Wie schon zur Frankfurter Buchmesse 2014 mit dem Partner Finnland, werde ich in diesem Jahr eine Rezensionsreihe zur Leipziger Buchmesse mit dem Partner Israel auflegen. Der Anfang ist gemacht mit einer Besprechung zu „Elsas Stern“. Ich bin sehr gespannt, welche Themen sich ergeben. Bisher finde ich nur drei Stichwörter: Holocaust, Kibbuz, Krimi.
Besonders freue ich mich über einen Gastrezensenten: Bernd Karwen, Mitarbeiter am Polnischen Institut Leipzig und ausgewiesener Kenner polnischer Gegenwartsliteratur, wird für diesen Blog den Roman „Die Pension“ von Piotr Paziński besprechen. Der Autor liest am 13. März um 20:00 Uhr im Polnischen Institut Leipzig aus seinem Debutwerk, für das er mehrfach ausgezeichnet wurde. Auch Dr. Thomas Feist, Vorsitzender der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Leipzig, hat eine Gastrezension zugesagt. Er wird seine Leseeindrücke von „Wilhelm Brasse, Der Fotograf von Auschwitz“ schildern. Danke!
„Handkantenschlag“ – das ist eine Schlagtechnik aus dem Kampfsport Karate. Nach dem Lehrbuch angewendet, setzt sie einen Gegner schnell und präzise außer Gefecht. Die dänische Autorin Dorthe Nors schreibt in ihrem neuesten Buch zwar nicht über Karatekämpfer, doch wer die Sammlung von 15 Kurzgeschichten liest, der merkt schnell, dass der Titel „Handkantenschlag“ punktgenau gewählt ist.
Ein harmloser Beginn
Was mich als Leserin der Geschichten erwartet, kann ich zunächst nicht ahnen, denn die Überschriften der Kurzgeschichten klingen recht harmlos. Von „Kennst du Corri?“ über „Das Entenküken“ und „Das Wattenmeer“ bis hin zum „Friseur gegenüber der Münzwäscherei“ erwarte ich als Leserin ein paar kurzweilige, vielleicht auch amüsante oder romantische Geschichten. Weit gefehlt. Wie ein Schlaglicht beleuchtet Dorthe Nors die momentane Situation ganz unterschiedlicher Menschen – und braucht dazu keinen langatmigen Szenenaufbau. Mit einigen präzise gesetzten Worten und Sätzen gelingt es Nors, mich als Leserin unmittelbar in die Szenerie zu versetzen, als würde ich direkt neben den handelnden Personen stehen. Was meist recht harmlos anfängt, bleibt nicht so. Mit ebenso präzise gesetzten Worten und Sätzen, eben mit einem echten „Handkantenschlag“, zerschlägt Nors die gerade aufgebaute Szenerie. Das Kartenhaus der Akteure, gebaut aus Selbstbetrug, Täuschung und Lügen, fällt in sich zusammen.
Deprimierend und zugleich hoffnungsfroh
Obwohl die Geschichten nahezu alle nach demselben Prinzip aufgebaut sind, hat es mich als Leserin immer wieder verblüfft, wie wenig ich auf den unausweichlichen „Handkantenschlag“ vorbereitet war. Bis auf wenige Ausnahmen hoffte ich trotz allem auf ein Happy End – was mir dann verwehrt blieb. Stattdessen ist das Ende nicht selten brutal und mit Gewalt verbunden. Das ist für mich als Leserin mitunter schwer zu verdauen. Doch obwohl die negativen Seiten der Menschen in den Kurzgeschichten überwiegen, gibt es auch hoffnungsfrohe Erzählungen. „Die große Tomate“ zum Beispiel, bei der ich ahne, dass die Geschichte nach der Geschichte im positiven Sinn weitergeht.
Fazit: Unbedingt empfehlenswert
Obwohl „Handkantenschlag“ mitunter ein etwas deprimierendes Buch ist, empfehle ich es zum Lesen. Warum? Weil mir bis jetzt selten ein Buch untergekommen ist, das die menschliche Natur in all ihren Facetten so genau und präzise beschreibt. Ich schlage allerdings vor, die Geschichten in kleinen Dosen zu lesen – jeden Tag ein Häppchen.
Bereits 1995 und 1996 publizierte Kenzaburō Ōe zwei Bücher mit Essays über das Leben seiner Familie, das durch die Behinderung seines ältesten Sohnes geprägt ist. Obwohl seitdem beinahe 20 Jahre vergangen sind, übermittelt die neue Zusammenstellung seiner Essays durch Nora Bierich eine Form des familiären Miteinanders und Zusammenhalts, die heute noch gültig ist.
