihrer Lebensjahre hat Waldtraut Levin ein Buch veröffentlicht. Stolze 70 sind es mittlerweile. Jetzt wagt sich die Autorin an Anne Frank. Sie entstaubt die Ikone und versetzt das jüdische Mädchen in die heutige Zeit mit Diskothek und Hakenkreuz-Schmierereien. Waldtraut Lewin nennt es behutsam „eine Annäherung“.

Leipziger Buchmesse 13. März 2015. Foto Detlef M. Plaisier (9)Ausgewiesene Kennerin des Judentums durch ihr umfassendes Werk „Der Wind trägt die Worte“, erfuhr Waldtraut Lewin erst mit 13 Jahren durch ihre Mutter von ihren jüdischen Wurzeln. „Ich habe das sofort angenommen.“ 1956, mit 19 Jahren, sah sie im Berliner Schloßpark Theater eine Aufführung vom „Tagebuch der Anne Frank“ mit der jungen Johanna von Koczian in der Titelrolle. „Das Theater stand in Tränen“, erinnert sich Waldtraut Lewin. Der Funke war entfacht. Heute haben Millionen von Menschen in aller Welt das bewegende Tagebuch gelesen. „Anne Frank war fast noch ein Kind“, erklärt Autorin Lewin den Hype um Anne Frank. „Viele Passagen treffen auch heute noch das Lebensgefühl junger Menschen. Vor allem war es ein Einzelschicksal, das zur Identifikation taugt.“

Quelle: www.randomhouse.de
Quelle: www.randomhouse.de

Ja, das Buch von Waldtraut Lewin ist eine Liebeserklärung. „Ich spiele mit Anne Frank, natürlich mit großem Respekt.“ Spiel, das heißt: Anne verläßt das Versteck in der Prinsengracht und hat zeitversetzt 70 Jahre später die Chance, ihre Jugend zu leben. Am Ende kehrt Anne nach Israel zurück. „Vielleicht kann man ein kleines bisschen etwas bewirken. Dass nicht geschossen wird, zum Beispiel. Dass man sich näher kommt.“ So erfüllt Waldtraut Lewin das Vermächtnis von Anne Frank aus ihrem Tagebuch, wo es heißt: „Ich will fortleben, auch nach meinem Tod.“

Waldtraut Lewin blieb das Schicksal von Anne Frank durch einen mutigen und vermögenden Großvater erspart, der als Jude in der deutschen Gesellschaft angepasst lebte und für die Familie mit Bestechung einen gefälschten Ariernachweis kaufte. Den aktuellen Aufruf der israelischen Politik, die Juden Europas mögen in das gelobte Land zurückkehren, hält Waldtraut Lewin für ein Deckmäntelchen zum Bau neuer Siedlungen. „Juden sollten sich nicht aus Europa vertreiben lassen, nur weil ein paar verrückte Typen mal wieder hetzen. Juden gehören seit Jahrhunderten nach Europa. Ich bleibe hier.“

Foto von Waldtraut Lewin in der LVZ-Autorenarena: Detlef Plaisier

Hallo, Carlo Strenger: „Israel braucht einen neuen Premier“

1958 in eine streng jüdisch-orthodoxe Familie in der Schweiz hineingeboren, lehrt Carlo Strenger heute als Professor der Psychologie und Philosophie an der Universität Tel Aviv. In seinem neuen Buch „Israel – eine Einführung in ein schwieriges Land“ legt er seine Wahlheimat auf die Couch und kommt zu dem Ergebnis: „Manchmal frage ich mich, wie dieser Staat überhaupt funktioniert.“

