Rezension: Jens Steiner, Carambole – ein Roman in zwölf Runden

Der Autor wurde 1975 in Zürich geboren und studierte Germanistik, Philosophie und Vergleichende Literaturwissenschaft. Der vorliegende Roman stand 2013 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises und erhielt ebenfalls 2013 den Schweizer Buchpreis.

Langeweile und Resignation
Jens Steiner schildert in Momentaufnahmen das Geschehen weniger Tage aus der Sicht mehrerer Personen einer Dorfgemeinschaft. Das erste Drittel des Buches atmet diese Ereignislosigkeit, die sich auch beim Lesen als Anflug von Langeweile bemerkbar macht, am deutlichsten. Minutiöse Schilderungen von ereignislosen Tagesabläufen, jeder beobachtet jeden, niemand findet einen Ausweg aus der Lethargie und seinem selbstverschuldeten Gefängnis – diese Monotonie überträgt sich auf den Leser, findet den Weg von den Buchseiten in das Hirn des Rezipienten und wird zu lähmender Langeweile. Die Unfähigkeit der Figuren, miteinander zu kommunizieren, könnte als ein durchgehender Topos bezeichnet werden. Manche Dialoge sind aberwitzig und völlig sinnfrei.

Quelle: www.doerlemann.com
Quelle: www.doerlemann.com

Die Figuren
Da sind drei pubertierende Jungen, die apathisch der bevorstehenden Sommerferien harren. In denen wieder nichts geschehen wird. Igor, der sich um seine, durch einen Schlaganfall der Sprache beraubten Mutter kümmern muss, Manu, der die Leidenschaft seiner Mutter für die Züchtung von Orchideenmantiden, einer Heuschreckenart, teilt und Fred, der für die unerreichbare Renate schwärmt.

Da sind Ehepaare, die einander nichts mehr zu sagen haben. Männer, die sich einmal wöchentlich zum Heulen in ihren Schuppen zurückziehen oder Gruben im Garten ausheben, deren Sinn sich weder ihnen selbst noch dem Leser erschließt. Ein Vater, der nicht verhindern kann, dass seine Frau mit dem siebenjährigen Sohn einfach wegzieht.

Da ist eine Mutter, die nicht mehr an ihre pubertierende Tochter herankommt. Die wiederum spukt in den heimlichen Träume von drei Schulbuben. Einer von ihnen wird bei einer Flucht Ohrenzeuge der Vergewaltigung der Angebeteten, kann das Geschehen aber nicht einordnen, weil er schlicht unerfahren ist.

Da sind zwei Brüder, die nicht mehr miteinander reden, die ihre Eltern durch einen Verkehrsunfall verloren haben und deren Onkel mit ihrer Schwester und dem Erbe auf und davon ist.

Und da ist der Geschichtenerzähler Schorsch, von dem niemand so recht weiß, woher er gekommen ist und den niemand aus dem Dorf ernst nimmt. Schorsch, der von sich selbst sagt: „Ich war schon damals längst der Normalität abhandengekommen.“ Über das Dorf sagt Schorsch, und das klingt wie eine Zusammenfassung der erzählten Geschichten: „Dies ist kein Dorf. Sondern eine Prärie….Wir sind alle längst schon weg. Uns gibt es gar nicht mehr.“

Eigentlich alles ganz besondere und tragische Schicksale, die Jens Steiner jedoch quasi nebenbei erwähnt und denen er mit seiner Art, sie zu behandeln, nicht gestattet, Spannung aufkommen zu lassen. Auch das ist eine Kunst. Eine, die ich nicht mag.

Am besten gelungen waren für mich die Szenen, die aus der Sicht einer der drei Jungen erzählt wurden. Da hat der Autor mit viel Einfühlungsvermögen und poetischer Sprache die Unsicherheit und Zerrissenheit in der Pubertät wunderbar nahebringen können. Aus dieser Perspektive hätte ich gern einen ganzen Roman gelesen.

Form und Sprache
Manche Kapitel erinnern eher an Miniaturen als an Teile eines Romans. Einige Geschichten sind dabei durch die handelnden Personen untereinander verbunden. Die Perspektive der zwölf „Runden“ wechselt zwischen dem Ich-Erzähler und der dritten Person. Die einzelnen Abschnitte fügen sich für mich nicht zu einem Ganzen zusammen. Es sind lediglich Augenblicksbeschreibungen erstarrter oder gescheiterter Lebensentwürfe ohne Ausweg, ohne Rettung. Als ich bereit war, einer der Figuren zu folgen, stand dort bereits die nächste Schachfigur. So bleibt durch den abrupten Wechsel nur kühle Distanz.

Die Sprache von Jens Steiner ist bildhaft, poetisch und direkt. Manchmal schießt er mit seinen Bildern übers Ziel hinaus und wird unfreiwillig komisch. „Wütend warf die Sonne ihr Licht von sich, und das Dorf ließ einzelne Geräusche hören, spitz wie ein Fingerknacken…“ (S. 78)

Mein Fazit
So war für mich das Leseerlebnis ambivalent. Teilweise langatmige detailreiche Zustandsbeschreibungen behinderten oft die Lust am Weiterlesen. Den großen Bogen, in dem alle Personen zu einem Ganzen zusammengefügt werden, konnte ich nicht erkennen. Zu einer eindeutigen Empfehlung des Buches von Jens Steiner kann ich mich deshalb nicht durchringen. Wer gern literarische Experimente begleitet, dem wird dieser Roman sicher gefallen.