Ein Nobelpreisträger und Vater
Ōe, geboren 1935 auf Shikoku/Japan, verfasste bereits während seines Studiums der Romanistik in Tokyo mehrere Theaterstücke und schrieb für die Fakultätszeitung, wofür er den Ichō-Namiki-Preis erhielt. Viele Auszeichnungen inklusive der Ehrung mit dem Nobelpreis für Literatur 1994 später kann er auf ein umfangreiches literarisches Werk zurückblicken, das vor allem durch ein privates Ereignis geprägt wird: Die Behinderung seines ältesten Sohnes Hikari. Waren seine Schriften zuvor eher politischen Themen gewidmet, bildet nun die Geschichte seines Sohnes sowohl die Grundlage für den autobiographischen Roman „Eine persönliche Erfahrung“ als auch für viele Figuren, die in seinem späteren Werken auftreten. Kenzaburō Ōe lebt heute mit seiner Familie in Tokyo.
Leben mit der Behinderung und der Kunst
Alles beginnt mit einer Geburtstagskarte von Hikari an seine Mutter. Sechsundzwanzig Jahre zuvor kam der älteste Sohn der Familie Ōe mit einer Schädeldeformation auf die Welt. Trotz einer lebensrettenden Operation leidet er unter häufigen epileptischen Anfällen, ist geistig zurückgeblieben. Das Familienleben verläuft nach dem Takt, den die Pflege des Sohnes vorgibt: Arztbesuche, Behindertenwerkstatt, Klavierunterricht, Medikamente. Hikari ist ein stiller junger Mann, der Musik liebt, sich in seiner Musik ausdrückt und trotz seiner Behinderung die Welt genau beobachtet. So drückt die Geburtstagskarte an seine Mutter aus, wie er den langsamen geistigen Verfall seiner Großmutter erlebt – und dies in nur wenigen Worten.
Im Schein dieser Anekdote beginnt Kenzaburō Ōe sein erstes Essay über den Wandel der Jahreszeiten des Lebens. Als Kind war Hikari noch im Vollbesitz seiner physischen Kräfte gewesen, konnte mit seinen Geschwistern herumtoben, bevor er immer mehr von seiner Behinderung eingeholt wurde. Auch Ōe und seine Frau sind sich ihres stetigen Alterns gewiss. Woher schöpfen Menschen im Angesicht von Krankheit und Alter ihren Trost? Hikari bezieht Stärkung aus seiner Liebe zur klassischen Musik und drückt auch seine Gefühle durch Musik aus – ebenso wie sein Vater in seinen Romanen, seine Mutter in ihren Bildern.
Die Krankheit als Essay
Im Mittelpunkt der insgesamt 19 Essays stehen daher vor allem die Ereignisse, in denen sich der Sohn musikalisch verwirklichen kann: In denen er sowohl seine „heulende Seele“ als auch seine Empfindungen zu wichtigen Ereignissen in seinem Leben preisgibt. Genauso werden die Schwierigkeiten des Alltags, Streitereien und unangenehme Situationen geschildert. In einer Mischung aus philosophischem Diskurs und Tagebucheinträgen beschreibt Ōe seinen inneren Konflikt über den Umgang mit der Behinderung seines Sohnes, ohne die Schattenseiten zu kaschieren. Offen schreibt er über sein Zögern, dem lebenswichtigen Eingriff an seinem Sohn kurz nach dessen Geburt zuzustimmen oder die Wut, die ihn angesichts der Hilfsbedürftigkeit seines Sohnes überkommt. Er scheut sich auch nicht, die Kritik anzusprechen, die der Familie entgegenschlägt, als Hikari erste Erfolge als Komponist verzeichnen kann.
In einer ruhigen und gleichzeitig bildhaften Sprache werden die Beziehungen zur Mutter, den Geschwistern und auch den Freunden der Familie vor dem Leser ausgebreitet, wenngleich es nur episodenhafte Einblicke sind.
Mein Fazit
„Licht scheint auf mein Dach“ ist weder eine Biografie noch eine Familiengeschichte, sondern eine Sammlung von Anekdoten und Reflektionen über das Zusammenleben eines Vaters mit seinem behinderten Sohn. Zu Beginn mag man sich an der leicht distanzierten Erzählweise stören, aber gerade das bietet Raum zum Nachdenken, wie man selbst in dieser oder jener Situation reagiert hätte. Die Offenheit Kenzaburō Ōe ist mehr als beeindruckend, frei von Rührseligkeit und Drama. Es ist kein Buch, das man schnell nebenbei lesen kann, und es mag von Vorteil sein, bereits einen Roman des Schriftstellers zu kennen. Am Ende ist Ōe (wieder einmal) ein einfühlsames und nachdenkliches Buch gelungen, dessen neue Übersetzung seiner Sprache gerecht wird und durch die Untermalung mit Yukari Ōes Zeichnungen einen wunderbar persönlichen Eindruck in die Gefühlswelt seiner Familie gibt.
