Rezensionsreihe Finnland zur Frankfurter Buchmesse 2014, Teil 5: Sofi Oksanen, Als die Tauben verschwanden. Oder: Volksseelenwanderung

Liebe Leserinnen und Leser: wohl selten war es so wertvoll, auf meine Meinung einen Dreck zu geben. Denn was jetzt kommt, könnt ihr glauben oder auch nicht. Mit diesem Buch tue ich mich nämlich sehr sehr schwer. Und mit der Besprechung dazu fast noch mehr.

Quelle: www.kiwi-verlag.de
Quelle: www.kiwi-verlag.de

Normalerweise startet man als Rezensent ja vorurteilslos frei ins Lesen eines Romans, oder sollte es zumindest versuchen. Das hier in der Kritik stehende Werk von Sofi Oksanen wurde mir allerdings schon vorab in mehreren TV-Kritikerrunden und noch mehr Feuilletons dermaßen wortgewaltig und tiefschürfend um die Ohren gehauen, dass eine objektive Beschäftigung mit Form oder Inhalt keine realistische Option war. Warum? Weil ich den schärfsten Lästereien über diese Prosa fast uneingeschränkt zustimmen muss. Vom Start weg und in allen Punkten.

Aber Vorsicht! Dieses Buch ist auch ausgesprochen konsequent! In seiner Diktion. In seinem Impetus. Und ja, auch in seiner ganz eigenen Wahrhaftigkeit. Und eben das kann vielen Lesern ausgesprochen gut gefallen. Anderen dagegen ganz und gar nicht.Zu den Letzteren gehöre ich.

Die Fakten: 1941 wird Estland von der Wehrmacht okkupiert. Die Soldaten fangen reichlich Tauben, um sie zu essen. Der Titel ist damit geboren. Der Plot behandelt den Lebensweg von drei zentralen Protagonisten: Edgar mit seiner unausgelebten Homosexualität ist opportunistisch bis zur Skrupellosigkeit; Juudith, seine Frau verliebt sich in den SS-Hauptsturmbannführer Hertz; und Roland, Vetter von Edgar, gibt den aufrechten Freiheitskämpfer. Stoff für Verwicklungen ist damit reichlich gewoben. Diese werden aus wechselnden Perspektiven beschrieben. Und nach den Nazis kommen die Sowjets. Deren Besatzungszeit bereitet die Bühne für die zweite Erzählebene und neuerliche “Charakterprüfungen“ der Figuren, angesiedelt in den Neunzehhundertsechzigerjahren in der Baltischen Sowjetrepublik. Wobei generell, ob 1944 oder 1966, die tiefere Gestaltung der Charaktere zugunsten der Handlungsstränge leider auf der Strecke bleibt.

Zum Erzählstil: hier muss ich den meisten Kritikern beipflichten. Insbesondere die Tonalität aus Perspektive von Juudith spielt schon fast ins Unerträgliche. Schwülstige Schöpfungsschilderungen treffen auf völkische Fantasien. Blut und Boden Symbolik feiert fröhliche Urständ. Nation und Natur werden zur Legitimation einer nordischen Identität, die sich dem Spielball der Geschichte so gut es eben geht zu erwehren versucht. Kann man ja machen. Und ich weiß aus eigenen Besuchen in Estland, dass die Angst dieses Landes vor einer erneuten Fremdherrschaft, ganz gleich von welcher Ideologie befeuert, einen Grundton des Alltagsbewusstseins vieler Menschen dort bildet. Ich persönlich mag es allerdings nicht so „allegorisch überdeutlich und melodramatisch süß“ – um hier mal den Kritiker der Süddeutschen Zeitung zu zitieren.

Unbestritten freilich hat Frau Oksanen, Jahrgang 1977, mit ihrer Herkunft den richtigen Background für diesen literarischen Versuch: sie ist Tochter einer estnischen Mutter und eines finnischen Vaters. Und ganz bestimmt werden viele Leser den Stil des Romans für sich auch sehr stark als zu Herzen gehend, poetisch, vielstimmig und lebendig erleben. Ich empfand es in großen Teilen halt einfach bloß als nationalistischen Kitsch – bin aber eben auch weder Este, noch Russe oder habe jemals in irgendeiner Armee gedient. Und zumindest Letzteres war meine eigene Entscheidung.

