Rezension: Darragh McKeon, Alles Stehende verdampft

Ein Tag im April 1986 veränderte alles: Im Atomkraftwerk Tschernobyl war es zu einem Super-GAU – einem für die fortschrittsgläubigen Sowjets unvorstellbaren Ereignis – gekommen. Die ausgetretene Strahlung führte zu Umweltkatastrophen und persönlichen Tragödien. Nachdem die Nachrichten den Eisernen Vorhang passiert hatten, bekam die grüne Bewegung Rückenwind und erstmals wurde ernsthaft über den Ausstieg aus der Atomenergie nachgedacht und gesprochen. Das Reaktorunglück und vor allem die Folgen sind das Thema von Darragh McKeons Debütroman.

Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de
Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de

Ein Kaleidoskop an Geschichten
Von einer Minute auf die andere ist nichts mehr wie es war: Nicht für den 13jährigen Artjom, der erstmals mit den Männern des Dorfes auf die Jagd gehen darf, und als einer der ersten eine erschreckende Entdeckung macht. Er bemerkt, dass das Vieh auf den Weiden aus den Ohren blutet und Vögel vom Himmel fallen. Nicht mehr für den Chirurgen Grigori. Nicht mehr für seine Exfrau Maria und ihren Neffen, das Klavierwunderkind Jewgeni.

Keine der Hauptfiguren und zahllosen Nebenfiguren, deren Geschichte Darragh McKeon erzählt, bleibt von dieser Katastrophe unberührt. Und langsam entsteht im Kopf des Lesers das Bild einer untergehenden Supermacht, die ihr eigenes Schicksal nicht begreifen will. Während die einen, darunter auch Grigori, unmittelbar mit dem Leid konfrontiert werden, bemerken andere die Veränderungen nicht oder nur schleichend. Und dennoch gibt der Autor seinem Werk mit einem Zeitsprung ins Jahr 2011 – Jewgeni ist inzwischen ein gefeierter Pianist – einen fast versöhnlichen Schluss.

Wenn das Grauen zur Realität wird
Darragh McKeon erzählt seine Geschichte ohne jegliche Wertung und mit viel Liebe zum Detail. So erwähnt er in einer Randnotiz etwa auch Mathias Rusts Flug nach Moskau und die Landung auf dem Roten Platz, die für großes internationales Aufsehen sorgte. Auch Grigoris verzweifelte Versuche, vor den Gefahren der atomaren Strahlung zu warnen, werden durchaus realistisch geschildert. Die Szenen, in welchen die Auswirkungen des Super-GAUS auf die Menschen geschildert werden, wirken hingegen fast lakonisch nüchtern. Beispielsweise, wenn der Autor von den riesigen Geschwülsten erzählt oder von dem Mädchen, das ohne Scheide geboren wird und deshalb notoperiert werden muss. Das Grauen dieser Szenen wird für den Leser umso greifbarer, als sich diese wohl tatsächlich so oder so ähnlich zugetragen haben könnten.

Mein Fazit
Darragh McKeon ist trotz einiger unnötiger Längen im Storytelling ein hervorragender Erstlingsroman zu einem anspruchsvollen Thema gelungen. „Alles Stehende verdampft“ dürfte vor allem so manchem Leser der Generation 40plus eine Gänsehaut bescheren, die sich an die Katastrophe von Tschernobyl als junge Zeitzeugen erinnern.

Darragh McKeon, Alles Stehende verdampft
Ullstein, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Alles-Stehende-verdampft-9783550080845
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Meine Familie und die NS-Zeit

Ich hatte angekündigt, dass der Text schreckliche Neuigkeiten über meine Familie birgt. Ich will es nicht selbst erzählen, sondern meinen Vater sprechen lassen:

„Wir wendeten auf unserer Wiese am Schwalenberg gerade das Heu, als ein Auto anhielt und Kreisleiter Buscher aus Aschendorf ausstieg. Er kam auf meine Eltern zu und begrüßte sie. da ich mich am anderen Ende der Wiese aufhielt, konnte ich den Beginn des Gespräches nicht hören. Als ich näher kam, hörte ich Folgendes:

Der Ortsgruppenleiter der NSDAP, Robben, war zur #Wehrmacht eingezogen worden. Nun müsse diese Aufgabe ein anderer übernehmen. Ich übertrage Ihnen, Herr Plaisier, dieses Amt mit sofortiger Wirkung. Ihre Frau übernimmt das Amt der Frauenschaft . Heute muss jeder Deutsche seine Pflicht erfüllen.“

Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit, die ich nie zuvor geahnt habe.

Biografie und Familienforschung

Neben der Biografie beschäftige ich mich auch mit Familienforschung. Seit Mitte der 1980er Jahre erforsche ich die Geschichte meiner Familie.

