Was ist erstrebenswerter? Keine Erinnerungen an die früheren Lebensjahre zu besitzen und dafür in Frieden zu leben, oder all die Erinnerungen wiederzuerlangen und damit einen blutigen Krieg heraufzubeschwören? Kazuo Ishiguro widmet sich dieser Frage in seiner Geschichte über kleine und große Entscheidungen des Lebens und die Treue zueinander.
Ohne Erinnerungen
Das ältere Ehepaar Axl und Beatrice lebt zurückgezogen in einem britannischen Bauerndorf. Nur der Nebel, der die Landschaft umfangen hält, stört den Frieden. Fast scheint es so, als lasse er alle Erinnerungen an die früheren Lebensjahre verblassen. Dennoch treibt Beatrice das unstillbare Verlangen an, ihren Sohn zu finden. Das Ehepaar bricht auf, um ihn zu suchen und zugleich das Geheimnis des Nebels zu lüften.
Feinsinnige Fantasy
Ins Auge fällt, wie ausgesprochen höflich alle Protagonisten miteinander umgehen. Flüche findet man so gut wie keine, den auftretenden Rittern tut es sogar leid, dass sie gegeneinander antreten müssen, weil sie keinen Konsens finden können. Es wirkt, als schienen hier Ishiguros japanische Wurzeln durch.
Mit viel Liebe und Gefühl begleitet der Erzähler die beiden Protagonisten auf ihrem Abenteuer. Die Handlung mag ordinär wirken: Die Helden ziehen aus, um etwas oder jemanden zu finden und am Ende sogar einen Drachen zu erschlagen. Doch in der Handlung finden sich, fein eingewoben, Botschaften und Denkanstöße.
In unserer Zeit scheint der Lebenspartner so austauschbar wie das nächste Smartphone. Da wirkt eine langjährige und innige Beziehung wie die zwischen Axl und Beatrice geradezu außergewöhnlich. Sie hat es ihnen ermöglicht, ihr Abenteuer gemeinsam durchzustehen. Axls stete Sorge um seine „Prinzessin“, wie er Beatrice nennt, ist herzerwärmend. Gerade die Einfachheit, in der Axl und Beatrice miteinander leben, macht die Geschichte interessant. Sie sind beide einfache Leute, keine großen Helden oder Ritter. Damit sind sie in einer ähnlichen Position wie der Leser. Dennoch sehen sie sich auf einmal einer Situation gegenüber, eine fremde Rolle einnehmen zu müssen und über Krieg oder Frieden zu entscheiden.
Mein Fazit
Zum Schluss bleibt eine Frage im Raum stehen: Was würde ich selber wählen – Frieden oder Erinnerungen? „Der begrabene Riese“ ist ein Buch, das lange nachwirkt.
Mancher Leser ist von den ersten Seiten des Romans vielleicht gelangweilt, doch andere sind von der ersten Seite an gefesselt. In „Leben“, dem vierten Teil seines autobiographischen Projekts, schildert der Autor die Zeit Mitte der 1980er Jahre, als er in einen neuen Lebensabschnitt startete.
Darum geht es im Leben
Nachdem Karl Ove Knausgård mit 18 das Gymnasium abgeschlossen hatte, ging er zunächst mit großen Plänen in den Norden Norwegens. Dort wollte er Schriftsteller werden, sich dem Alkohol und Sex hingeben und vor allem geregelte Arbeit vermeiden. Doch sobald der Protagonist seine Stelle angetreten hat, springt der Autor auch schon in die Vergangenheit. Der Leser erfährt von den Besäufnissen des Protagonisten, welche Musik er am liebsten gehört und welche Bücher er am liebsten gelesen hat. Der Autor erzählt sein Leben also nahezu lückenlos nach. Überstrahlt wird die Geschichte von der großen Frage nach der Zukunft und dem Verhältnis des Protagonisten zu seinem Vater.
Chronologie? Unnötig!