Sofi Oksanen, Als die Tauben verschwanden
Kiepenheuer & Witsch, August 2014
Online bestellen:  https://www.buchhandel.de/buch/Als-die-Tauben-verschwanden-9783462046618

Autor: Harald Wurst | ph1.de

Rezension: Ted Thompson, Land der Gewohnheit. Oder: Die Demaskierung des American Dream

Anders und Helene führen nach außen ein typisch amerikanisches Leben: Haus mit Garten, zwei erwachsene Söhne, ein seit Jahren befreundetes Ehepaar, Erfolg im Beruf (Anders) und ehrenamtliches Engagement (Helene). Trotzdem bricht Anders aus dieser scheinbaren Idylle aus, reicht die Scheidung ein, sorgt bei der jährlichen Weihnachtsparty der Freunde für einen Eklat und arrangiert sich in seinem neuen Leben als Single. Bald registriert er allerdings, was er aufgegeben hat und will reumütig zurückkehren. Warum das nicht möglich ist und was überhaupt zu Anders‘ Ausbruch führte, deckt Ted Thompson nach und nach auf und sorgt wie ein Chirurg, präzise und schmerzhaft, für eine Demaskierung des American Dream.

Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de

Der Schmerz des Aufwachsens

„Erwachsensein bedeutete genau das, oder? Eine Welt zu schaffen, die ein klein bisschen besser war als die, in die man selbst hineingeboren worden war.“

Wäre das möglich, lebten wir alle in einer perfekten Welt. Doch selbst, wenn wir die scheinbaren Fehler unserer Eltern nicht wiederholen, machen wir doch andere – eine Erkenntnis, der auch Anders sich stellen muss.

Sein Leben lang versucht Anders, aus dem mächtigen Schatten seines erfolgreichen und unnahbaren Vaters herauszutreten, sein spießiges und distanziertes Elternhaus abzustreifen, und schafft doch, auf seine eigene Weise, eine ebenso spießige Vorort-Idylle mit entfremdeten Söhnen. Der ältere Sohn, Tommy, wiederholt genau dieses Muster und lebt zielstrebig und erfolgreich mit Frau und Kindern in einem hübschen Haus, während der jüngere Sohn, Preston, sein Leben scheinbar überhaupt nicht im Griff hat und sich in der Welt von Drogen und Kleinkriminalität bewegt.

Welche Beziehung und welches Lebensmodell Ted Thompson auch beleuchtet, es bröckelt überall und auch unter der Fassade der reichen Freunde lauern Abgründe. Schicht für Schicht trägt der Autor die dicke Farbe auf den Fassaden ab, beleuchtet schonungslos alle Verhinderungsstrategien, Ausflüchte, Rebellionsversuche und gescheiterten Pläne. Am Ende bleiben hilflose und verwirrte Gestalten auf der Suche nach dem eigentlichen Selbst, der Wahrheit und bedingungsloser Liebe. Gefangen in ihren Rollen und hinter ihren Masken können sie nicht aus ihrer Haut und sind so gefangen im Land der Gewohnheit. So spitzt sich alles zu und liegt nach dem Finale in Trümmern. Liegt hier vielleicht die Chance, doch noch so zu leben, dass man sich selbst im Spiegel in die Augen schauen kann, ohne Verachtung zu spüren?

Mitreißender Gedankenstrudel

In einigen Rezensionen wird Thompsons Schreibstil angeprangert, mich hingegen hat er absolut in seinen Bann gezogen. Die langen und teilweise verschachtelten Sätze haben – zusammen mit Sprüngen zwischen Gegenwart und Rückblenden – laut Rezensionen viele Leser abgeschreckt. Für mich untermauert diese Schreibweise absolut das, was Thompson inhaltlich beschreibt: Rasende und springende Gedanken, die kaum richtig zu fassen sind. Eine Unruhe, von denen die Protagonisten getrieben werden, die aber nicht konkret festzumachen ist. Den Versuch, Muster in der Vergangenheit zu erkennen und zu durchbrechen, und das Scheitern am hektischen Fluss des Alltags.

Im ersten Teil werden Gegenwart und Rückblick aus Anders‘ Sicht geschildert, den Mittelteil und das Finale schildert Thompson aus Helens und Prestons Position. Dadurch und in diversen Rückblenden wird deutlich, wie unterschiedlich zwei oder mehr Personen dieselbe Situation erleben können. Während zum Beispiel Anders seiner Familie durch unermüdliche Arbeit seine Liebe zeigt, wünscht sich seine Frau Helen eher persönliche Zuwendung. Durch Sprachlosigkeit und oberflächliches „Uns-geht’s-gut“-Denken verfestigen sich Konflikte und eskalieren schließlich.