Dass wahre Geschichten mit einem realen Hintergrund nicht schwermütig oder mit tragischem Unterton erzählt werden müssen, beweist Alexandra Friedmann mit ihrem Erstlingswerk „Besserland“. Sie erzählt die Geschichte ihrer Familie, die eigentlich aus der Sowjetunion in die USA auswandern wollte, letztlich aber in Krefeld strandete. Obwohl aufgrund der Ereignisse wie dem Reaktorunglück von Tschernobyl durchaus tragische Elemente mitschwingen, schafft Alexandra Friedmann ein witzig und temporeich erzähltes Stück Zeitgeschichte.
Auf der Suche nach Freiheit
Eigentlich haben sich Lena und Edik, die Eltern der kleinen Sanja, ganz gut mit dem System in der Sowjetunion arrangiert: Lena ist eine ehrgeizige Bauzeichnerin, die mehr Zeit an ihrer Arbeitsstelle verbringt als zu Hause. Edik leitet einige Mitarbeiter in der Baubehörde der weißrussischen Stadt Gomel. Er arbeitet jedoch nur das nötigste, verbringt lieber Zeit mit seinem Kind oder spielt mit Freunden Karten und vergisst selbstverständlich nicht, sich mit Gefälligkeiten und Zuwendungen ein Netzwerk an Kontaktleuten aufzubauen.
Als Michail Gorbatschow die Perestroika ausruft, um Staat und Gesellschaft zu erneuern, gehören die Friedmanns zunächst zu den Profiteuren dieser neuen Zeit: Edik gründet eine Kooperative und schafft einen bescheidenen Wohlstand für seine Familie. Doch das Glück währt nur kurz: Die gewonnenen Freiheiten werden wieder eingeschränkt, während zugleich die Repressionen gegen Juden zunehmen. Die schwarzen Niederschläge, die nach dem Reaktorunglück auch in Gomel vom Himmel fallen, fasst die Familie als schlechtes Omen für die Zukunft auf.
Die Reise nach Besserland
Nachdem die Ausreise für sowjetische Juden, die eine Einladung von Verwandten aus den USA oder Israel besitzen, erleichtert wurde, setzt Edik Friedmann alle Hebel in Bewegung, um an die begehrten Papiere, nämlich ein Visum und ein Zugticket nach Wien zu bekommen. Die Familie kann schließlich über Warschau nach Wien ausreisen, muss jedoch entgegen der Versprechen eines Kontaktmannes den Großteil ihres Besitzes zurücklassen. In Wien findet die Familie Unterschlupf bei Jossik, der ihnen statt der Ausreise in die USA einen Asylantrag in Deutschland schmackhaft macht. Die Friedmanns müssen erneut eine abenteuerliche Reise unternehmen, um die Grenze zu passieren, können erfolgreich Asyl beantragen und bauen schließlich in Krefeld eine Zukunft auf.
Nichts ist skurriler als die Realität
Alexandra Friedmann erzählt die Geschichte aus der Perspektive der kleinen Saskja, ohne die hintergründigen Ereignisse in irgendeiner Form zu werten. Sie erzählt eher als neutraler Beobachter und entwickelt Setting sowie Charaktere durch die detaillierte Schilderung von Anekdoten. Diese wirken teilweise so skurril, dass sie sich einfach so zugetragen haben müssen. Ein Beispiel: Ediks Kontaktmann zum Zoll taucht an der russischen Grenze mit eingegipsten Armen und zerschlagenem Gesicht auf und erklärt, dass seine Kontaktleute dummerweise gerade nicht Dienst hätten und die Friedmanns deshalb nichts durch den Zoll schmuggeln könnten.
Die Charaktere bis hin zu den Nebenfiguren skizziert Alexandra Friedmann liebevoll mit all ihren Stärken und Schwächen. Dadurch wirken sie so authentisch, dass unweigerlich Bilder der gerade handelnden Personen im Kopf haben – Kopfkino der Zeitgeschichte.