Zwar schildert Karl Ove Knausgård den Kampf seines Lebens, allerdings alles andere als chronologisch. Er springt zwischen den Zeiten, wie eben gerade die Erinnerungen kommen. Damit dürfte sich „Leben“ eher als Entwicklungsroman einordnen lassen, in dem ein junger Mensch versucht, seinen Platz im Leben zu finden. Dabei ist das Ziel für den Protagonisten klar: Er ist nicht in den Norden des Landes gereist, um Menschen kennenzulernen oder Erfahrungen zu machen, sondern um Ruhe zu finden. Zudem erzählt der Autor in seiner bekannt schmucklosen Weise vom Umgang mit den Schülern, die nur wenig jünger sind als er, und deren Selbstfindungsprozess. Zwar wirkt dieser Stil oft ausufernd, jedoch meist auch gnadenlos ehrlich. Es scheint, als hätte er die Reise in den Norden nur angetreten, um sich des Vaters zu entledigen. Jedoch kehrt er später zu ihm zurück, als er aus dessen Notizen zitiert.
Mein Fazit
Karl Ove Knausgård erzählt die bewegende Geschichte eines jungen Menschen, der sich von seinem zunehmend alkoholsüchtigen Vater abnabeln möchte. Er meistert dies auf eine äußerst unaufgeregte Weise und schildert in erster Linie die tatsächliche oder fiktive Realität. Wer den Stil und fiktional erzählte Realität mag, wird „Leben“ lieben.
Heute jährt sich der 10. Todestag meines Vaters. Das Schreiben der Biografie hat mich gelehrt, all das zu schätzen, was er mir in das Leben mitgegeben hat, und alles andere mit milderen Augen zu sehen.
Der Stand des COMPACT-Magazins in Halle 5 war nicht zu übersehen. Die Größe bis zur Decke lockte viele jüngere Leute an. Am Stand selbst habe ich eine bedrohliche Atmosphäre verspürt: Vor und hinter dem Tresen waren Security-Kräfte verteilt, die vereinzelt verbal und körperlich nicht zimperlich waren. Kritische Besucher am Stand, die versuchten, in eine Diskussion einzutreten, wurden mehrfach unter körperlicher Bedrängung zum Weitergehen aufgefordert. Mein Versuch, die beiden Spendenboxen am Stand zu fotografieren, wurde massiv behindert. Ein anderer Pressevertreter berichtete mir, er sei während der Fotoaufnahmen gefilmt worden.
Die COMPACT-Dialektik aus Magazin und sozialen Medien wurde in den Gesprächen seitens der Standmitarbeiter strikt vermieden. Keine Merkeldiktatur, keine Lügenpresse, kein Politikerpack. Ob Jürgen Elsässer da ähnlich zurückhaltend geblieben wäre? Er hatte wegen „eines schweren Krankheitsfalls in der Familie“ kurzfristig seine Anwesenheit in Leipzig abgesagt. Deutlicher wurde Martin Müller-Mertens, Chef vom Dienst des COMPACT-Magazins, bei der Vorstellung des COMPACT Spezial Nummer 9 „Zensur in der BRD“. Da werden Eva Hermann, Jürgen Elsässer, Elmar Hörig, Ken Jebsen und Akif Pirincci zu „Schicksalen und Opfern der Meinungszensur“; derselbe Elmar Hörig, der nach den Anschlägen auf dem Brüsseler Flughafen am 22. März twitterte (41 Likes, 8x geteilt)
„Musste es unbedingt der Brüsseler Flughafen sein ? Europaparlament hätte voll und ganz gereicht ihr kranken Arschlöcher #betterlucknexttime
Zensur, so MMM, werde aktuell in Deutschland durch „öffentliche Hinrichtung“ betrieben. „Mißliebige Autoren“ würden durch Medienkampagnen „fertiggemacht“, es gebe Rufmord und Bedrohungen. Philosoph Peter Feist, Gesprächspartner von MMM, erläuterte das COMPACT-Motto „Mut zur Wahrheit“: „Die Wahrheit ist das Ganze, und COMPACT steht für den Teil der Wirklichkeit, der normalerweise weggelassen wird.“ Auch hier: Keine Merkeldiktatur, keine Lügenpresse, kein Politikerpack. Peinlich wurde es, als MMM aus dem Publikum aufgefordert wurde, die umstrittene „KZ-Äußerung“ von Akif Pirincci zu zitieren, wobei er sich wand und kläglich versagte.