Land der Gewohnheit ist ein schonungsloses Buch, das fein beobachtet, detailliert das Skalpell ansetzt und durchaus humorig eine ganz normale amerikanische Familie demontiert. Teilweise habe ich mich wie ein Voyeur gefühlt, der mit wachsendem Unbehagen Zeuge eines Streits wird, bei dem mehr und mehr schmutzige Wäsche ans Licht kommt, der aber auch zu faszinierend ist, um nicht weiter zuzuhören. Dazu kommen auch die vielen schrägen und bösartig-witzigen Situationen, die den Leser oft zwischen Mitleid und Häme schwanken lassen. Für mich ein lesenswertes Buch, das den Blick auf die eigene Lebenssituation und die eigenen Träume und Familienmuster schärft.

Ted Thompson, Land der Gewohnheit
Ullstein, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Land-der-Gewohnheit-9783550080746

Autor: Dorothee Bluhm
www.wortparade.de

Rezensionsreihe Finnland zur Frankfurter Buchmesse 2014, Teil 4: Ulla-Lena Lundberg, Eis – ein Drama voller Hoffnung

Wer den Klappentext des Romans „Eis“ der schwedisch-finnischen Autorin Ulla-Lena Lundberg liest, dürfte im ersten Moment eher abgeschreckt sein. Der deutet eher auf ein Heimatmelodram in bester Konsalik-Manier oder eine blutrünstige Story hin, welche Horror-B-Movies aus den 1970er Jahren zum Vorbild haben könnte. Was den Leser tatsächlich erwartet, wird jedoch nicht angedeutet: Ein einfühlsames Drama voller Hoffnung, das in einer Zeit angesiedelt ist, als ganz Europa in Trümmern lag.

Cover Eis Mare-verlagDie Handlung

Die Autorin erzählt aus der Sicht des allwissenden Erzählers die Geschichte des Geistlichen Peter Kümmel und seiner Familie auf den Örar-Inseln kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Obwohl die Inseln irgendwo im Nirgendwo zwischen Schweden und Finnland liegen, hat der Krieg auch hier seine Spuren hinterlassen. Etwa in Form von Frau Doktor Gyllen, deren sowjetische Abschlüsse in Finnland nicht anerkannt werden, weshalb sie auf den Inseln als Hebamme arbeitet, bis sie einen regulären finnischen Abschluss erworben hat. Die Bevölkerung hat keine Ahnung, welches dunkle Geheimnis Frau Doktor mit sich trägt: Nachdem ihr Mann von Stalins Schergen verhaftet worden war, hatte sie ihren Sohn zurückgelassen und war aus der Sowjetunion geflüchtet. Sie vertraut sich lediglich Peter Kümmel an, nachdem dieser eine feste Autorität in der Kirchengemeinde geworden ist.

Aufgenommen wird der neue Pfarrer, der jedoch erst noch die Abschlussprüfung bestehen muss, bevor er als vollwertiger Pfarrer anerkannt ist, von der Gemeinde herzlich. Vor allem der Küster und der Kantor, die später zu den besten Freunden der Kümmels auf der Insel werden sollen, sind ihm anfangs eine wichtige Stütze. Schließlich ist die Gemeinde auf den Inseln trotz des scheinbaren Zusammenhalts tief in zwei Fraktionen gespalten, sodass der Pfarrer stets zu einem gerechten Ausgleich zwischen den Siedlungen im Westen und im Osten der Inseln bedacht sein muss.

Es gelingt der jungen Pfarrersfamilie schnell, sich auf den Inseln einzuleben und sich dank der landwirtschaftlichen Kenntnisse von Mona Kümmel die Grundlage für bescheidenen Wohlstand zu schaffen. Obwohl Mona bisweilen eifersüchtig auf die Gemeinde ist, die ihren Gatten allzu sehr in Beschlag nimmt, scheint dem Glück der Familie trotz einiger Schwierigkeiten und Rückschläge auf den Örar-Inseln nichts im Wege zu stehen. Ein einziger unbedachter Augenblick bereitet dem Glück der jungen Familie jedoch ein jähes Ende.

Ein Zeitsprung für den Leser

Mit „Eis“ gelingt es Ulla-Lena Lundberg, ein fulminantes und dennoch einfühlsames Stück jüngerer Vergangenheit anhand der Schicksale einzelner Personen zu erzählen. Sie beschreibt nüchtern in einem Stil, der dem gemächlichen Lebensrhythmus der Inselbewohner angepasst wird. Lundberg verzichtet auch in dramatischen Momenten auf jegliche Melodramatik, was ihre Figuren umso plastischer und lebendiger erscheinen lässt. Sie beschreibt Episoden aus dem Leben ihrer Figuren, die einfach nur ihr Leben leben wollen. Geschickt lässt sie einige historische Fakten einfließen, die den Leser nicht überfordern, aber einen Einblick in die alltäglichen Herausforderungen geben, denen sich die Menschen in den ersten Jahren unmittelbar nach der großen Katastrophe des 20. Jahrhunderts stellen mussten.