Jens Steiner, Carambole
Dörlemann Verlag AG Zürich, 2013
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Carambole-9783908777922
Autorin: Cornelia Lotter
www.autorin-cornelia-lotter.de

Rezension: Lutz Schebesta, Pappnase

Für mich als jecke Rheinländerin gibt es nichts Schöneres als die „fünfte Jahreszeit“, den Karneval am Rhein. Max, der Protagonist des Buches „Pappnase“ von Lutz Schebesta, sieht das leider ganz anders. Max hasst Karneval. Verkleiden findet er ja noch okay, aber ansonsten fallen ihm zu den jecken Tagen nur Begriffe ein wie „saufen, kotzen, anbaggern, schlechte Luft, schlechte Witze und schlechte Musik“. Seine Kölner Freunde können das allerdings, genau wie ich, so gar nicht verstehen und versuchen, Max mit allen Mitteln vom Karneval zu überzeugen. Das finde ich als Leserin ganz lustig, denn solche Diskussionen habe ich auch schon oft mit „Nicht-Jecken“ geführt – wortwörtlich.

Quelle: www.lutzschebesta.de
Quelle: www.lutzschebesta.de

Einmal Prinz zu sein…
Dieser Traum steht also definitiv nicht ganz oben auf der Wunschliste von Max. Und doch muss er sich auf einmal ganz schnell damit befassen. Der Grund: Sein Onkel ist gestorben und hat ihm eine Millionen Euro hinterlassen – allerdings nur, wenn Max es schafft, Karnevalsprinz in Köln zu werden. Wer weiß, dass die Kölner ihren Karneval und damit auch ihren Prinzen sehr ernst nehmen, der weiß auch, dass dies geradezu ein hoffnungsloses Unterfangen ist – eigentlich. Max hat allerdings nicht mit seinen Freunden gerechnet, die, nicht ganz uneigennützig, alles daran setzen, dass Max die Million bekommt. Als Max auf einer Karnevalsveranstaltung das Funkenmariechen Anne kennenlernt, findet er die Vorstellung auf einmal auch gar nicht mehr so schrecklich. Schließlich gibt sich Anne nur jemandem hin, der dem Karneval ebenfalls verfallen ist.

Zu sehr konstruiert
Es könnte also eine ganz witzige Geschichte sein, genau passend als Lektüre auf dem Weg zur nächsten Karnevalsparty – wenn, ja wenn Lutz Schebesta am Schluss nicht allzu sehr in die Trickkiste griffe, um die Geschichte zum Ende zu bringen. Schließlich soll es ja eine happy ending story sein. Gut, dagegen habe ich grundsätzlich nichts. Dass sich der Vater des Funkenmariechens Anne dann als Vorsitzender des Karnevalsvereins entpuppt und im Vorstand den Weg frei macht für einen „Prinz Max“, das ist mir doch ein bisschen zu dick aufgetragen. So wirkt der Schluss des Buches sehr konstruiert und der Text endet mit einer leisen Enttäuschung bei mir als Leserin. Ich hatte mir mehr von diesem Thema versprochen.

Eingeschränkt empfehlenswert
Für Karnevalsjecken ist das Buch, trotz seines kostruierten Schlusses, eine gute Lektüre zur Einstimmung auf die kommende Session. Mit rund 200 Seiten ist es zudem nicht zu dick und lässt sich leicht lesen. So manche Situation im Buch hat mich zum Schmunzeln und zu heftigem Kopfnicken gereizt. Für Karnevalsignoranten ist das Buch nicht zu empfehlen. Die sollten – gerade in den tollen Tagen – zu einer anderen Lektüre greifen.

Lutz Schebesta, Pappnase
CreateSpace Independent Publishing Platform, 2015
Link zum Autor: http://www.lutzschebesta.de/
Autorin: Yvonne Giebels

Rezension: Carlos Maria Dominguez, Das Papierhaus

Der Autor wurde 1955 in Buenos Aires geboren und gilt als einer der schillerndsten Autoren Lateinamerikas. Dominguez lebt in Montevideo, wo er als Journalist, Kritiker und Schriftsteller arbeitet.

Quelle: www.suhrkamp.de
Quelle: www.suhrkamp.de

Inhalt
Beim Überqueren einer Straße ist die junge Literaturdozentin Bluma Lennon in einen Gedichtband von Emily Dickinson vertieft. Sie wird von einem Auto erfasst und ist sofort tot. Ein junger Kollege, der Ich-Erzähler der Geschichte, mit dem die Tote eine kurze Liaison hatte, erhält ein zementverschmiertes Buch, das eigentlich an Bluma adressiert war. Es ist „Schattenlinie “ von Joseph Conrad. Der Ich-Erzähler, ebenso ein bibliophiler Sammler wie andere Personen in der Geschichte, versucht nun, dem Geheimnis dieses Buches auf den Grund zu gehen.

Sprache und Stil
Wie man bei einer Erzählung dieses Themas erwartet, beherrscht der Autor eine artifizielle, mit Anspielungen und Zitaten durchsetzte Sprache. Teilweise hat die Erwähnung der verschiedenen Dichter und deren Werken etwas von Namedropping. Hieraus wird wohl nur der fachspezifisch studierte und in der Literatur aller Länder beheimatete Leser einen Lustgewinn ziehen.