Die vier Tage auf der Leipziger Buchmesse kommentierte MMM auf der COMPACT-Internetseite direkt am Tag danach, und da gab es keine Zurückhaltung mehr:
„Eine erwartete Provokation war unser Messestand dagegen für Feinde von Demokratie und Pressefreiheit, die sich leider auch in Leipzig breitmachen konnten… Natürlich ließ sich COMPACT von der sich links nennenden Neo-SA nicht einschüchtern. Dennoch war und sind wir entsetzt, welches Klima der Angst und Einschüchterung Antidemokraten in Leipzig offenbar vorschwebt.“
Zu weiteren Eindrücken rund um COMPACT möchte ich auf die Kollegen von SPIEGEL ONLINE verweisen.
Es ist wunderbar zu sehen, wenn ein Buchmensch in seiner Aufgabe aufgeht und sein Gesicht dabei „Bände spricht“. So geschehen zum Auftakt des zweiten Buchmessetages bei der Pressepräsentation zu 50 Jahren Stiftung Buchkunst. Geschäftsführerin Katharina Hesse ist einer meiner bleibenden Eindrücke von der diesjährigen Buchmesse. Wie ich sie erlebt habe, sagt Band 2 des Wörterbuches der deutschen Sprache von Joachim-Heinrich von Campe (Braunschweig, 1808):
„Ein sprechendes Gesicht, das viel Ausdruck hat, besonders, viel Geist, Lebhaftigkeit verräth.“
Was sie erzählt hat? Hiernachlesen.
Danke für die Fotos an Gerd Eiltzer
Anja Bagus lieferte vor der Leipziger Buchmesse einen Aufreger für Autoren und Blogger mit der provokativen Frage, ob denn ein Lektorat ein Qualitätskriterium für ein Buch sein könne. Am Buchmessesonntag gegen elf Uhr startete die nächste Rakete. Und auch diese Provokation war geplant und getimt: Auf der ersten Bloggerkonferenz der Leipziger Buchmesse eröffnete Karla Paul den Diskussionssonntag mit einer zunächst harmlos klingenden Aufforderung an Literaturblogger. „Raus aus der Flauschzone!“, so ihr Appell. 17 Minuten Explosives. Mir wurde das erst beim Nachlesen und Nachhören klar.
Und weil ich mir noch nicht klar bin, inwieweit ich dieser Revolution folgen werde und inwieweit dies meinen Bloggeralltag und das Aussehen meines Blogs verändern könnte, möchte ich an dieser Stelle nur einige Denkanstöße geben. Lassen wir Karla Paul zu Wort kommen (Hervorhebungen von mir):
„[1] Stets wird sehr gönnerhaft über diese paar Blogger gesprochen, die Bücher mit Heißgetränken auf Instagram posten, die für ihre Lektüre Schmetterlingspunkte vergeben, sich gegenseitig via Facebook Blogstöckchen zuwerfen und deren Seiten vor Flausch kaum ladbar sind. Niedlich, dieses herzige kleine Ökosystem Young-Adult-lesender Katzenbesitzer, die ihre Bücher nach Farbe sortieren und zum aktuellen Lieblingsbuch gleich noch den passenden Tee samt Nagellack empfehlen.
Niedlich ist hier einzig und allein die Naivität des Feuilletons samt derer Redakteure, für deren angeblich so wichtige Tradition sich niemand mehr außerhalb ihrer eigenen Welt interessiert – die Literatur ist bereits vor Jahren ins Netz abgewandert und wait, sorry not sorry, sie hat nicht einmal um Erlaubnis gefragt.