Mein Fazit

„Eis“ ist ein rundum gelungenes Werk, das den Leser von der ersten bis zur letzten Seite gemächlich in seinen Bann zieht. Ein ideales Buch also für warme Winterabende vor dem flackernden Kaminfeuer.

Ulla-Lena Lundberg, Eis
Mare Verlag, 1. Auflage August 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Eis-9783866482067

Autor: Harry Pfliegl

Frankfurter Buchmesse: Wie wirklich ist Literatur? Das Guerillakonzept von iWright und seine Folgen

Rezensieren ist so einfach: Lesen. Wirken lassen. Strukturieren und schreiben. Bis jemand kommt, der diesen Ablauf in Frage stellt, der mich gar zweifeln lässt, in welcher Realität ich mich befinde, ähnlich wie auf einem Holodeck. Geschafft hat dies auf der Frankfurter Buchmesse der Autor Marc Buhl. Dabei sind Titel und Story seines Buches zunächst Nebensache.

Marc Buhl liest. Foto: Detlef M. Plaisier
Marc Buhl liest. Foto: Detlef M. Plaisier

Eines ist sicher: Der Autor ist real, sitzt in Fleisch und Blut vor mir. Und auch seine angeblich bisher veröffentlichten fünf Romane, davon die letzten vier bei Eichborn, sind nachprüfbar. Für Kenner: Ich fand „Das Billardzimmer“ sehr lesenswert, auch wenn die FAZ-Kritik den Text nahe politischem Kitsch ansiedelte. Nun promotet Marc Buhl seinen Thriller „Die Auslöschung der Mary Shelley“ und hinterlässt Verwirrung. Nicht wegen des Textes, der existiert tatsächlich und ist nach Appetithappen aus den drei ersten Kapiteln auch handwerklich anständig gestrickt. Und genau da liegt der Stolperstein: Wer hat ihn geschrieben? Ins Spiel kommt eine Schreibsoftware namens iWright. Marc Buhl und sein Verleger Uwe Wilhelm vom  Berliner eBook-Startup Blink Books deuten an, die Story rund um die bekannte Frankenstein-Geschichte, angesiedelt in der Gegenwart mit NSA, dem Monster Victor und reichlich Blut, könnte maschinell erstellt worden sein. Könnte. Es bleibt der Mantel des Geheimnisses.

Anonymus? Foto Detlef M. Plaisier
Anonymus? Foto Detlef M. Plaisier

Nun gut, dann schreiben jetzt eben auch Computer schon Bücher. War ja irgendwie zu erwarten. Soll ich mich darüber aufregen? Andere tun es. Im Netz bricht ein Sturm der Entrüstung los ob des Geschäftsmodells von iWright: Aushebelung des Urheberrechts und Anstiftung zu Straftaten stehen im Raum, selbst der Tod von Literatur, Autoren und Büchern wird vorhergesagt. Eine „Sektion Buchmesse Frankfurt“ von Anonymus protestiert mit Flugblättern vor dem Stand und verfolgt Marc Buhl in den Frankfurter Straßen, so ein Facebook-Posting. Ich lese nach, wie einfach iWright Autoren zu potentiellem Erfolg verhelfen will, und stimme zu: Empörend. Ich lasse mich vereinnahmen.

Dann kommt der Virenschleuderpreis. Ich will nachlesen, wer es von der Shortlist aufs Treppchen geschafft hat. Ach, da taucht ja unter den Nominierten der Kategorie „Ansteckendste Idee“ auch iWright auf. Ganz hinten zwar, auf Platz 29 von 30 mit nur drei Stimmen, aber warum? 15 Minuten Recherche, und es ist klar:  Ich bin der Trottel. Ich bin einem genialen Konzept von Guerilla-Marketing voll auf den Leim gegangen. Glückwunsch.