Mein Eindruck
Es war teilweise lehrreich und stellenweise auch amüsant, vom unterschiedlichen Umgang der Buchliebhaber-Typen mit Büchern zu lesen. So lässt der Autor zum Beispiel Brauer, die Hauptfigur der Erzählung, als Begründung für seine Angewohnheit, Notizen im Buch anzubringen, sagen: „Ich vögele mit jedem Buch, keine Markierung bedeutet für mich kein Orgasmus“ (S. 41). An anderer Stelle macht Dominguez klar, wozu Bücher für ihn dienen: „Denn Papier war und blieb… ein organischer Abfall, der am Ende mit einem leisen, vernichtenden Krachen wie die Kiefern an der Straße vom Schlund des großen Meeres verschluckt wurde.“

Fazit
Ein Buch, bei dessen Lektüre sich mir der Verdacht aufdrängte, dass es in erster Linie dazu dienen soll, dem Leser die Gelehrtheit des Autors vor Augen zu führen. Denn außer der – zugegeben originellen – Tatsache, dass ein verrückt gewordener Büchernarr ein Haus statt aus Ziegeln aus Büchern bauen lässt und einiger Anekdoten über den verheerenden Einfluss von Büchern vermochte mir die Erzählung keinen Zugewinn zu verschaffen. Das Büchlein liest sich schnell und flüssig, doch am Ende bleibt eine unterschwellige Unzufriedenheit. Deshalb von mir nur eine bedingte Leseempfehlung. Die gilt insbesondere für Menschen, die sich sehr gut mit der Weltliteratur auskennen.

Carlos Maria Dominguez, Das Papierhaus
Insel Verlag, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Das-Papierhaus-9783458176152
Autorin: Cornelia Lotter
www.autorin-cornelia-lotter.de

Rezension: Andreas Hock, Bin ich denn der Einzigste hier wo Deutsch kann?

Ist es eine kurze Geschichte der deutschen Sprache? Ist es eine Abhandlung, warum die Sprache im Wandel ist oder zwangsläufig sein muss, um den Anschluss an die Moderne nicht zu verlieren? Oder ist es eine Generalabrechnung mit dem Deutschunterricht, der Schülern mit Tonnen von Arbeitsblättern die Lust und Leidenschaft für ihre Muttersprache nimmt, bevor sie diese überhaupt entwickeln können? Bei „Bin ich denn der Einzigste hier, wo Deutsch kann“ handelt es sich wohl um eine Art Experiment, eine gelungene Mischung aus allem.

Quelle: www.m-vg.de
Quelle: www.m-vg.de

Darum geht es in „Bin ich denn der Einzige hier, wo deutsch kann?“
Der Autor erteilt allen Kulturpessimisten, die den Niedergang der Sprache und den damit einher gehenden Untergang des Abendlandes vermutlich schon seit den Zeiten der Weimarer Klassik beklagen, eine klare Absage. Er schildert in 40 anschaulichen Kapiteln die Entwicklung der Sprache von der fruchtbringenden Gesellschaft bis in die jüngste Vergangenheit. Dabei konzentriert er sich im Wesentlichen auf zwei Aspekte, nämlich die Versuche, die deutsche Sprache in ein Regelwerk zu bringen und die Einflüsse aus anderen Sprachen. Handelte es sich dabei bis ins ausgehende 19. Jahrhundert hinein um das Französische, beeinflussten im 20. Jahrhundert Englisch, in späteren Jahrzehnten auch Russisch und Türkisch die deutsche Sprache.

Dem Leser wird schnell klar: Der gelernte Journalist, Autor und Ghostwriter Andreas Hock beschäftigt sich tiefgreifend mit Sprache und schöpft aus fundiertem Hintergrundwissen. Selbiges präsentiert er in einem locker-flockigen, mit einem humoristischen Unterton versehenen Plauderton, gespickt mit bitterbösen Pointen. Dabei braucht der einstige Parteisprecher und Chefredakteur in seinen besten Passagen den Vergleich mit den Größen des bitterbösen Humors gewiss nicht zu scheuen. Nicht umsonst steuerte der Literaturpapst Hellmuth Karasek ein begeistertes Vorwort bei. Abgerundet wird „Bin ich denn der Einzigste hier, der wo Deutsch kann“ von einer Liste an nicht mehr verwendeten Worten und schlägt vor, wie sie sich in die aktuelle Jugendsprache einfügen ließen.

Was schade ist
Andreas Hock gelingt es, eine kurze und knackige Geschichte der deutschen Sprache witzig zu erzählen. Er streut reichlich Kritik an linguistischen Lachnummern wie dem Bahn-Sprech, dem Kevinismus, dem Abkürzungswahnsinn oder der Rechtschreibreform, die nach seiner Meinung eher für eine babylonische Verwirrung als für mehr Klarheit gesorgt hat. Auch der herkömmliche Deutschunterricht, der für viele Schüler mit zu den langweiligsten Fächern überhaupt gehört, kommt nicht ungeschoren davon. Was mir fehlt: Ein ausführliches Gedankenspiel des Autors, wie er denn den Unterricht aufbauen würde, um die Schüler mit seiner offensichtlichen Leidenschaft für die Sprache anzustecken, würde das Buch gelungen abrunden. Zumindest lässt Hock entsprechende Ideen ansatzweise durchblicken. Statt Klassikern wie „Iphigenie auf Tauris“ würde er beispielsweise lieber Karl May oder Disney-Comics in den Übersetzungen von Erika Fuchs in den Lehrplan integrieren. Gute Idee!