[2] Aber verdammt noch eins, wir haben 2016 – kommt endlich raus aus Eurer Emo-Flauschzone und stellt Euch der dringend notwendigen Professionalität, denn Ihr macht Werbung für das wichtigste Medium überhaupt. Literatur verändert Menschen und benötigt Euch als Botschafter. Wo Mode- und Lifestyleblogs längst zu eigenen Unternehmen geworden sind, habt Ihr weder Mediadaten noch Nutzeranalysen, SEO-Optimierung ist ein Fremdwort, kein Affiliatesystem und auf Nachfrage reicht Euch allein das Herzblut, aber excuse me – davon kann man keine Miete bezahlen. Ihr liebt Literatur? Dann steht dafür auf und beweist, dass Euch das Thema so wichtig ist, dass Bücher so lebensverändernd sind, dass sich die Instagram-Fans lieber den neuen Juli Zeh Roman anstatt den Bibis Beautypalace Bodyschaum kaufen. Literatur ist eine Milliardenindustrie und Ihr findet ernsthaft kein anderes Geschäftsmodell als Herzblut? Verlage geben lieber Millionen an Marketingbudget für Plakatwände und Zeitungsanzeigen aus als für Euch, weil Ihr Euch mit Sprechstunden, Leseexemplaren und Geschenkpäckchen für zehn Euro zufrieden gebt, dabei hat Eure Arbeit einen nachweisbaren Wert. Der Kauf ist nur einen Klick entfernt und die Leser vertrauen Euch längst weit mehr als jedem Journalisten.
Ist meine Meinung weniger wert, nur weil ich mit Literatur tatsächlich meinen Lebensunterhalt verdiene oder vielleicht sogar mehr, weil ich meine Arbeit rund ums Buch mit Selbstbewusstsein und Zahlen untermauere, weil ich für meine Haltung einstehe und ganz klar die Folgen und den Einfluß meiner Empfehlungen komuniziere? Warum stehe ich hier und Ihr nicht, obwohl ich im letzten Jahr nicht einmal ein halbes Dutzend Rezensionen geschrieben habe? Und sagt jetzt nicht: ich will wie Karla werden. Werdet gefälligst besser!
Wir haben zusammen die Literatur demokratisiert, wir geben ihr im Netz tausend Stimmen und Möglichkeiten. Die Zeiten sind vorbei, dass wir uns als Nerds belächeln lassen müssten, dass wir einsam und allein in der Ecke sitzen und einzig die jeweiligen Buchcharaktere als Freunde haben.
[3] Professionelles Arbeiten und Leidenschaft schließen sich nicht aus, ganz im Gegenteil – zusammen macht es uns besser, lasst Euch nichts anderes erzählen. Ich hoffe, dass Ihr von dieser Messe und auch dieser Veranstaltung neben viel Motivation sehr viel neues Wissen mitnehmt und dies nutzt. Dass es Euch zu besseren Lobbyisten für die Literatur macht. Kommt raus aus Eurer Nerdecke, werdet Vollprofis für die leidenschaftliche Hingabe zum Buch! Lasst Euch nicht kleinreden für das, was Ihr täglich für Literatur leistet.“
Den deutlichsten Gegenwind gab es von Stefan Holzhauer auf phantanews.de (Hervorhebungen von mir):
„[1] … Und wenn ich das lese, geht mir ordentlich der Hut hoch, wenn gefordert wird, dass Blogs sich professionalisieren müssen. Einen Scheiß müssen Blogs. Das ist allein Wunschdenken der Branche.
[2] Das “wichtigste Medium überhaupt”? Das zeugt dann doch von einiger Realitätsferne. Wie das Statistische Bundesamt kürzlich veröffentlichte, liest der Deutsche pro Woche im Durchschnitt (!) dreidreiviertel Stunde. Das ist gerade mal knapp über eine halbe Stunde am Tag und noch nicht mal allein für Bücher, da geht das Lesen von Zeitschriften und Zeitungen mit ein. Das ist im Vergleich mit der Nutzung anderer Medien (Internet, Filme, Fernsehen, Computerspiele, Apps, soziale Medien) sogar eher wenig.