Coup gelungen! Foto Detlef M. Plaisier
Coup gelungen! Foto Detlef M. Plaisier

Das Zauberwort ist „Transmedia Storytelling“. Heißt: Die Story wird über den Roman selber hinaus weiter erzählt, bevorzugt auf Social Media Kanälen wie Instagram, Twitter, WhatsApp, YouTube und anderen, auf denen junge Leser abgeholt werden können. „Hierzu benutzen wir Fake-Accounts, erfinden Figuren, Firmen und Konflikte, die im Roman angelegt sind…“. Die vermeintlich empörten Verteidiger des Urheberrechts sind genauso Teil der Guerilla-Kampagne wie iWright selbst und die Anonymus-Aktivistinnen. Auch das „Aktionsbündnis Stop iWright“ wird von Blink Books lanciert (erkennbar an den übereinstimmenden Adressen im Impressum).

„Im Zentrum steht immer die Geschichte“, betont Uwe Wilhelm.  „Unser Konzept bringt den second und third Screen in die Literatur. Es entsteht ein interaktiver Livingroom, den jeder nach seinen Vorlieben nutzen kann. “  Blink Books kündigt sechs bis acht Publikationen pro Jahr an. „Auf keinen Fall“, so Uwe Wilhelm, „wollen wir Self Publisher-Autoren unter unserem Dach sammeln.“ Mit Marc Buhl habe man einen Autor gefunden, der das Konzept unterstützt und mit entwickelt.

Cleverle: Uwe Wilhelm. Foto Detlef M. Plaisier
Cleverle: Uwe Wilhelm. Foto Detlef M. Plaisier

Wir werden Mary Shelley und Victor also sehr bald nach der Buchmesse im Netz begegnen, wo sie die Geschichte von NSA und Quantencomputer weiter erzählen und auf den dritten Band neugierig machen. Als nächste Veröffentlichungen bei Blink Books sind „Jimmy & Aladina“ von Ralph Caspers (voraussichtlich im Dezember 2014) und „Svynx“ als Coproduktion von Gerlinde Unverzagt und Uwe Wilhelm (Februar 2015) angekündigt.

Ich bin jetzt ein Stück erleichtert. Morgen schreibe ich an iWright und frage an, ob meine Familienbiographie dort umgesetzt werden kann. 50 Euro für die Basisversion mit bis zu drei Rewrites ist doch ein faires Angebot…

Was bleibt: Begegnungen auf der Frankfurter Buchmesse

Was von einer Buchmesse bleibt, sind nur selten Bücher und Präsentationen von Verlagen. Immer erzählenswert sind die Begegnungen mit Menschen: Autoren, Verleger, Besucher. In Frankfurt schien mir dies entspannter und leichter als in Leipzig. Ich traf Horst Lichter und Roger Willemsen, MC Fitti und Tim Mälzer.

Roger Willemsen auf der #fbm14. Foto Detlef M. Plaisier
Roger Willemsen auf der #fbm14. Foto Detlef M. Plaisier

Die schönste Begegnung hat Roger Willemsen in wunderbar poetischen Worten formuliert:

„Ein Mann kommt heran, ich erkenne ihn, wir sehen uns immer nur hier. Wieder öffnet er seinen Rucksack, entnimmt ihm eine in Pappe eingepackte Engadiner Nusstorte und geht schweigend davon. Er macht das seit Jahren. Er fordert nichts. Er erklärt sich nicht. Ich esse seine Torte seit Jahren, dankbar, auch für sein Schweigen.“

Frankfurter Buchmesse: „Iron Buchblogger“ spenden 400 Euro an „Reporter ohne Grenzen“

Die beiden Initiatoren auf der #fbm14. Foto Detlef M. Plaisier
Die beiden Initiatoren auf der #fbm14. Foto Detlef M. Plaisier

„Iron Buchblogger“ – das ist nichts Martialisches oder gar lebensgefährlich. Im August 2013 setzten die beiden Buchaktivisten Charlotte Reimann und Leander Wattig die Idee um, „eiserne“ Buchblogger miteinander zu vernetzen. Vorlage war das Konzept der Ironblogger, das allerdings mehr auf feuchtfröhlichen Grundfesten ruht…

Inzwischen nutzen über 180 Literaturbegeisterte aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Kalifornien das Angebot. Sie werden in ein Blogverzeichnis aufgenommen, binden das Logo auf ihrem Blog ein und treffen sich zu den Buchmessen in Leipzig und Frankfurt. Weiterer Vorteil: Player am Buchmarkt erhalten so schnell einen Überblick über aktive Buchblogger und können bei Bedarf direkt zugreifen, etwa bei Rezensionsanfragen. Ich bin seit April 2014 dabei.