Alles begann mit einem Ahnenpass auf dem Dachboden meines Onkels in Aschendorf, einem Ortsteil von Papenburg. Die Jahre danach habe ich während meines Urlaubs in den Wohnzimmern von Pastoren gesessen und Kirchenbücher gewälzt. Ich habe viel gelernt, war gefesselt von kunstvoller Schrift und tragischen Familienereignissen. Inzwischen hat sich die Forschung durch das Internet weitgehend auf elektronische Quellen verlagert.

Mein Familienname lässt auf französische Wurzeln schließen, und so ganz falsch ist das auch nicht. Er hängt mit der französischen Besatzung Ostfrieslands durch napoleonische Truppen zusammen. Aus der ursprünglichen Suche in Ostfriesland und im Emsland hat sich ein #Stammbaum mit inzwischen über 16.000 Mitgliedern entwickelt, der bis in die USA reicht. Dazu kommen Fotos und persönliche Zeugnisse aus Briefen und Urkunden bis in die Zeit Karls des Großen.

Bei Interesse stelle ich gern einen Link zu meinem Familienstammbaum auf ancestry.com zur Verfügung.

Rezension: David Foenkinos, Charlotte

Bücher über Künstler gibt es viele. Biografien, Analysen, Erklärungen, alle haben ihre Berechtigung. Kaum einem Buch gelingt es aber, das Wesen eines Künstlers, seinen Antrieb bei der Schaffung seiner Werke und seine Kunst an sich zu erfassen. Kann dies überhaupt möglich sein? David Foenkinos versucht in „Charlotte“ das Unmögliche: von Charlotte Salomon nicht nur zu schreiben, sondern sie wieder lebendig werden lassen.

Quelle: www.randomhouse.de
Quelle: www.randomhouse.de

Scheitern an der Realität
Über Charlotte Salomon hängt ein dunkler Schatten: in der Familie ihrer Mutter geht eine psychische Erkrankung um, die früher oder später die meisten der Betroffenen in den Selbstmord treibt. So auch Charlottes Mutter, als sie selbst noch ein kleines Kind ist. Der Vater, ein angesehener Arzt, ist untröstlich und verliebt sich doch wieder in die gefeierte Sängerin Paula. Damit zieht Leben in das Haus der Salomons ein: Künstler und Intellektuelle geben sich die Klinke in die Hand. Und Charlotte entdeckt ihr Talent und ihre Leidenschaft: sie möchte Malerin werden. Doch im Deutschland der 1930er Jahre, nach der Machtergreifung der Nazis, muss sich die jüdische Familie Salomon der Realität beugen. Charlottes Traum eines Kunststudiums scheint zu platzen. Als sich die Ereignisse immer mehr zuspitzen, flüchtet Charlotte schließlich zu den Großeltern nach Südfrankreich. Sie gewinnt damit ein paar Jahre Zeit, um zu leben, sich zu verlieben und auch, getrieben von der Angst vor den Nazis, um ihr Leben in einer gemalten Bildgeschichte für immer aufzuzeichnen.

Ungewöhnlicher Stil macht die Geschichte lebendig
David Foenkinos erzählt „Charlotte“ auf ganz eigene Art und Weise. Kurze Sätze, viele Absätze, kein fließender Text. Ein ungewöhnlicher Stil für eine ungewöhnliche Künstlerin und ihre Geschichte. Diese Art des Erzählens, von der Foenkinos im Buch selbst sagt, sie habe sich ihm aufgezwungen, schafft das, was eher unmöglich scheint: Charlotte und ihre Familie werden lebendig. Obwohl nicht sehr detailreich, habe ich als Leser doch das Gefühl, nicht aus der Ferne zu beobachten, sondern immer mitten im Geschehen zu sein. Exemplarisch am Beispiel von Charlotte Salomon lebt so das Grauen eines Zeitalters wieder auf.

Fazit
Künstler haben nicht umsonst den Ruf, ein wenig wirr, launisch und sprunghaft zu sein – und dennoch Großes schaffen zu können. In „Charlotte“ spiegelt das ganze Buch genau dieses Klischee wieder, das keines ist. Ich werde gefangen genommen – und hoffe bis zum Schluss, alles möge gut enden, obwohl ich es doch besser weiß.

David Foenkinos, Charlotte
DVA, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Charlotte-9783421047083
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezension: Yorck Kronenberg, Tage der Nacht

Fast alle Menschen haben diese Erinnerungen, die nur schemenhaft sind und im Hintergrund lauern. Erinnerungen, die prägen, und doch vergessen werden müssen, will man geistig gesund blieben. Nur in den langen Nächten, wenn der Schlaf fehlt, sind sie plötzlich wieder greifbar. Yorck Kronenberg begleitet in seinem Roman „Tage der Nacht“ seinen Protagonisten durch eben jene Nächte, auf der Suche nach Schlaf und Erlösung.