Mein Fazit
Mit „Besserland“ ist Alexandra Friedmann ein überzeugendes Debüt gelungen. Insgesamt wirkt die erste Hälfte des Romans stärker als der Schluss, der sich fast zwangsläufig zu einem Happy End entwickelt. Die skurrilen Situationen aus dem ganz alltäglichen Wahnsinn in der Sowjetunion, die phasenweise fast an „Per Anhalter durch die Galaxis“ erinnern, treten in der zweiten Romanhälfte fast komplett in den Hintergrund. Hier hätte die Autorin einige Stellen, etwa den ersten Einkauf des Vaters in einem großen Supermarkt, für den er eine Autobahn überquert, durchaus weiter ausbauen können. Davon unbenommen hat Alexandra Friedmann mit „Besserland“ etwas geschafft, woran schon so mancher etablierte Autorenkollege gescheitert ist: Eine kurzweilige Geschichte aus der Sicht des „kleinen Mannes“ vor dem Hintergrund einer der größten weltpolitischen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts zu erzählen.
Auschwitz, Holocaust, bestialischer Völkermord, traumatisierte Überlebende und selbstvergessene Verbrecher, die sich in einem neuen Leben einzurichten versuchen… das ist alles in allem extrem harter Stoff. Wer sich diesem Thema als Autor stellt, verdient zunächst einmal großen Respekt, denn die Fallhöhe kann hier sehr hoch sein. Die gebürtige Polin Agnes Christofferson hat sich der Herausforderung gestellt. Und – abgesehen von wenigen Abstrichen – legt die Autorin mit ihrem Roman „Elsas Stern“ eine beeindruckende Geschichte vor: über miteinander verwobene Schicksale und die grenzenlose Grausamkeit, zu der Menschen fähig sind.
Die Handlung beginnt 1979 in New York. Elsa, Jüdin und Auschwitz-Überlebende, trifft sich mit ihrer Tochter Leni in einem italienischen Restaurant. Als ein älterer Mann die Gaststätte betritt, bricht Elsa offensichtlich geschockt zusammen. Im Krankenhaus kümmern sich Elsas Töchter Leni und Salome besorgt um ihre Mutter – diese benimmt sich allerdings zusehends immer seltsamer. Schließlich übergibt Salome das alte Tagebuch von Elsa an Leni. Und damit startet der zentrale Plot des Romans. Sie erfährt aus den Aufzeichnungen der Mutter nicht nur, wie ihre ganze Familie von den Nazis fast ausgelöscht wurde und dass Elsa in Auschwitz als Opfer brutalster Menschenexperimente leiden musste – auch ihre Schwester Salome ist nicht wirklich mit ihr verwandt… und es gibt einen skrupellosen Arzt namens Erich Hauser, der mit dem Schicksal ihrer Mutter auf verschiedenste Weise verknüpft ist.
Klar, der unbekannte Mann in der Pizzeria ist natürlich dieser grausame KZ-Arzt. Und die, übrigens recht knappe und literarisch wie dramaturgisch eher mittelmäßige, Rahmenhandlung, dreht sich um die Enttarnung des Mannes, der im New York der späten 1970er Jahre als Kinderarzt Peter Miller praktiziert. Zu großer Form läuft der Roman bei den Tagebuch-Sequenzen aus der Perspektive von Elsa auf. Dieser Strang macht rund 80 Prozent des Buches aus. Und keine Seite davon ist zu viel. Von der ersten Begegnung und sogar einem Flirt Elsas mit dem jungen „Erik“ Hauser in der Obhut eines versteckten Landsitzes bis zu den fürchterlichsten Beschreibungen des KZ-Alltags und schmerzhaft detaillierten Schilderungen medizinischer „Experimente“ des perversen Arztes in Auschwitz schont die Sprache dieses Buches den Leser nicht. Die realistische Härte der Prosa ist schlichtweg gewaltig. Und die Ambivalenz der Charaktere , ob SS-Männer, Kapos oder KZ-Insassen, gnadenlos in der Schilderung.
Autorin Agnes Christofferson, geboren 1976 in Polen und seit ihrem 12. Lebensjahr in Deutschland lebend, hat mit „Elsas Stern“ ein tatsächlich ergreifendes Buch geschrieben. Die Geschichte ist rein fiktiv – die Szenerie nicht. Und wer glaubt, zum Holocaust sei eigentlich alles schon gesagt, kann sich hier beim Lesen getrost selber fragen: Ist so ein Verbrechen je vergessen – oder heute wieder möglich? In diesem Buch findet der Leser die Antwort zwar nicht, aber es wird nach der Lektüre womöglich schwer sein, nicht danach zu suchen.
Dass es keiner reißerischen Sprache oder actiongeladener Szenen bedarf, um eine Geschichte fesselnd zu erzählen, beweist der Schauspieler und Dramaturg Hanns Zischler mit seinem belletristischen Debüt „Das Mädchen mit den Orangenpapieren“. Er lässt die eigentliche Aussage des Romans zwischen den Zeilen durchschimmern, während die Geschichte vor sich hinplätschert.