Die Iron Buchblogger auf der #fbm14. Foto Detlef M. Plaisier
Die Iron Buchblogger freuen sich über die tolle Spende. Foto Detlef M. Plaisier

Die wenigen Regeln für die Iron Buchblogger sind einfach: Jeder schreibt mindestens einen Blogpost pro Woche. Wer das versäumt, zahlt einen Euro in eine gemeinsame Kasse. Zu den Buchmessen wird die Kasse dann auf den Kopf gehauen – nicht so in diesem Jahr: Zur Frankfurter Buchmesse ergab der Kassensturz 200 Euro. Der Betrag wurde nicht schnöde verfeiert, sondern an „Reporter ohne Grenzen“ gespendet. Die Frankfurter Buchmesse verdoppelte den Betrag, so dass 400 Euro weitergegeben werden konnten.

Vielen Dank an die Frankfurter Buchmesse für diese großzügige Geste und die Unterstützung bei der Organisation! Die Zeit bis zur Leipziger Buchmesse 2015 ist verdammt lang. Leander Wattig kündigte an, sich um ein Barcamp-Wochenende für die Iron Buchblogger in Berlin zu bemühen. Bis dahin: Stay strong – keep on reading and blogging!

Rezensionsreihe Finnland zur Frankfurter Buchmesse 2014, Teil 3: Philip Teir, Winterkrieg. Oder: Mittelstand ist Abgebrannt.

Hieno! Das ist Finnisch für in etwa: „Wunderbar“. Und damit will ich gleich mal den besten ersten Satz eines Buches feiern, den ich seit langem gelesen haben: „Den Hamster der Enkelkinder einzufrieren war der erste Fehler, den Max und Katriina in diesem Winter begangen hatten – weitere sollten folgen.“

Quelle: www.randomhouse.de

In diesem Sinne: Willkommen im Winterkrieg! Ein Wort, welches für das finnische Selbstverständnis bis heute einen zentralen Topos darstellt (als Kampf der Finnen gegen die Sowjets 1939 bis 1940 mit Beginn der fatalen Annäherung an Nazi-Deutschland). Auf metaphorischer Ebene wird der Begriff nun zum programmatischen Titel des neuen Romans von Philip Teir. Geboren 1980 in Pietarsaari, studierter Philosoph, praktizierender Journalist und derzeit als einer der bedeutendsten Nachwuchsautoren Finnlands gehandelt. Sein Anspruch ist freilich, dieses Lob deutlich über die Grenzen Skandinaviens hinaus zu rechtfertigen.

Gibt es paneuropäischen Mittelstand? Klar doch, sagt Phillip Teir. Denn er hat ihn ausgesprochen gut beobachtet und beschrieben. Sein Protagonist Max ist Soziologieprofessor und steht kurz vor seinem 60. Geburtstag. Eine unangenehme Aussicht, in jeder Hinsicht. Seine Frau Katriina ist zwar Mutter der gemeinsamen Töchter Helen und Eva, doch weder Gespräche noch Sex führen mittlerweile zu beidseitigem Vergnügen. Diese zwischen beiden schmerzhaft klar gezeichneten Stille oder auch der quälende „Alles-Vorbei- bzw. Was-wäre-wenn-Modus“ wird von Philip Teir für mein Empfinden weniger typisch finnisch als vielmehr schon in angelsächsischer Manier erzählt und fokussiert. Die Töchter sind allerdings ein wenig klischiert angelegt. Helen hat Kinder… und bleibt Finnin. Die schöne Eva dagegen versucht es mit Kunst in London und wird, oh Wunder der dramaturgischen Volte, fast schwanger von ihrem Professor. Als Max dann noch seine absehbare Affäre mit einer Journalistin startet, läuft die Geschichte im bitterkalten Winter von Helsinki auf ihren Showdown zu.

Soweit der grobe Rahmen. Die beachtliche Kunst von Philip Teir zeigt sich aber eindeutig in seiner klaren und so gut wie in jedem Satz folgerichtig schlüssigen, ja fast schon erbarmungslos zielgerichteten Sprache. Hier wird ein grenzübergreifend systemimmanentes Missverständnis des modernen Mittelstands chirurgisch präzise ausgezirkelt und in den Protagonisten gespiegelt. Die Illusion einer alters- wie geschlechtslosen und vom Ort unabhängigen Identität zeigt sich als paradoxes Versprechen, das sich niemals einlösen lässt – dem aber trotzdem jeder auf seine Art gern aufsitzt.

Alles in allem: Ein sehr fein beobachtetes europäisches Sittengemälde unserer Zeit von Meister Teir, das gern auch neben Werken seines britischen Kollegen Ian McEwan in meinem Regal zu stehen kommt.