Und dann kommt direkt die unsägliche Forderung nach der Professionalisierung. Wer so etwas schreibt, hat noch nicht mal ansatzweise verstanden, was Blogs eigentlich sind, und wozu sie dienen. Wer so etwas fordert, insbesondere gleich mit Hinweis auf Mediadaten, SEO, Nutzeranalysen oder Affiliate-Anbindungen, der fordert das nicht für euch Blogger. Denn ihr kommt prima ohne so etwas aus. Wichtig sind solche Analysedaten ausschließlich für die Verlage, die unbedingt handfeste Zahlen dazu haben wollen, wie ihr ihnen genau nutzt. All dieses Professionalisieren dient letztendlich ausschließlich dazu, damit die Verlage ihre Prozesse optimieren können, vom Aufwand her und eben letztenmdlich wirtschaftlich. Wenn ihr dann alle datenschutzrechtlich möglicherweise bedenkliche Zählpixel eingebaut habt, und den Verlagen Nutzeranalysen liefert, dann könnte es schneller sein, als euch liebt ist, dass nur noch der mit den meisten Nutzern oder Zugriffen die ach so beliebten Rezensionsexemplare bekommt, über die er dann ohne Honorar schwärmen darf.
[3] Verlage geben im Gegensatz zu dem was Frau Paul sagt, sogar sehr gerne Werbebudgets für euch aus, weil sie genau wissen, wie zielgenau dieses Geld bei euren Lesern ankommt und direkt Käufe generiert, eben viel genauer als sonstige Werbemaßnahmen. Eben weil ihr für eure Leser inzwischen eine glaubwürdigere Quelle seid, als Werbung allgemein oder irgendwelche Profi-Journalisten.
Nochmal ganz deutlich: Es geht nicht um euch, die Blogger, oder eure Blogs. Die Professionalisierung dient einzig und allein den Verlagen und deren Interessen.
[4] Und sie nennt ernsthaft “Herzblut” und “Geschäftsmodell” in einem Satz. Beklagt sich sogar darüber, dass “die Blogger” kein anderes Geschäftsmodell finden, als Herzblut. Angesichts solcher pur aufs Knetemachen ausgelegten Denke könnte ich kotzen. Nicht alles im Leben ist Geschäftsmodell. Das Herzblut, die Motivation, die Authentizität derjenigen, die für die Verlage bisher kostenlos Werbung machen, derartig abzukanzeln, ist eine Stufe von kapitalistischer Arroganz, die ich für geradezu widerlich halte.“
Ich bin verwirrt. Und nun? Leider konnte ich auf den Bloggersessions nur zwei Stunden bleiben und die weiteren Diskussionen nicht verfolgen. Mein Literaturblog ist Herzblut. Kostet Zeit. Bringt keine Einnahmen. Meine Gastrezensenten erhalten das Rezensionsexemplar und ewigen Ruhm. Mehr nicht. Ich habe ein gutes, teilweise persönliches Verhältnis zu den PR-Abteilungen der Verlage. Soll das jetzt alles nicht mehr ausreichen? Soll das jetzt alles schlecht sein? Meine Leser vertrauen den Empfehlungen meiner Autoren. Wird das immer noch so sein, wenn ich Beiträge als Anzeige kennzeichne? Ich habe noch keine Antworten, bisher nur die eine: Ich fühle mich wohl mit meinem Modell. Nennen Sie es flauschig, Frau Paul. Und sagen Sie mir: Warum soll ich meine Komfortzone verlassen? Warum soll ich alles aufs Spiel setzen?
Dass Holger Mann die Moderation zur Lesung von Daniela Krien übernommen hatte, war ein kluger Schachzug. Die zehn Geschichten aus dem Erzählband „Muldental“ lassen sich nicht isoliert von der politischen und wirtschaftlichen Realität im Deutschland der (Nach-)Wendezeit lesen.