Die Geschichte
Hanns Zischler erzählt die Geschichte des Mädchens Elsa, das in den 1950er Jahren nach dem Tod der Mutter mit ihrem Vater ins bayerische Chiemgau zieht. Dort wird sie wegen ihres fremd klingenden Dialekts zwar nicht verspottet, jedoch belächelt. Obwohl sie eine Fremde bleibt, gelingt es ihr, Freundschaften zu schließen. Beispielsweise mit ihrem Mitschüler Pauli, mit dem sie auch ihre ersten sexuellen Erfahrungen macht, mit dem Lehrer Kapuste, der seinen Schülern Rätsel als Hausaufgabe aufgibt und mit der Obsthändlerin, die für Elsa die Papiere mit exotischen Motiven aufbewahrt, in denen die Orangen eingepackt sind. Das ändert sich erst, als mit Saskia eine neue Schülerin, die aus England stammt, in Elsas Klasse kommt. Elsa freundet sich mit ihr an und bleibt auch in Kontakt, als Saskia mit ihren Eltern nach England zurückkehrt.
Die Thematik des Romans
Einsamkeit und Sehnsucht sind die eigentlichen Themen des Romans, die aber eher hinter dem Lebensausschnitt, den Hanns Zischler erzählt, verborgen sind und nur durchschimmern. Elsa hat sich mit der Situation arrangiert. Und obwohl sie ihre Mutter sehr vermisst, trauert sie der Vergangenheit nicht so sehr nach, dass sie die Realität aus dem Blick verlieren würde. Die Orangenpapiere, in denen sie regelmäßig blättert, stehen hingegen für die Sehnsucht nach Ferne und nach einer positiven Zukunft.
Dass Hanns Zischler publizistische Erfahrung als Essayist und Übersetzer mitbringt, ist dem Roman deutlich anzumerken. Der Autor bleibt seinem Stil treu und lässt auch spektakuläre Ereignisse wie einen Schädelbruch oder eine Ballonfahrt eher beiläufig in die Geschichte einfließen. Dadurch wird „Das Mädchen mit den Orangenpapieren“ zu einem zeitlosen Werk, das Erfahrungen und Episoden im Leben eines Menschen schildert, der sich in der Fremde einzufügen versucht.
Mehr Lokalkolorit und Charaktere wären wünschenswert
Diese Allgemeingültigkeit kann aber zugleich auch als große Schwäche des Romans gesehen werden. Hanns Zischler beschreibt den Ort, in dem Elsa lebt, zwar nicht genau, aber doch gut genug, um den Leser den Chiemgau erahnen zu lassen. Diese Region war in den 1950er Jahren noch stark landwirtschaftlich geprägt, der Unterschied zwischen Alteingesessenen und Zugezogenen ist hier bis heute spürbar. Die Bemühungen Elsas, Saskias und deren Eltern, sich in die Gemeinschaft zu integrieren, hätten anhand einiger typischer Szenen noch deutlicher herausgearbeitet werden können. Dass sich dies ohne klischeehafte Bayerntümelei umsetzen lässt, haben etwa Helmut Dietl in seinen „Münchner Geschichten“ oder der Regisseur Franz Xaver Bogner mit „Irgendwie und Sowieso“ bewiesen.
Was gravierender – und auch Lesern außerhalb Bayerns – auffällt: Die handelnden Personen wirken etwas flach. Wirklich in Erinnerung bleibt allenfalls Lehrer Kapuste wegen seiner Rätselmacke, alle anderen bleiben dem Leser nach der letzten Seite nicht in Erinnerung.
Mein Fazit
Hanns Zischler ist ein sehr solider Erstling gelungen, der mit seinen feinen Nuancen in der Erzählstruktur besticht. Für Leser, die gerne zwischen den Zeilen lesen, ist „Das Mädchen mit den Orangenpapieren“ in jedem Fall empfehlenswert.
Buchblogger wissen es längst: Auf der Frankfurter Buchmesse werden Blogger und Journalisten gleichberechtigt behandelt. Sie können sich unkompliziert online akkreditieren und das Ticket nach Prüfung durch das Social Media Team und Freischaltung online abrufen. Akkreditierte Blogger erhalten Zugang zum Pressebereich und können dort ungestört arbeiten. Gut, wenn der Social Media Manager der Buchmesse selbst engagierter Blogger ist und twittert.
Auch die interne Organisation der Frankfurter Buchmesse begünstigt Blogger: Der Social Media Bereich ist in die Kommunikationsabteilung integriert, das Blog der Frankfurter Buchmesse wird kontinuierlich auch außerhalb der Messetage gepflegt. Engagiere Blogger wissen das zu schätzen. So trafen sich 2014 während der Buchmesse unter anderem die Iron Buchblogger sowie Leser und Blogger von LovelyBooks.