Mein Fazit
„Bin ich denn der Einzigste hier, wo Deutsch kann“ ist ein rundum gelungener Streifzug durch die deutsche Sprache und regt zum Nachdenken über den eigenen – oft allzu flapsigen – Umgang mit Sprache an. Wer bissigen Humor mit Niveau mag, wird an dem Buch seinen Spaß haben.

Andreas Hock, Bin ich denn der Einzigste hier wo Deutsch kann
Riva Verlag, 2014
Link zum Autor: http://www.andreas-hock.de/neues.html
Online hier bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Bin-ich-denn-der-Einzigste-hier-wo-Deuts-9783868834437
Autor: Harry Pfliegl

Rezension: Simone Lappert, Wurfschatten

„Wurfschatten“ ist der Erstlingsroman der Schweizerin Simone Lappert, in dem die Heldin Adamine, die verständlicherweise lieber Ada genannt werden will, mit ihren Ängsten kämpft. Dabei beobachtet sie die Wurfschatten der Passanten, die unter dem Fenster ihrer Wohnung vorbei ziehen.

Quelle: www.metrolit.de
Quelle: www.metrolit.de

Die Angst vor der Angst
Wovor die 25-jährige Ada wirklich Angst hat, findet der Leser nicht heraus. Zwar gibt es in ihrer Wohnung eine Angst-Tapete im von ihr so genannten Therapiezimmer, auf der alle Dinge von A wie Attentat bis Z wie Zyste abgebildet sind, und doch, die eigentlichen Angstauslöser sind nicht dabei. Vielmehr bekommt man als Leser den Eindruck, es ist Adas Angst vor der Angst, die sie lähmt. Vielleicht ist es aber auch nur eine bequeme Ausrede, die Ada benutzt, um von ihren eigenen Unzulänglichkeiten abzulenken. Ada hat sich dafür nur leider die falsche Generalentschuldigung ausgesucht, in die sie sich hineinsteigert – diese macht sich nämlich selbstständig, und überfällt Ada immer dann, wenn sie es am wenigsten gebrauchen kann. Mit feiner Sprache zeichnet Simone Lappert Adas Angstanfälle, die selten echte Panikattacken sind, und sie doch am Leben hindern. Dabei gibt die Autorin den Situationen meist noch einen komischen Anstrich, der verhindert, dass ihre Hauptfigur mitleidheischend und überdreht wirkt.

Meistens kommt es anders
Frischer Wind kommt in Adas Leben, als ihr Vermieter, dem sie mehrere Monatsmieten schuldet, sie aus Mitgefühl nicht auf die Straße setzt, sondern stattdessen seinen Enkel Juri bei ihr einquartiert. Obwohl Ada dies nie zugeben würde, tut ihr der andere Mensch in der Wohnung gut. Sie stellt ihre Ängste zurück und konzentriert sich nun darauf, den Mitbewohner hinauszuekeln. Daraus entwickelt sich eine Freundschaft, und es droht sich sogar eine zaghafte Liebesgeschichte anzubahnen. Droht, weil Ada das um jeden Preis verhindern will, denn sie findet, Liebe ist nur dazu da, um in Schmerz zu enden und damit ein Grund, Angst zu haben. Dennoch, durch Juri kommt Ada zu einer veränderten Sicht der Welt, die Ängste werden immer häufiger zurückgedrängt und es zeigt sich ein Ausweg aus ihrer lähmenden Situation.

Mein Fazit
Ein bisschen Ada steckt irgendwo in jedem von uns. Jeder steckt einmal in einer vermeintlichen Sackgasse. Die Beschreibung der Angstanfälle lässt Spielraum für Phantasie und wirkt bisweilen komisch, ist allerdings nicht so gestaltet, dass sich Menschen mit Panikattacken ins Lächerliche gezogen fühlen. Beim Lesen fällt Mitgefühl mit Ada leicht und gleichzeitig möchte ich ihr gerne einen Schubs geben: Na los, Mädchen, ändere doch endlich etwas! Teilweise beschleicht mich der Eindruck, dass sich Ada sogar gefällt in ihrem Leben, dass sie gar nichts ändern will, und dass sie nur der Druck von außen dazu zwingt – noch etwas, das sie mit fast allen Menschen gemein hat.

Mit „Wurfschatten“ ist es Simone Lappert gelungen, ein tragikomisches Bild zu zeichnen, dessen Lektüre für all jene zu empfehlen ist, die sich selbst nicht immer ganz ernst nehmen und mit Humor auf jene Schwellen im Leben zurückblicken, an denen sie nicht mehr Kind, aber auch noch nicht erwachsen waren.