Daniela Krien liest „Freiheit“ und „Sommertag“ – zwei Titel, die doch eher Hoffnung schöpfen lassen. Doch es offenbaren sich menschliche Abgründe, Auswüchse des rechtlich so genannten Beitritts von Hoffen und Scheitern bis zu persönlicher Verzweiflung ohne Ausweg. Es sind Texte, die zur Lektüre vor dem Einschlafen nicht taugen. „Ich freue mich, wenn die Geschichte stark auf den Leser wirkt“, sagt Daniela Krien. „Doch beim Schreibprozess ist das noch nicht beabsichtigt.“
Die Figuren ihrer Geschichten (oder sind es Miniaturen? Gar Gesellschaftsspitzen?) sind zum Teil angelehnt an real existierende Menschen, entstammen aber nicht der eigenen Biografie. So ist der arbeitslose und alkoholabhängige Otto aus „Sommertag“, der nach seinem Scheitern den Freitod wählt, aus einer eher beiläufigen Bemerkung bei einer Krien’schen Familienfeier heraus angelegt worden. „Da horche ich auf, mache mir Notizen, und irgendwann wird es verwendet.“ Der Kniff: Daniela Krien recherchiert nicht akribisch nach („ich bin schließlich keine Journalistin“), sondern ist bestrebt, direkt ins Literarische zu gelangen. Das Thema Spätabtreibung („Freiheit“) hat Daniela Krien besonders beschäftigt. „Ich hatte das zuvor gar nicht für möglich gehalten“, zeigt sie sich immer noch betroffen.
An einem Leseabend während der Buchmesse drängt sich der Blick auf die Ergebnisse der jüngsten Landtagswahlen auf. Daniela Krien lässt sich bereitwillig darauf ein. Nicht alle seien nach der Wende angekommen. Bis zu zwanzig Prozent der Bevölkerung hätten sich inzwischen aus der Zivilgesellschaft verabschiedet, müssten sich von Politikern als „Pack“ beschimpfen lassen. Und ja, ihre Figur Otto könnte durchaus zu einem der PEGIDA-Spaziergänger oder AfD-Wähler geworden sein. „Ich lege meine Figuren nicht politisch an, aber einige rücken in diese Nähe.“
Holger Mann gibt einen Leseeindruck wieder, den ich teile: Daniela Krien setzt ihre Figuren nicht nur dem Mitleid der Leser aus. Sie reicht auch die Hand zur Versöhnung.
Danke für einen beeindruckenden Leseabend abseits lauter Buchmessetöne.
Etwa 60.000 Menschen werden dem sorbischen Kulturkreis zugerechnet, so eine Schätzung aus der Wendezeit. Davon leben rund zwei Drittel in der sächsischen Oberlausitz. Geschätzt 20.000 bis 25.000 Menschen sprechen noch aktiv Sorbisch. Das Sorbische kennt zwei Haupt-Schriftsprachen: Obersorbisch, dem Tschechischen und Slowakischen nahestehend, und Niedersorbisch, das der polnischen Sprache ähnlicher ist. Dazu gibt es zahlreiche Grenzdialekte. Die ersten Druckerzeugnisse in beiden Sprachen waren übrigens Werke von Martin Luther. Niedersorbisch ist akut vom Aussterben bedroht (hier bereits 2003 beschrieben). Dies ist eine besondere Herausforderung für Künstler sorbischer Sprache.
Zwischen den sorbischen Literaten gibt es seit Jahrhunderten Ost-West-Kontakte. Diese Linien werden jetzt in der überregionalen deutschen Zeitschrift für Literatur und Kunst BAWÜLON nachvollzogen. Die Publikation aus dem Ludwigsburger POP-Verlag fühlt sich der europäischen Idee verpflichtet. Die Ausgabe 1/2016 vereint Sorben und ihre Freunde in einer prachtvollen Edition auf über 270 Seiten.
Speerspitze der sorbischen Kultur ist die Domowina, der Bund Lausitzer Sorben e. V., der im Jahr 1912 einhundert Jahre seines Bestehens feierte. Jedes Jahr in Bautzen wird ein internationales Fest der sorbischen Poesie gefeiert. Ebenfalls in Bautzen vertritt seit 1958 der Domowina-Verlag als Nationalitätenverlag der Sorben das sorbische Schrifttum. In der Reihe „Die sorbische Bibliothek“ wird sorbische Literatur in deutscher Sprache verlegt, es gibt sorbische Kinderbücher, und Schulen werden mit Lehrmaterial in sorbischer Sprache versorgt. In der Smoler’schen Verlagsbuchhandlung mit Antiquariat steht die gesamte Palette sorbischer Literatur zur Verfügung.