Philip Teir, Winterkrieg
Karl Blessing Verlag, 2014
Link zu Amazon: http://amzn.to/1EnZyjc

Autor: Harald Wurst | ph1.de

Rezension: Teresa Toten, Der ungewöhnliche Held aus Zimmer 13 B

Ist der Herd ausgeschaltet? Die Tür auch wirklich abgeschlossen? Jeder kennt solche eigentlich harmlosen Gedanken. Schlimm wird es jedoch, wenn solche Gedanken zu zwanghaften Handlungen werden, die man zwar als solche erkennt, gegen die man aber machtlos ist. „Zwangsneurose“ heißt das Krankheitsbild, an dem in Deutschland offiziell bis zu drei Prozent der Jugendlichen leiden.

Quelle: www.randomhouse.de
Quelle: www.randomhouse.de

Die anderen sind viel bekloppter

Eigentlich kein Thema für ein Buch, erst recht nicht für ein Jugendbuch? Doch, meint die kanadische Autorin Teresa Toten. Und so spielt in ihrem neuen Jugendbuch „Der ungewöhnliche Held aus Zimmer 13 B“ der 14jährige Adam Spencer Ross die Hauptrolle. Der hat eigentlich genug Probleme am Hals. Er ist 14, seine Eltern haben sich getrennt, sein kleiner Bruder hängt wie eine Klette an ihm und die Sammelleidenschaft seiner Mutter, bei der er wohnt, wird zunehmend zum Problem. Zwangsneurosen, wie das zwanghafte Zählen oder bestimmte Rituale, die er durchführen muss, bevor er eine Türschwelle überschreiten kann, kann er da wirklich nicht brauchen. Ein Trost ist ihm lediglich, dass die anderen Jugendlichen aus seiner Therapiegruppe in Zimmer 13 B „noch viel bekloppter sind“ als er.

Batman und Robin

Doch dann passiert es: Robyn betritt den Raum und Adam ist verloren. Zum ersten Mal ist er bis über beide Ohren verliebt. Für Robyn will er alles tun – sogar daran arbeiten, dass seine Zwangsneurosen verschwinden und er wieder „normal“ wird. Er wählt in der Therapiegruppe die Rolle des „Batman“, des dunklen Superhelden aus Gotham City, der alle anderen beschützt. Eine Rolle, die ihm liegt, denn tatsächlich gibt genau er der Therapiegruppe den notwendigen Rückhalt, auch wenn er es selber gar nicht merkt. Doch am Ende nützt es alles nichts. Sich selber kann Adam nicht beschützen, und so verlangt ihm seine Rolle als Batman zwei Entscheidungen ab, die er eigentlich nie im Leben treffen wollte…

Auch für Erwachsene lesenswert

Mit „Der ungewöhnliche Held aus Zimmer 13 B“ ist Teresa Toten ein Jugendbuch gelungen, das gleichzeitig einfühlsam und urkomisch ist und mich als erwachsene Leserin schmunzelnd an meine eigene Teenagerzeit zurückdenken lässt. Dazu passt, dass es am Ende des Buches nur ein „halbes Happy End“ gibt, ich aber trotzdem das Gefühl habe, dass alles wieder gut werden könnte…

Mein Tipp: Das Buch ist auch für Erwachsene unbedingt lesenswert!

Teresa Toten, Der ungewöhnliche Held aus Zimmer 13 B
cbt, 2014
Link zu Amazon: http://amzn.to/ZEZRpK
Link zur Autorin: http://teresatoten.com/home.html

Autorin: Yvonne Giebels

Rezension: Sherko Fatah, Der letzte Ort

Albert, ein Deutscher, sieht sich selbst als Aussteiger, ist aber mehr auf der Flucht vor dem Trübsal seines Vaters, der mit dem Untergang der DDR vor knapp 25 Jahren nicht zurechtkommt. Und nun hat Albert einen Fehler gemacht: Er ist in der irakischen Wüste aus dem klimatisierten Geländewagen gestiegen. Ehe er sich versieht, zieht jemand ihm und seinem irakischen Dolmetscher Osama Säcke über die Köpfe, wirft sie in ein Auto und entführt sie. Nun beginnt eine Odyssee, in deren Verlauf die Entführten von Gruppe zu Gruppe weitergegeben werden, sich verlieren, wieder finden, fliehen, wieder gefangen werden, sich gegenseitig misstrauen und doch wieder Freunde werden, weil es einfach keine anderen Freunde gibt in dieser feindlichen, heißen und trockenen Welt.