Leipziger Buchmesse 12. März 2015. Foto Detlef M. Plaisier (102)Strenger analysiert nicht nur theoretisch, er mischt sich ein: 2003 verstärkte er das Kompetenzteam der Arbeitspartei zur israelischen Parlamentswahl. Strengers aktuelle Analyse ist schonungslos: Das Verhältnis zwischen Israel und Europa sei „objektiv furchtbar“. Israel geriere sich einerseits als Vertreter einer liberalen Demokratie nach westlichem Vorbild und betreibe andererseits eine repressive Siedlungspolitik. Seit sechs Jahren trage Ministerpräsident Netanjahu die Shoah zu allen unmöglichen Situationen anklagend wie einen Schild vor sich her. Klare Ansage: „Es wird Zeit für einen neuen Premier.“

Quelle: www.suhrkamp.de
Quelle: www.suhrkamp.de

Carlo Strenger tischt unbequeme Wahrheiten auf: „Die Verletzungen von Menschenrechten in Russland, China, dem Iran und Serbien stellen alles in den Schatten, was Israel je getan hat. Aber niemand bestreitet ernsthaft das Existenzrecht dieser Staaten.“ Das Ziel der Staatsgründung Israels habe sich in das Gegenteil verkehrt: „Israel ist der Jude unter den Ländern geblieben, der einzige Staat mit ständiger Existenzgefährdung.“ Und dennoch: Im aktuellen Wahlkampf tauche das Wort FRIEDEN nicht auf. Wer als Partei davon spreche, werde als „psychiatrisch gestört“ und realitätsfern abgestempelt.

Es sei legitim, so Carlo Strenger, Israel für seine Siedlungspolitik zu kritisieren. Dies dürfe aber nie dazu führen, Israel als Land selbst in Frage zu stellen. Ein versöhnlichen Lichtblick sieht Carlo Strenger nicht: „In den nächsten Jahrzehnten wird sich der Nahe Osten in ein furchtbares Chaos verwandeln.“ 

Foto Carlo Strenger: Detlef M. Plaisier

Oliver Zille in der Bloggerlounge: Der Technokrat mit Bloggerherz

Er kommt verspätet und wirkt gehetzt, und auch die Technik will nicht funktionieren. Buchmesse-Direktor Oliver Zille ist in der Bloggerlounge angekündigt für ein Gespräch mit den akkreditierten Bloggern. Aus dem Gespräch wird ein Monolog, gewürzt mit drei Zwischenfragen, gedrängt auf zwölf Minuten. Zu fremd sind sich beide Seiten. Aufschlussreich ist es dennoch.

 

Bloggerlounge Leipziger Buchmesse 13. März 2015. Foto Detlef M. Plaisier (40)„Ich habe großen Respekt vor der Arbeit der Blogger, vor allen, die versuchen, den großen Literaturmarkt mit jährlich 80.000 Titeln zu vermitteln.“ Guter Einstieg, doch es lohnt sich, genauer hinzuhören. „Unser Job als Messe ist es, die Vermittlung von Literatur zu organisieren. Es war an der Zeit, den Bloggern auf der Buchmesse einen eigenen Arbeitsort einzurichten und ihre Arbeit für Leser und Verlage sichtbar zu machen. Wir stellen die Lounge als neutrale Plattform hin, und jeder Verlag hat ganz individuelle Strategien, wie er mit Bloggern zusammenarbeitet. Und ja, es ist erstmal ein Experiment. Sagen Sie uns als Blogger, was Sie brauchen.“

An anderer Stelle spricht Zille davon, es gehe um neue Wege, „wie wir bestimmte Botschaften oder bestimmte Inhalte an die Öffentlichkeit bringen“. Dafür sei die Aktion Bloggerpaten „ein probates Mittel“. Eine Vorlage für heftige Reaktionen, so wie für den Bloggerpaten Thomas Hummitzsch auf seiner Seite intellectures.de, wo er rückblickend bitter resümiert, er habe sich „in naiver Pose kaufen lassen“.