Simone Lappert, Wurfschatten
Metrolit Verlag, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Wurfschatten-9783849300951
Autor: Harry Pfliegl

Rezensionsreihe Israel zur Leipziger Buchmesse 2015, Teil 4: Crippa/Onnis, Wilhelm Brasse – Der Fotograf von Auschwitz

Die Ausleuchtung des Ateliers ist von besonderer Bedeutung, der Blick durchs Objektiv von Kennerschaft geprägt. Er ist ein Meister im Retuschieren, ein Fotograf mit Leib und Seele. Er ist der Fotograf von Auschwitz.

Quelle: www.randomhouse.de
Quelle: www.randomhouse.de

Wilhelm Brasse, der Häftling mit der Nummer 3444, der die auf Zelluloid gebannte Erinnerung an die Opfer und Peiniger, den demoralisierenden Lageralltag und die grauenvollen Experimente der Lagerärzte vor der Vernichtung bewahrte und somit ihr Vermächtnis bewahrte. Das vorliegende Buch aus der Feder der italienischen Journalisten und Historiker Luca Crippa und Maurizio Onnis erzählt seine Geschichte.

Und nicht nur dies. Über die biographische Dokumentation des Lebens von Wilhelm Brasse, der als deutsch-polnischer politischer Gefangener den Beginn und das Ende des Vernichtungslagers Auschwitz miterlebte, werden die Geschichten der über 50 000 von ihm porträtierten Mitgefangenen sichtbar. Teils hochemotional verdichtet in bedrückenden Einzelschicksalen, teils in der funktional-nüchternen Beschreibung des Funktionierens der Todesmaschine.

Nein, kalt lässt den Leser keine Seite dieses Buches. Und dies, obwohl die Verfasser die Hauptperson Wilhelm Brasse und die um ihn herum platzierten Akteure aus der Distanz der dritten Person zu Wort kommen lassen, mithin einen durch die Beobachtung des Geschehens und der Personen inszenierten Abstand wahren, der das Lesen erträglich macht. Dennoch – und dies ist das Verdienst der beiden Autoren – bleibt dieses Buch nicht unpersönlich. Im Gegenteil: Hier entwickelt die Erzählebene durch das Einbeziehen des lesenden Beobachters die notwendige persönliche Hinwendung zum Geschehen, ohne mit diesem zu überfordern. Das Verstehen des Unverständlichen stellt sich so nicht ein – wohl aber die wahrhaftige Anteilnahme an den vielen Genannten und Ungenannten und ihren Schicksalen.

Die Geschichte des Lagerfotografen Wilhelm Brasse ist ein in höchstem Maße angemessener Blickwinkel, um von Auschwitz zu erzählen. Ein Buch, das selbst im allzu Hoffnungslosen immer wieder Hoffnung aufscheinen lässt. Ein großartiges Werk von der Würde des Menschen inmitten der von ihm errichteten Hölle auf Erden. Verstörend und erhellend zugleich.

Crippa/Onnis, Wilhelm Brasse – Der Fotograf von Auschwitz
Karl Blessing Verlag, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Wilhelm-Brasse-der-Fotograf-von-Auschwit-9783896675316
Autor: Dr. Thomas Feist

Rezensent Dr. Thomas Feist, Jahrgang 1965, studierte Musikwissenschaft, Theologie und Soziologie an der Uni Leipzig und promovierte 2005 zum Dr.phil. mit einer Arbeit über „Musik als Kulturfaktor“. In der 18. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages vertritt er Leipzig als direkt gewählter Bundestagsabgeordneter der CDU im Wahlkreis 153 Leipzig II (Stadtbezirke Mitte, Süd, Südost, Südwest und West). Dr. Thomas Feist ist Mitglied der Deutsch-Israelischen Parlamentariergruppe und seit 2010 Vorsitzender der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Leipzig.

Rezension: Denker. Henker. Helfer. Jünger. Die Philosophen und der Nationalsozialismus | Sonderausgabe 03 des „Philosophie Magazin“

Dass die Bandbreite an philosophischen Fachzeitschriften eine große ist, dürfte nicht wirklich überraschen. Schließlich soll es ja ziemlich exakt so viele Philosophien wie Philosophen unter der Sonne geben. Entsprechend „exklusiv“ beziffert sich dann auch die Auflage der meisten dieser Organe. Anders, nämlich eher überschaubar, zeigt sich das Angebot für populärphilosophische Magazine. Einer der Platzhirsche auf diesem Markt ist der französische Verleger Fabrice Gerschel. 2006 gründete er in Paris das heute vor allem in Frankreich sehr erfolgreiche Philosophie Magazin – die Idee dazu kam ihm übrigens am „sonnigen Strand auf Korsika“. Seit 2011 scheint und erscheint dieser Lichtblick für Weisheitsfreunde auch sechs Mal pro Jahr auf Deutsch: unter der Ägide von Chefredakteur Wolfram Eilenberger im Berliner Philomagazin Verlag und mit einer Auflage von rund 100.000 Exemplaren pro Heft. Zudem erscheinen regelmäßig Sonderausgaben zu speziellen Themen. Die seit Januar 2015, und damit synchron zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, erhältliche Nummer 3 dieser Sonderhefte widmet sich dem Thema „Die Philosophen und der Nationalsozialismus“.

pmdesa3nazis2coverChefredakteurin dieser Extra-Edition ist die Berliner Autorin, Journalistin und Philosophin Catherine Newmark. Sie bzw. ihr Team hat bei diesem Themenkreis nicht zuletzt auch formal eine Zäsur zu den laufenden Ausgaben des „Philomag“ gesetzt. Statt „bunt und angenehm locker gestaltet“ die „Philosophie in unseren Alltag“ zu bringen (so der Anspruch des Verlags), herrscht hier nun schwarz-weiß Ästhetik vor – und ein an den Konstruktivismus erinnernder Einsatz von zumeist roten „Störern“. Das Farbklima der Nazis selbst bildet somit quasi das optische Grundrauschen des ganzen Hefts.