Quelle: www.dtv.de
Quelle: www.dtv.de

Vergessen, aber nicht vergeben
Anton ist Literaturwissenschaftler aus Frankfurt und zieht nach der Pensionierung mit seiner Frau in ein Haus in einem englischen Küstenstädtchen. Dort, fernab der Großstadt, wähnt er sich in Ruhe und Sicherheit, doch das täuscht. Eines Nachts brechen drei Personen in das Haus ein und rauben Anton aus. Obwohl er und seine Frau unverletzt bleiben, weckt das Erlebnis die Erinnerung an seine Kindheit in Berlin in den 1930er und 1940er Jahren. Längst wähnte Anton diese vergessen, doch sie sind plötzlich wieder präsent und rauben ihm den Schlaf. Als Kind war „Toni“ hin- und hergerissen zwischen dem Musiker-Vater, der das Hitler-Regime verachtete und vielleicht auch deswegen künstlerisch eher erfolglos war, sowie der Mutter und dem Großvater, in dessen Uhrenwerkstatt Hitler offen befürwortet wurde. Mit der Verständnislosigkeit des Kindes erlebt Toni die Beziehungskrisen der Eltern und muss schließlich mit ansehen, wie der Vater verhaftet und abgeführt wird. Getrieben von diesen Bildern, macht sich der alte Anton schließlich in einer schlaflosen Nacht auf eine Wanderung entlang der Küste, um sich den erlebten Traumata aus allen Zeiten zu stellen.

Wenn Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen
Yorck Kronenberg spielt in „Tage der Nacht“ mit verschiedenen Zeitebenen: Das Kind Toni, Anton während des Überfalls und Anton im Jetzt wechseln sich ohne sichtbare Kennzeichen und logische Reihenfolge ab. Ganz so, wie es im Kopf von Anton vermutlich von einer Szene zur anderen springen würde. Damit gelingt Kronenberg ein aufwendiges Bild von Antons Psyche, ganz ohne Pathos, das dennoch vermittelt, wie sehr die einzelnen Ereignisse seine Persönlichkeit prägten.

Fazit
„Tage der Nacht“ ist ein eher stilles Buch, das ein sehr genaues Psychogramm eines Menschen zeichnet, der unter dem Nazi-Regime aufgewachsen ist. Durch den kindlichen Blick ist der Eindruck des Erlebten viel unverfälschter und stärker, als es eine Psychoanalyse je sein könnte. Wer sich auf die plötzlichen Sprünge in Antons Gedankenwelt einlässt und zuhört, wird begreifen, warum wir manches nie vergessen dürfen.

Yorck Kronenberg, Tage der Nacht
dtv, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Tage-der-Nacht-9783423280600
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Ein Albtraum

Mir träumte in der Nacht, dass ich wenige Tage vor der Veröffentlichung des Buches an einem Herzinfarkt verstorben sei. Im Text meines Vaters wird nur wenig gestorben, mal auf dem Schlachtfeld des Krieges, mal in einem der Emslandlager. Doch es ist alles sanft, seicht, für mich zu distanziert. So werde ich einigen Kapiteln des Originaltextes den Kommentar eines Experten hinzufügen. Es ist meine Aufgabe als Herausgeber, den Text nicht nur behutsam anzugleichen, sondern auch, wo notwendig, in den historischen Kontext zu stellen.

Es gibt Ostfriesland, und es gibt das Emsland…

Es gibt Ostfriesland, und es gibt das Emsland. Wenn ich heute dort hindurchfahre, sehe und spüre ich keine Grenze. Für meinen Vater war Ostfriesland das Paradies, das Emsland dagegen der Vorhof zur Hölle. Die Kapitelüberschriften machen das sehr deutlich: Er erzählt über die „Bockhorster Hexenjagd“ und erinnert sich „Heiden müssen draußen bleiben“. Da steht das liberale lutherische und lutherisch-reformierte Ostfriesland dem dogmatisch strengen katholischen Emsland gegenüber. Da wurde seine Mutter, meine Großmutter, der Hexerei beschuldigt – nicht im Mittelalter, sondern in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. Da durfte mein Vater als Schüler evangelischen Glaubens nicht an der Beerdigung einer katholischen Mitschülerin teilnehmen.

Leipziger Erfolgsautoren signieren bei Lehmanns

Zwei der erfolgreichsten Leipziger Autoren signieren in den nächsten Tagen bei Lehmanns Media in der Grimmaischen Straße.

Zum Nikolaustag am verkaufsoffenen Sonntag, dem 6. Dezember, signiert Sabine Ebert von 14 bis 15 Uhr ihre historischen Romane um die Freiberger Hebamme Marthe und die Leipziger Völkerschlacht.

Freitag, den 11. Dezember, präsentiert Bernd-Lutz Lange zusammen mit seinen ehemaligen academixer-Kollegen Katrin Hart und Peter Treuner die brandneue CD „aMESSEment – Die sächsische Hitparade 1980-1990“ im Rahmen einer Signierstunde von 17 bis 18 Uhr. Die drei Künstler signieren gern die Nostalgie-CD mit einer persönlichen Widmung. Das ist doch mal ein sinnvolles Geschenk im WeihnachtsPassagenEinkaufstrubel!