Ich teile diese Einschätzung nicht. Ich halte es eher für naiv, für Blogger den Status einer geschützten Spezies zu reklamieren und die berechtigten wirtschaftlichen Interessen der Messe auszublenden. Es geht hier um eine Annäherung, ein Kennenlernen und Ausloten, wozu auch Irrwege und Missverständnisse auf beiden Seiten gehören. Ich gebe zu: Es ist nicht einfach, Oliver Zille auf den ersten Blick ins Herz zu schließen. Sein Herz für Blogger schlägt jedoch laut hörbar. Im eigenen Interesse sollten Literaturblogger, ob bisher auf der Buchmesse akkreditiert oder nicht, ihre Bedürfnisse äußern. Annäherung braucht Geduld. „Auch wir müssen noch lernen, bei Bloggern Strukturen und Qualitäten zu erkennen“, gesteht Oliver Zille ein. Selbst einen Preis der Leipziger Buchmesse für Literaturblogger habe man „scharf im Blick“. Sollte das nicht Ermutigung genug sein für einen offenen Dialog?

Privat liest Oliver Zille übrigens keine Blogs, um sich Anregungen für neue Lektüre zu holen. „Schenken Sie mir nie Bücher. Ich traue niemandem zu, meinen literarischen Geschmack einzuschätzen. Als Leser ist es mir komplett schnurz, was andere über Bücher denken. Ich lese lieber ein Buch als eine Rezension über ein Buch, denn Lebenszeit ist knapp.“

Foto Bloggerlounge: Detlef M. Plaisier

Hallo, André Herzberg: „Ich gehe als Jude dahin, wo ich Leute kenne“

André Herzberg Leipziger Buchmesse 11. März 2015. Foto Detlef M. Plaisier (11)Manchmal wird mir bewusst, dass ich kein Kind des Ostens bin. Viele der Zuhörer um mich herum kennen André Herzberg als Frontmann der Band „Pankow“, haben Platten zum Signieren mitgebracht. Ich bekomme heute einen ersten Eindruck von André Herzberg als Autor und Mensch. Man hatte mich vorgewarnt: Achte auf seinen Hut. Ohne ihn ist der Herzberg nackt. Und richtig, der schwarze Hut, ständiger Begleiter auf Konzerten und Lesungen, ist wieder dabei.

André Herzberg stellt sein Buch „Alle Nähe fern“ vor. Unschwer erkennbar ist es ein autobiographischer Roman über die Familie Herzberg, die im Text Zimmermann heißt. André Herzberg verknüpft einhundert Jahre deutsche Geschichte mit drei ganz unterschiedlich geprägten Generationen der eigenen Familie. Er beobachtet, erzählt, plaudert, träumt, wertet und geht hart ins Gericht mit dem Verrat der Väter an der Generation der Söhne, der sich vom Kaiserreich bis ins vereinigte Deutschland zieht.

Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de
Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de

Über dieses Gift zu schreiben, bekennt André Herzberg im Gespräch, habe ihm ein Stück „Leichtigkeit und Abstand“ verschafft. Ein schwieriger Spagat, denn gleichzeitig sollte das Buch unterhaltsam sein und nach dem Wunsch des Verlages ein Jahrhundert auf 270 Seiten pressen. Herzberg wählte nach einigen Versuchen Präsens als durchgängige Zeitform. „Ich habe immer Angst, Leute zu langweilen. Deswegen fasse ich mich beim Schreiben kurz, und bei der Musik mache ich Krach“, kokettiert er.

Gibt es einen neuen Antisemitismus in Deutschland? André Herzberg zögert: „Ich weiß nicht, ob der so neu ist oder ob er nur ein anderes Gesicht hat. Würde ich Kinder religiös erziehen, überlegte ich schon, wo ich sie hingehen lasse und wie ich sie schützen kann.“ Den Schabbat begeht André Herzberg zuhause in der Familie, und wenn er sich zu seiner Religion bekennt und ausgeht, wählt er vertraute Pfade und Menschen. „Wir religiösen DDR-Juden sind in der Gemeinde nur noch eine Handvoll Leute“, sagt er nachdenklich. Über sein Jüdischsein konnte André Herzberg bis heute nicht mit seinem Vater sprechen…

Foto André Herzberg: Detlef M. Plaisier

Hallo, Gabriele Krone-Schmalz: „Der Westen nimmt die Signale Russlands nicht wahr“