Jetzt zieht die Leipziger Buchmesse mit dem Format buchmesse:blogger nach. Erstmals sind Blogger aufgerufen, den Preis der Leipziger Buchmesse zu begleiten. Ausgewählte Literatur- und Buchblogger erhalten die Chance, ein nominiertes Werk vor Preisvergabe zu rezensieren und die Rezension auf ihrem Blog zu veröffentlichen. Blogger können sich zwischen dem 13. Januar und dem 9. Februar bewerben.
Eine fünfköpfige Fachjury wählt 15 Blogger aus und teilt die nominierten Werke zu. Die Rezension muss bis zum 7. März erfolgen und wird auf der Webseite des Preises der Leipziger Buchmesse sowie auf Facebook und Twitter veröffentlicht. Neben dem persönlichen Rezensionsexemplar und einem Tagesticket für die Leipziger Buchmesse erhalten die Bloggerpaten unter anderem die Möglichkeit auf die begehrten Tickets zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse im Gewandhaus und eine persönliche Einladung zur Preisverleihung auf dem Leipziger Messegelände. Jeder Besucher mit einer gültigen Blogger-Akkreditierung erhält außerdem Zugang zur Bloggerlounge in Halle 5. Vertreter der Branche stehen dort zu Fachgesprächen bereit und geben wertvolle Tipps für den Bloggeralltag. Einfacher und gewinnbringender kann Blogger-Networking kaum sein.
Brian Conaghan, geboren und aufgewachsen in Schottland, studierte Kreatives Schreiben in Glasgow und arbeitet heute als Lehrer und Autor in Dublin. „When Mr. Dog Bites“ (dt. „Jetzt spricht Dylan Mint und Mr. Dog hält die Klappe“) ist nach „The boy who made it rain“ (dt. „Der Junge, der es regnen ließ“) sein zweiter Roman, der brisante Themen der heutigen Jugend anspricht.
Der Inhalt
Der 16-jährige Dylan Mint hat ein Problem. Und zwar ein richtiges. Denn als wäre es nicht genug, dass sein Vater nie zu Hause ist, seine Mutter auf einmal mit einem Taxifahrer rumhängt und sein bester Freund nach Curry riecht, hat Dylan Mint auch noch einen ständigen Begleiter – Mr. Dog nennt er ihn. Denn wie einen knurrenden, beißenden, aggressiven Hund kann er es einfach nicht bändigen, sein Tourette-Syndrom. Aber es kommt noch härter, denn Dylan erfährt, dass er nur noch sechs Monate zu leben hat. Was bleibt ihm da anderes übrig, als eine Liste zu erstellen mit Dingen, die er dringend noch erleben muss, bevor er den Löffel abgibt?
Dylan Mint und sein Mr.Dog
Dies ist die Geschichte von Dylan Mint, einem Außenseiter unter den Außenseitern, der einen Pakistani zum besten Freund hat, weil ihm Hautfarben egal sind und der unbedingt noch Michelle Malloy, die rotzfreche Göre, flachlegen will, bevor er abtritt. Dylan ist nicht dumm, eigentlich sogar ziemlich klug, aber er macht sich, was sein Leben betrifft, mit einer recht naiven Weltanschauung doch so einiges vor. Dass wir ihn dabei begleiten dürfen, wie er so manche Wahrheit über sich selbst aufdeckt und währenddessen herrlicherweise versucht, seinem Kumpel Amir einen neuen, besten Freund zu beschaffen, weil Dylan ja bald ins Gras beißt, finde ich fantastisch.
Conaghans Schreibstil und seine Umsetzung von Dylans Tourette-Krankheit mit dem Gesicht von Mr.Dog ist sehr gelungen. Und auch wenn die Geschichte stellenweise arg klischeehaft ist, hielten mich Dylans verdrehte, chaotische Gedanken stets gefangen und strahlen einen wunderbar seltsamen Charme aus. Meine persönliche Favoritin ist MichelleMalloy, die für Dylan – trotz Klumpfuß – das sexieste Mädchen der Welt mit der schnoddrigsten Schnauze ist, die er je gehört hat. Dylan und sein Kumpel Amir wirken stellenweise wie zwei typische Pubertierende mit ebensolchen Problemen, anderen Orts wirken sie dagegen deutlich zu jung und naiv. Ganz durchhalten konnte Brian Conaghan sein Niveau hier leider nicht.