Mein persönlicher Kontakt zur sorbischen Kultur ist Marion Quitz, vielseitige Künstlerin mit Wohnsitz Leipzig und Frontfrau der sorbischen Band Kupazukow. Ihr Engagement zeigt mir, welchen Stellenwert das Gefühl der Heimat im Leben hat. Ich habe das erst spät erkannt. Mein Weg nach Ostfriesland ist der Ausdruck dieses Gefühls.
Die Leipziger wissen es: Die Ahmadiyya Muslim Jamaat-Gemeinde will im Stadtteil Gohlis eine Moschee errichten. Es gab heftige Proteste, das Baugrundstück wurde zweimal geschändet. Abdullah Uwe Wagishauser, 1976 zum Islam konvertiert und seit 1984 amtierender Bundesvorsitzender der Glaubensgemeinschaft, kennt Leipzig inzwischen gut. Auf der Buchmesse erläuterte er jetzt die Friedensbotschaft des Islam. Mitglieder der Gemeinschaft verteilten Informationsbroschüren mit der Botschaft „Liebe für alle – Hass für keinen“.
Die Ahmadiyya Muslim Jamaat wurde 1889 in Pakistan von dem späteren ersten Kalifen Hazrat Mirza Ghulam Ahmad gegründet. Der Gründer veröffentlichte bereits 1882 „Beweise für die Wahrhaftigkeit des Islams“. Ahmad hielt sich selbst für den Reformer des 14. Islamiaschen Jahrhunderts und gleichzeitig auch für „den erwarteten, verheißenen Messias und Mahdi“ mit dem Anspruch, die Muslime zu reformieren. Damit stehen die Ahmadiyya im Gegensatz zu allen anderen islamischen Religionsrichtungen.
Abdullah Wagishauser nimmt eine klare Einordnung der Ahmadiyya vor: „Wir sind eine dynamische Bewegung und sehen uns als liberal, aber wertekonservativ.“ Die Bewegung stehe zu den Werten des Islam, gestatte aber auch, den Glauben wissenschaftlich und kritisch zu hinterfragen. Klar wende sich die Ahmadiyya gegen eine Radikalisierung des Islam: „Ein Salafist traut sich nicht, mit einem Ahmadi zu diskutieren“, so jüngst geschehen bei Sandra Maischberger, als Maryam Hübsch zugunsten von Pierre Vogel ausgeladen worden sei. „Ein Terrorist sollte auch so benannt werden. Die Quellen des Islam lehren Frieden, und dafür führen wir auch innerhalb des Islam eine Auseinandersetzung.“
Für Ahmadis, so Wagishauser, sei es selbstverständlich, loyal zu ihrem Gaststaat zu stehen. Im übrigen sei es an der Zeit, vermeintlich islamische Schreckensbegriffe wie „Sharia“ und „Dschihad“ zu entmystifizieren. So bedeute „Sharia“ nichts anderes als „Weg zur Quelle“ und keineswegs den Vollzug islamischen Rechts mit drastischen Strafen. „Und ich sehe mich selbst als Dschihadist – als Bildungsdschihadist“, betont Wagishauer mit Hinweis auf das hohe Bildungsniveau der jungen Mitglieder von Ahmadiyya. Und noch einen Punkt öffentlicher Auseinandersetzung spricht Wagishauser an: Das Verhältnis zu Frauen basiere auf der Forderung des Propheten Mohammed „Der Beste unter Euch ist derjenige, der seine Frau am besten behandelt“.
Ein Frage- und Antwortspiel mit zwei Publikumsfragen an einem Sonntagnachmittag kann nicht alle offenen Fragen klären. Ich hatte im November 2013 die Gelegenheit, mich auf einer Tagesfahrt in der Khadiya-Moschee Berlin-Heinersdorf zu informieren. Zu mehreren Anlässen in Leipzig konnte ich mit Imam Said Ahmad Arif sprechen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Frieden für Muslime wie für Christen ein Grundanliegen ist und dass es sich immer lohnt, miteinander ins Gespräch zu kommen.