Sie könnte problemlos große Hallen füllen wie Mario Barth. Was sie zu sagen hat, ist weit entfernt von Comedy. Gabriele Krone-Schmalz redet über Russland, ihr geliebtes Land, das sie im Herzen trägt. Und ja, ich mag sie. Nicht, weil ich ihrer Sichtweise in allen Facetten zustimme. Was ich schätze, ist ihre wohltuend differenzierte Analyse weitab von Pauschalierungen und Bashing. Nicht alle Zuhörer, die in acht Reihen vor dem Blauen Sofa stehen, sehen das so.

Leipziger Buchmesse 12. März 2015. Foto Detlef M. Plaisier (36)Russland sei mehr als ein geographischer Begriff, sagt Gabriele Krone-Schmalz. Russland müsse man empfinden, und das gelte auch jenseits des Urals. Das Verhältnis Russlands zur Ukraine sei immer speziell gewesen. „Brudervolk“ habe da einen ganz besonderen Klang. Das erfordere dann natürlich auch besonderes Finderspitzengefühl bei politischen Entscheidungen. Den Menschen in der Ukraine wäre viel erspart geblieben, so Krone-Schmalz, hätte der Westen nicht auf eine Entscheidung zur Blockzugehörigkeit gedrängt. So sei eine Vorbildfunktion der Ukraine als Brücke zwischen Ost und West abgewürgt worden.

„Russland verstehen“ heißt der neue Titel von Gabriele Krone-Schmalz. „Ich kann nicht verstehen, warum die Mehrheit der veröffentlichten Meinung eine semantische Umwidmung des Begriffes vornimmt.“ Verstehen bedeute doch nicht automatisch auch Verständnis und damit Zustimmung für ein Handeln, sondern zunächst das Bestreben, den Gegenstand an sich zu erfassen. Nur dann könne man intelligent und angemessen handeln. Genau das sei die Grundaufgabe von Journalisten in einer Demokratie: Wer wählen dürfe, müsse auch wissen, worüber er abstimmt. Die Streitkultur in Deutschland, so beklagt Gabriele Krone-Schmalz, habe während der jüngsten Diskussion um Russland und die Ukraine arg gelitten. „Mit Propaganda kann man in allen Ländern gut umgehen. Ich wünsche mir eine zivilisiertere Diskussion in Deutschland, ohne pauschale Propagandakeule.“

Quelle: www.chbeck.de
Quelle: www.chbeck.de

Krone-Schmalz wirbt in aufgeheizten Zeiten um Verständnis. „Und selbst wenn die Gefahr besteht, dass ich mit meiner Meinung vor einen falschen Karren gespannt werde, so werde ich aus Angst doch nicht schweigen.“ Staatsmann Putin oder Teufel Putin? „Genau dieses Denken will ich nicht. Jeder Politiker ist machtorientiert, überall.“ In der ersten Amtszeit Putins seien viele Signale von Russland aus gesendet worden, die der Westen nicht wahrgenommen habe.“ So haben viele Russen jetzt den Eindruck, der Westen wolle sie einfach nicht. „Feindbilder sind verdammt langlebig“, warnt die Russlandkennerin. „Und alle wollen doch Frieden“.

Ob sie Angela Merkel einen Rat für ihren nächsten Besuch bei Putin geben wolle? Gabriele Krone-Schmalz souverän: „Sie können sicher sein, dass ich das hier nicht sage.“

Ein Besucher vor mir schüttelt mehrfach den Kopf. Ich frage ihn, warum. Es habe nach dem Zusammenbruch der UdSSR sehr wohl viele Versuche gegeben, Russland in den westlichen Einflussbereich einzubinden. Russland habe sich jedoch dagegen gesperrt, weil es die Rolle als gleichberechtigter Partner nicht akzeptieren wollte und dem Land eine Führungsrolle vom Westen abgeschlagen wurde.

Foto Gabriele Krone-Schmalz: Detlef M. Plaisier