Entscheidend freilich sind die Inhalte. Diese spannen über knapp 100 Seiten den ganz großen Bogen: von den philosophischen Ursprüngen der Grundbegriffe des nationalsozialistischen Denkens (z.B. der gründlich missverstandene Ausdruck „Arier“ von Joseph Arthur de Gobineau aus der Mitte des 19. Jahrhunderts) über Betrachtungen zur „Idee der Volksgemeinschaft“ bis hin zu Fragen der Jüdischen Theologie nach der Shoah oder „Ausschwitz als Metapher der Moderne“. Selbstverständlich werden auch Nietzsche und ganz besonders Heidegger einer umfassenden Analyse unterzogen. Und weder Paul Celan, Hannah Arendt oder Adorno dürfen mit ihren oft zitierten Maximen und Werken fehlen (wie u.a. die „Todesfuge“ in voller Länge).

Erfährt man also wirklich Neues? Ja und nein… und vielleicht. Natürlich hängt die Höhe des Erkenntnisgewinns wie immer so auch hier vom Ausgangslevel des jeweiligen Lesers ab. Sehr gut recherchiert und aufbereitet sind eine ganze Reihe von historischen Quellen, wie etwa Karl Jaspers‘ Publikation zur „Schuldfrage“ oder die Rede von Thomas Mann „Deutsche Ansprache“ aus dem Jahr 1930. Und generell wird schnell klar, dass etwa Heidegger und Konsorten nur die Spitze eines Eisbergs an Wegbereitern oder -begleitern der Nazi-Ideologie waren. Viele Aspekte werden auch durch teils hochkarätige Interviews eingehend betrachtet. Unter anderem wäre hier das wirklich in die Tiefe gehende Gespräch mit Volker Gerhard (bis 2012 Mitglied des Deutschen Ethikrats) zum Thema „Der Wille zur Macht“ zu erwähnen. Vom Aufbau her naheliegend, aber letztlich eben auch sehr komfortabel fürs einordnende Verständnis: der Großteil aller Artikel und Dokumente ist in einen historisch-chronologischen Rapport eingebettet; mit den Kapiteln „Aufstieg der NSDAP“, „Machtergreifung“, „Kriegsjahre“ und – höchst interessant – „Unheimliche Kontinuität: NS-Philosophen in der BRD“. Es gab eben neben dem unsicheren Kantonisten und „antisemitischen Dauerläufer“ Heidegger auch nach dem Krieg weitere fragwürdige Sportsfreunde im Geiste – und in Amt und Würden. Etwa Hans-Georg Gadamer, Arnold Gehlen oder Hans Freyer, um nur einige zu nennen.

Fazit: Wer sich im Zusammenhang mit den anstehenden Gedenktagen die Frage stellt, ob und wie es sein kann, dass die „Liebe zur Weisheit“ auch zum Apologeten von Rassenwahn oder Kriegstreiberei werden kann, findet hier erste Antworten. Und eine Menge Tipps für weitere Nachforschungen in eigener Regie. Wer denkt, dass die Zeit der Nazis ein Zwischenspuk war und eigentlich „zum Vergessen“ ist, der kann nach der Lektüre dieses Sonderhefts zumindest für unsere Gegenwart eines gewinnen: nämlich den geschärften Blick auf die historische Kontinuität und den katastrophalen Impetus eines Denkens im radikalen Rahmen. Denn Intelligenz ohne Empathie war, ist und bleibt nun mal eine der verheerendsten Konstellationen, die das menschliche Gehirn zu bieten hat.

Rezension: Harald Wurst | ph1.de

Preis der Leipziger Buchmesse 2015: Das sind die Nominierten

Preis_Leipziger_Buchmesse.JPG.1129132Die Finalisten für den Preis der Leipziger Buchmesse stehen fest. Die Jury unter der Leitung von Hubert Winkels hat in den Kategorien Belletristik, Sachbuch/Essayistik und Übersetzung jeweils fünf Autoren bzw. Übersetzer nominiert. Insgesamt hatten sich 115 Verlage mit 405 Werken für den Preis beworben. Der Preis der Leipziger Buchmesse wird am Buchmesse-Donnerstag , 12. März 2015, um 16 Uhr in der Glashalle vergeben. Die Preisverleihung kann im Livestream unter www.preis-der-leipziger-buchmesse.de/stream verfolgt werden.

Erstmals begleiten ausgewählte Literatur- und Buchblogger den Preis der Leipziger Buchmesse und erstellen Rezensionen zu jeweils einem nominierten Werk. Diese werden schließlich ab 7. März auf der Webseite des Preises der Leipziger Buchmesse veröffentlicht und auf Facebook und Twitter geteilt.

Bereits im Vorfeld können Literaturfans in Leipzig die Nominierten erleben. Am 22. Februar und 1. März präsentieren sich jeweils zwei beziehungsweise drei nominierte Belletristik-Autoren im Rahmen des MDR FIGARO Radio-Cafés in der Moritzbastei.