Die Sprache
In der ersten Person von Dylan Mint erzählt, spiegelt der Stil des Buches das Innenleben des Teenies hervorragend wieder: teilweise chaotisch, teilweise sperrig und nicht immer schön zu lesen. Dennoch hatte ich das Gefühl, das es nicht anders sein sollte, denn genau das ist Dylan Mint: ein Charakter mit Ecken und Kanten, der mit dem Leben und dem Erwachsenwerden zu kämpfen hat. Fließende, weiche Sätze oder eine melodische Sprache wären hier fehl am Platz gewesen.
Mein Fazit
Die Geschichte handelt nicht nur von Tourette, sondern sie legt uns auch Freundschaft und Stärke ans Herz, Mut und Akzeptanz. Dies gelingt Brian Conaghan nicht immer fehlerfrei, wird jedoch wieder wett gemacht durch Dylans liebenswerten Charakter und seinen beschwerlichen Weg Richtung Erwachsenwerden. Und das eine oder andere Schimpfwort habe ich dabei auch noch gelernt. „Dylan Mint“ ist eine berührende Erzählung, die mich zum Schmunzeln und Nachdenken gebracht und somit ihr Ziel erreicht hat.
Der Lyriker Lutz Seiler hat mit seinem ersten Roman den Deutschen Buchpreis 2014 gewonnen. Er wurde 1963 in Gera, Thüringen, geboren und studierte Germanistik. Lutz Seiler erhielt für sein lyrisches Werk mehrere Preise und Stipendien, unter anderem den Ingeborg-Bachmann-Preis, den Bremer Literaturpreis, den Fontane-Preis und den Uwe-Johnson-Preis.
Trakl-Liebhaber und Lebensverzweifler Ed
Edgar Bendler flieht aus Halle an die Ostsee, wo er den tragischen (Unfall-?, Selbstmord-?)Tod seiner Freundin zu verarbeiten hofft. Obwohl Anfang zwanzig, ist Ed gehemmt, sexuell unerfahren und psychisch instabil (er spricht mit einem toten Fuchs, scheint kaum in der Lage, sich kommunizierend auszudrücken). In der Gaststätte „Zum Klausner“ begegnet er einem Panoptikum skurriler Gestalten, die dort ihr Überleben unter primitivsten Bedingungen fristen. Sein einziger Wunsch: Er will dazugehören, er will in den Kreis der „Eingeweihten“ , „Auserwählten“ und „Erleuchteten“ aufgenommen werden.
Kapitän Sprücheklopfer Kruso
Auch Alexander Krusowitsch, Kind eines sowjetischen Generals und einer russischen Zirkusartistin, muss gleich zwei Verluste verarbeiten: Seine Mutter, russische Zirkusartistin, stürzte bei einer Aufführung vor Sowjetsoldaten ab, als „Kruso“ sechs Jahre alt war. Als Kind musste er mit ansehen, wie seine geliebte Schwester „ins Wasser gegangen“ ist. Ed ist für Kruso Resonanzboden seiner kruden Unterweisungen, Weltverbesserungsideen und pseudophilosophischen Traktate über die Freiheit sowie für seine selbst verfassten Gedichte. Kruso wird Vaterfigur und Freund, und in manchen Szenen schimmert gar eine homoerotische Anziehung durch.
Schiffbrüchige und Esskaas
Alljährlich pilgern im Sommer Scharen von DDR-müden und regimekritischen jungen Menschen auf die Insel (von Kruso als „Schiffbrüchige“ bezeichnet), von der aus man einen Blick aufs das gelobte Land in Gestalt der Kreideküste der dänischen Insel Møn werfen kann. Kruso ist gespalten: Er sieht seine Aufgabe einerseits darin, den Obdachlosen eine Grundversorgung und einen sicheren Schlafplatz zu verschaffen. Andererseits setzt er alles daran, die Diktaturmüden davon abzuhalten, ihr Leben bei einer scheinbar so leichten, jedoch tödlichen Flucht aufs Spiel zu setzen. Er vermittelt den Republikmüden einen anderen Freiheitsbegriff und bedient sich dabei anderer Bewohner der Insel. Auch die Saisonarbeitskräfte, genannt Esskaas, halten zusammen. Sie pflegen ihre Bräuche und Riten, und selbst zu den Grenzschützern am Außenposten des real existierenden Sozialismus besteht ein freundschaftlicher Kontakt. Der Freiheitsbegriff, den Kruso im Sinn hat, ist einer, der mit Naturmystik und Naturerleben, der Erfahrung der Solidarität und Freundschaft mit Gleichgesinnten und der Liebe zur Poesie verbunden ist.