Der erste Buchmessetag 2016 war mein „Tag der Kriegsenkel“. Am Nachmittag überreichte ich dem Acabus Verlag das Manuskript der Lebensbiografie meines Vaters, die zu weiten Teilen vom Thema Kriegsenkel durchzogen ist. Am Vormittag stellten die Autoren Raymond Unger („Die Heimat der Wölfe“) und Matthias Lohre („Das Erbe der Kriegsenkel. Was das Schweigen der Eltern mit uns macht“) ihre Bücher zum unverarbeiteten Kriegstraumata vor. Die Parallelen sind verblüffend.
Raymond Unger (Jahrgang 1963) legt ein „anderes“ Kriegsenkelbuch vor: kein Sachbuch, sondern eine in Anekdoten erzählte Familiengeschichte, die Persönliches seiner Vorfahrengenerationen aus Bessarabien (heute Moldawien) mit europäischer Geschichte verwirkt. Unger nutzt dafür eigene Erinnerungen, Tagebücher und Tonbandaufzeichnungen. „Vor fünf, sechs Jahren“, so der Autor, der auch als Kunstmaler, Coach und Psychotherapeut tätig ist, „hätte ich den Begriff Kriegsenkel noch gar verwendet. Ich hätte ein Buch über Familientraditionen, über Sucht und fundamentale Religionen geschrieben.“ Doch während der Arbeit sei ihm klar geworden, dass es tiefere Gründe gebe für akute Probleme in Familienstrukturen: „Die verkannten Kriegstraumata der Großeltern- und Elterngeneration, die Dämonen der 1940er Jahre, konnten weder durch Alkohol noch durch exzessive Hobbys gebändigt werden. Und ich, kinderloser Angehöriger der Babyboomer-Generation, beende jetzt den Reigen der Weitergabe und steche die giftigen Blasen auf.“
Ich habe erste Kapitel gelesen. Wie mein Vater, erzählt Unger nicht zeitlich chronologisch, sondern setzt im Erzählfluss zeitliche und örtliche Orientierungsmarken für den Leser. Seine Familienchronik, beginnend im Jahr 1924, drei Jahre vor der Geburt meines Vaters, zeichnet ebenso ein Sittengemälde der Zeit: hier Überleben und Anpassung im Dritten Reich, dort der allmähliche Verfall des deutschen Wirtschaftswunders. Die Wahl eines anekdotischen Familienromans erweist sich als richtig: So wird der Stoff prägnanter und zugleich unterhaltsamer.
„Die Elterngeneration krempelte die Ärmel auf, um die äußeren Trümmer zu beseitigen. Die seelischen Trümmer zu beseitigen – das ist Aufgabe der Enkel.“
Dieses Zitat vom Kriegsenkel-Kongress in Göttingen umreißt klar die Aufgabe: Nicht verdrängen, sondern sich in den (Gegen-)Wind stellen, zuhören und kraftvoll bewältigen. Doch das geht nicht ohne Hilfe der Alten, ohne Unterstützung derer, die nur selten ihr Schweigen über erlebtes Grauen brechen und ihre Traumata stumm weitergeben. Matthias Lohre (Jahrgang 1976) ist Politikjournalist in Berlin. Sein Ansatz: Nicht verarbeitete Traumata der Großelterngeneration erzeugen bei Kriegsenkeln mangelndes Selbstwertgefühl, Schuldgefühle und diffuse Ängste. Sie leiden unter einer Katastrophe, die sie selbst nicht erlebt haben. Lohre beginnt seine Nachforschungen nach dem Tod seines Vaters Ende 2012, geht die Wege seiner Eltern (Jahrgänge 1931 und 1937) nach, spricht mit noch lebenden Verwandten und zieht Therapeuten hinzu. Er muss „mitten hinein springen ins tiefe Dunkle, was uns trennt.“ Die mögliche Lösung ist Versöhnung.
Videointerview mit dem Autor hier
Lesungstipp: Matthias Lohre liest am Freitag, 22. April 2016, ab 19:00 zum „Elbe Day“ in der Stadtbibliothek Torgau.