Der mit insgesamt 60.000 Euro dotierte Preis der Leipziger Buchmesse wird seit 2005 vergeben und ehrt herausragende deutschsprachige Neuerscheinungen und Übersetzungen in den Kategorien Belletristik, Sachbuch/Essayistik und Übersetzung. Die siebenköpfige Jury setzt sich aus deutschen Journalisten und Literaturkritikern zusammen.

Wer die Stimmen der Jury anhören möchte – hier entlang: : https://www.youtube.com/playlist?list=PL52981C6AAB6A7809

Und das sind die Nominierten 2015:

Kategorie Belletristik:

  • Ursula Ackrill: „Zeiden, im Januar“ (Verlag Klaus Wagenbach)
  • Teresa Präauer: „Johnny und Jean“ (Wallstein Verlag)
  • Norbert Scheuer: „Die Sprache der Vögel“ (Verlag C.H. Beck)
  • Jan Wagner: „Regentonnenvariationen“ (Hanser Berlin)
  • Michael Wildenhain: „Das Lächeln der Alligatoren“ (Klett-Cotta Verlag)

Kategorie Sachbuch/Essayistik:

  • Philipp Felsch: „Der lange Sommer der Theorie.Geschichte einer Revolte 1960-1990“ (Verlag C.H. Beck)
  • Karl-Heinz Göttert: „Mythos Redemacht. Eine andere Geschichte der Rhetorik“ (S. Fischer Verlag)
  • Reiner Stach: „Kafka. Die frühen Jahre“ (S. Fischer Verlag)
  • Philipp Ther: „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa“ (Suhrkamp Verlag)
  • Joseph Vogl: „Der Souveränitätseffekt“ (diaphanes)

Kategorie Übersetzung:

  • Klaus Binder übersetzte aus dem Lateinischen: Lukrez, „Über die Natur der Dinge“ (Verlag Galiani Berlin)
  • Elisabeth Edl übersetzte aus dem Französischen: Patrick Modiano, „Gräser der Nacht“ (Carl Hanser Verlag)
  • Moshe Kahn übersetzte aus dem Italienischen: Stefano D´Arrigo, „Horcynus Orca“ (S. Fischer Verlag)
  • Mirjam Pressler übersetzte aus dem Hebräischen: Amos Oz, „Judas“ (Suhrkamp Verlag)
  • Thomas Steinfeld übersetzte aus dem Schwedischen: Selma Lagerlöf, „Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden“ (Die Andere Bibliothek)

Rezensionsreihe Israel zur Leipziger Buchmesse 2015, Teil 2: Liad Shoham, Stadt der Verlorenen

Flüchtlinge, korrupte Politiker, eine junge Kommissarin auf der Suche nach der Wahrheit: Der israelische Bestsellerautor Liad Shoham macht aus dieser beinahe ausgebrannten Konstellation einen packenden Thriller, der im Unterschied zu seinen skandinavischen Gattungsgenossen auch ohne Actionszenen und detailreiche Schilderungen von Grausamkeiten auskommt.

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Quelle: www.thalia.de

Zur Handlung

Michal Polag lebt in einem vornehmen Stadtteil Tel Avis und engagiert sich trotz Protest aus ihrer Familie in den ärmeren Vierteln für afrikanische Flüchtlinge. Als junge Idealistin, die sich ihrer privilegierten Herkunft beinahe schämt, sucht sie den offenen Konflikt mit jenen, die aus dem Leid der Flüchtlinge Kapital schlagen: sei es mit dem „Banker“, Kopf einer illegalen Organisation, oder dem rücksichtslosen Staatsanwalt Jariv Ninio. Der Leiter der Hilfsorganisation ASSAL, Itai Fischer, steht ihren häufigen Alleingängen kritisch gegenüber, obwohl er ihren Idealismus heimlich bewundert.

Eines Morgens wird Michal tot in ihrer Wohnung gefunden und der Polizei ist schnell klar: Es ist Mord. Der Fall wird der frischgebackenen Hauptkommissarin Anat Nachmias übertragen, die akribisch die Spuren auswertet, als der aus Eritrea geflohene Gabriel plötzlich die Tat gesteht. Doch Anat zweifelt. Wieso sollte gerade er, ein Schützling und Freund Michals, sie ermordet haben? Während der Rest ihrer Kollegen und die Staatsanwaltschaft den Fall schnell abschließen wollen, stößt Anat immer weiter in die Schattenwelt Tel Avivs vor, in der Kriminalität, Angst, Korruption und der Handel mit dem Elend der Menschen den Alltag der Flüchtigen bestimmen.