Sprache und Handlung
Lutz Seiler verwendet eine bilderreiche Sprache, manchmal jedoch mit unstimmigen und auch unfreiwillig komischen Metaphern. Ellenlange Beschreibungen und Wiederholungen ermüden, die Handlung erlahmt. Es wird viel geschwurbelt, gesoffen, wild durcheinander kopuliert und andeutungsreich spintisiert. Kaum einer seines Personals scheint wirklich klar im Kopf zu sein. Man hat den Eindruck, die ganze Insel ist eine Irrenanstalt, auf der sich die Insassen frei bewegen können. Erst im letzten Viertel nimmt der Roman Fahrt auf. Einschneidende Veränderungen sind im Sommer und Herbst Neunundachtzig auch beim Personal des Klausners zu beobachten.
Mein Fazit
Obwohl ich mich – als DDR-Bürgerin bis 1984 und Kennerin der Insel Hiddensee – sehr auf das Buch gefreut hatte, wurde mir bereits nach der Hälfte der Lektüre klar, dass es meine Erwartungen nicht erfüllen würde. Zu sehr vermisste ich einen Spannungsbogen, zu fremd blieben mir die Figuren. Trotzdem war ich am Ende froh, mich durchgekämpft zu haben. Von dem, was da auf den letzten hundert Seiten erzählt wurde, hätte ich mir schon mehr im Anfangsteil gewünscht. Für Leser mit besonderem Faible für hochartifizielle Sprache, psychologische Feinheiten und DDR-Geschichte kann das Buch dennoch durchaus eine Leseempfehlung rechtfertigen.
Sex, Drogen, Reichtum, Psychosen… hier kommt das selektiv aus der Perspektive einer jugendlichen Oberschicht betrachtete Indien der Gegenwart. Lakonisch, kosmopolitisch, zynisch und entsprechend des Handlungstempos im hastigen Präsens beschrieben.
Willkommen im Debütroman von Shreyas Rajagopal! Der Autor ist Jahrgang 1986 und lebt in Bombay, wo er – wie passend – im Finanzsektor arbeitet. Studiert hat er unter anderem am Indian Institute of Management, was sich aber, außer einer offensichtlichen Kenntnis der indischen Sozialstruktur, nicht wirklich in seinem Roman bemerkbar macht. Freilich aber zeigt dieses 2013 geschriebene Buch alle Merkmale eines literarischen Erstlingswerks: rasches Wechselspiel von Nähe und Distanz, unbekümmertes Experimentieren mit unterschiedlichen Stilen, die eitle Lust am Dokumentieren der eigenen Genialität und des Wissens „um die Dinge“ sowie das generelle Grundrauschen einer expressionistischen Wucht.
Worum geht’s? Student Rish kommt nach „Schwierigkeiten“ in New York für eine Auszeit nach Bombay zurück. Und er landet quasi unmittelbar in einem dämonischen Pantheon aus Freunden, Eltern, Drogendealern, ehemaligen und zukünftigen Sex- und Partygefährten… kurz: es startet eine Tour de Force für Körper und Geist. Und der Strudel aus Rausch und Hass auf die Gesellschaft dreht munter seine Runden. Ja, auch Bret Easton Ellis (American Psycho) lässt hier grüßen. Nicht nur durch die fast obsessive Erwähnung von Markenprodukten, sondern auch durch die gnadenlose Kälte der Eigen- und Fremdbeobachtung des Helden. Das Indien der Milliarden Menschen mit weniger als mindestens Millionärsstatus kommt dabei übrigens gerade noch als Staffage vor.
Wer nun aber glaubt: Aha, wieder so eine überdrehte Schnösel-Story aus dem Milieu der globalen Nichtsnutze mit „goldenem Löffel“ Syndrom… nun, der springt hier eindeutig zu kurz! Rajagopal schreibt hier aus der auktorialen Perspektive – und offeriert Rückblenden mit beeindruckenden Blicken in eine gequälte Psyche. Seine Sprache ist dabei so intensiv wie bildstark – und er trifft den Ton jeder Situation ausgesprochen stimmig. Ein Lob auch der deutschen Übersetzung. Auf so ein kongeniales Wort wie Durschnitten für eine Versammlung mittelmäßiger Fickangebote weiblicher Art muss man erst einmal kommen.
Und wo bleibt in dieser Geschichte nun die Moral? Erfreulicherweise gibt es die hier nicht! Es handelt nämlich keineswegs um einen klassischen „Coming of Age“ Plot, sondern die mitleidslose Schilderung einer Reise in den kontrollierten Wahnsinn. Wobei Rajagopal keinen Zweifel daran lässt, dass dieses Indien der abgehobenen Oberschicht demnächst ganz gewaltig um die Ohren fliegen wird. Bis dahin gilt ein typischer Satz aus der Gedankenwelt des Protagonisten Rish: Du bist wie Plastik – du wirst alles hier überdauern.