Machtspiele

Wer genau hinter den Entführungen steckt, was eigentlich das Ziel der Entführer ist, wird nie so recht deutlich in diesem Buch von Sherko Fatah. Die verhüllten Männer spielen mit ihren Gefangenen, misshandeln sie und lassen Albert und Osama in einem permanenten Zustand der Angst. Da Albert die Sprache nicht versteht, ist er auf Osama als Dolmetscher angewiesen. Doch als sich herausstellt, dass Osama mit einem der Anführer früher einmal zusammengearbeitet hat, wächst das Misstrauen, und die Welt um Albert herum verliert die gewohnten Konturen. Nichts ist wie es scheint, Albert versteht die Hintergründe und Überzeugungen seiner Entführer nicht, kann Osama nicht durchschauen, schwimmt zwischen Resignation und Tapferkeit. In den langen Stunden ihrer Gefangenschaft erzählen sich der Deutsche und der Iraker aus ihren Leben, ihrer Jugend, aber schnell wird deutlich, dass beide Welten viel zu verschieden sind, und so versteht auch hier wieder einer den anderen nicht. Dieses vage Mäandern zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen den Welten, zwischen Alberts gestörter Familiensituation und der verstörenden Entführung, Angst vor dem Tod und Angst vor dem Leben bestimmt weite Teile des Romans. Wer oder was die Oberhand gewinnen wird, ist bis zum Schluss offen.

Ein prophetisches Buch?

Es scheint, als wäre die Realität im Jahr 2014 in diesem Buch vorhergesagt oder als habe sie den Autor während des Schreibens eingeholt und überholt. Die ganze Verzweiflung und Zersplitterung im Irak wird deutlich in der Rede des ‚Emir‘, der am Ende der Entführungskette steht. Dieser erklärt explizit, wie sich seine Terrorgruppe die Zukunft des Landes vorstellt: Nicht nur sollen „die Kreuzfahrer, die Amerikaner und Briten, die hier hereingeströmt sind“ komplett vernichtet werden, sondern auch alle weiteren „Ketzer, die das Antlitz des wahren Glaubens verschandeln“ – in seinen Augen Christen, verwestliche Kurden, Schiiten und Kollaborateure.

Mit dieser flammenden Rede greift Sherko Fatah erschreckend hellsichtig dem Terror vor, der 2014 zur grausamen Realität wird: Entführte und vor laufender Kamera hingerichtete Journalisten, IS-Milizen, die Christen in die Enge treiben und verhungern lassen, bis hin zu aktuellen Terror- und Hinrichtungsdrohungen in Australien. Doch woran liegt es, dass der Autor ein so erschreckend wirkliches Bild in seinem Roman zeichnen konnte? Vielleicht an seiner Herkunft: Fatah ist der Sohn eines irakischen Kurden und einer Deutschen, der seine ersten elf Lebensjahre in der DDR verbrachte und den Kontakt zu seiner irakischen Familie mit regelmäßigen Besuchen aufrecht erhielt. Oder liegt es vielmehr daran, dass der Rest der Welt Augen und Ohren verschlossen hat vor allen religiösen und ideologischen Überzeugungen, die im Irak wie ein Lauffeuer um sich greifen?

Keine Hilfe

Der letzte Ort zieht den Leser mit in den Strudel aus Gewalt und Hilflosigkeit und gestattet viele Einblicke in Leben, Denken und Planen der verschiedenen Terrorgruppen im Irak. Man bekommt ein gewisses Verständnis für das Feuer, das in den Terrorführern brennt, die Überzeugung, das Richtige zu tun und den Willen, ihre Auffassung von Religion und Lebensweise als einzig wahre durchzusetzen – mit so viel Gewalt wie nötig. Mir persönlich blieben die Figuren trotz aller Rückblenden in ihr vergangenes Leben oder Darstellungen der todbringenden Überzeugungen ein wenig zu flach, unnahbar, so dass ich keine wirkliche Beziehung aufbauen konnte und die Odyssee der Protagonisten teilweise merkwürdig unberührt verfolgt habe.

Trotz aller detaillierten Einblicke bietet das Buch keine Ausblicke, keine Lösungen, keine Hilfe oder wenigstens Hoffnung und schafft so eine weitere Parallele zur aktuellen Situation im Irak.

Sherko Fatah, Der letzte Ort
Roman Luchterhand, 2014
http://amzn.to/1mzWcUK

Autor: Dorothee Bluhm
www.wortparade.de