In den Straßen von Tel Aviv

Liad Shoham bedient sich in seinem Thriller verschiedener Erzählperspektiven. So berichten die Hauptcharaktere im Wechsel über das Geschehene, geben gegenseitig Wertungen über die anderen Akteure ab und stellen sich stetig der Frage, wem sie vertrauen können. Gleichzeitig greift der Autor das brisante wie aktuelle Thema der illegalen Einwanderer in Israel auf und beleuchtet es aus Sicht der Polizei, Justiz, der Hilfsorganisation und vor allem der Flüchtlinge selbst. Shoham führt den Leser als praktizierender Anwalt sicher durch die komplexe Rechtslage, der sich Gabriel durch sein Geständnis aussetzt. Er stellt die Ablehnung der konservativen Nachbarn Michals gegenüber den Einwanderern genauso offen dar, wie den Sexismus, dem die Kommissarin Nachmias in ihrem von Männern dominierten Berufszweig ausgesetzt ist. Die Handlung durchzieht Tel Aviv von den gepflegten Stadtteilen bis hin zum Flüchtlingsviertel am alten Bahnhof, schaut aber auch über den Rand und schildert anhand von Einzelschicksalen, unter welchen Umständen und Strapazen die Flüchtlinge in die zweitgrößte Stadt Israels kommen.

Mein Fazit

Mit einem zügigen Erzähltempo und einem vielschichtigen Ensemble an Charakteren schafft Liad Shoham einen packenden Kriminalroman, der die Flüchtlingsthematik nicht nur als Kulisse nutzt, sondern Missstände und Willkür anprangert. Einen Bonuspunkt von mir gibt es für die obligatorische Romanze, die sich zum Glück dezent im Hintergrund hält.

Liad Shoham, Stadt der Verlorenen
DuMont Buchverlag, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Stadt-der-Verlorenen-9783832162894
Autorin: Jasmin Beer

Rezension: Hannah Kent, Das Seelenhaus

Ausgerechnet eine Australierin will ein historisches Ereignis, das sich vor fast 200 Jahren in Island abgespielt hat, als Vorlage für ihre Geschichte verwenden  – die sie zudem aus verschiedenen Blickwinkeln erzählt. Dieses ambitionierte Vorhaben kann eigentlich nur scheitern, möchte man auf den ersten Blick meinen – zumal es sich bei „Das Seelenhaus“ um Hannah Kents Debütroman handelt. Doch diese Einschätzung ist weit gefehlt. Vielmehr präsentiert die Autorin ein einfühlsames Werk, das passagenweise so schwermütig wirkt, wie der isländische Winter.

Quelle: www.droemer-knaur.de
Quelle: www.droemer-knaur.de

Zwischen Fiktion und Realität

Hannah Kent hatte während eines Schüleraustausches in Island die Geschichte von Agnes Magnúsdóttir gehört, einem der beiden letzten Hinrichtungsopfer Islands. Sie war, ebenso wie einer der beiden Mittäter, hingerichtet worden, weil sie zwei Männer im Schlaf ermordet und anschließend verbrannt haben soll. Während Agnes und der männliche Mittäter zum Tode verurteilt wurden, kam die Dritte im Bunde – eine junge Magd – mit einer Haftstrafe davon. Weil Island in jenen Jahren Teil des Königreichs Dänemark war, mussten auf der Insel ausgesprochene Todesurteile erst vom König bestätigt werden.

Der zuständige Landrat ordnet an, dass Agnes zwischenzeitlich auf einem Bauernhof arbeiten muss. Den beiden Töchtern der Familie war sie in der Vergangenheit schon einmal auf dem Weg von einer Anstellung zur anderen begegnet und hatte den Kindern jeweils ein Ei geschenkt. Trotzdem begegnet man ihr zunächst mit großem Misstrauen, seitens einiger Nachbarinnen sogar mit offener Ablehnung.

Die unterschiedlichen Perspektiven

Die eigentlichen Ereignisse schildert Hannah Kent aus der Sicht des neutralen Beobachters. Dazwischen beleuchtet sie das Schicksal und die Vergangenheit der Magd Agnes aus der Ich-Perspektive und in erzählenden Monologen, in welchen sie einem Priester Einblick in ihr Seelenleben gibt. Dieser soll sie auf den Tod vorbereiten und ihr predigen, doch um einen Zugang zur zunächst verschlossenen Frau zu finden, entscheidet er sich dafür, ihr zunächst zuzuhören.

Hannah Kent zeichnet dabei das Bild einer hart arbeitenden Frau, die von Kindesbeinen an auf der Schattenseite des Lebens stand. Weil Agnes fleißig ist, alle aufgetragenen Arbeiten zuverlässig erledigt und hilft, wo sie nur kann, gewinnt sie schließlich die Zuneigung ihrer Gastfamilie. Pfarrer Tóti versucht sogar, sich beim Landrat für die Verurteilte einzusetzen. Doch dieser will ein Exempel statuieren und ist nicht bereit, Gnade walten zu lassen.

In den wenigen Wochen vor der Hinrichtung erlebt Agnes das, wonach sie sich ihr ganzes Leben gesehnt hat: Sie findet ihren Platz, wird fast zu einem Teil der Gastfamilie. Offen bleibt, ob die Hinrichtung nicht das gnädigere Schicksal für die freiheitsliebende Frau gewesen wäre. Die Begnadigte stirbt wenige Jahre später im Kerker.

Mein Fazit:

Bei der Beschreibung der Lebensverhältnisse in Island zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist die fehlende Verwurzelung der Autorin zu spüren. Die Schilderungen wirken teilweise zu flach. Dieser Aspekt wirkt sich jedoch nicht insgesamt negativ auf die Geschichte aus. Hannah Kent ist ein brillanter Einstieg in die Welt der Literatur gelungen.

Hannah Kent, Das Seelenhaus
Dromer HC, 2014
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Autor: Harry Pfliegl