Dieser Beitrag richtet sich an alle Leser, besonders aber an Literaturblogger und Autoren.
In der Bloggerlounge der Leipziger Buchmesse 2015 hat Oliver Zille auf meine Frage, ob es denn auch bald einen Preis der Leipziger Buchmesse für Literaturblogger geben könne, geantwortet: „Wir haben das stark im Blick.“
Ich möchte diese Diskussion gern fördern und der Leipziger Buchmesse ein breites Meinungsbild von Betroffenen an die Hand geben. Mögt ihr mich unterstützen?
Ich frage euch:
Wann ist für euch ein Literaturblog preiswürdig?
Welche Kriterien sind für euch wichtig: Genre, Alter, Stil, Reichweite…?
Welche Blogs kommen gar nicht in Frage?
Wie sollte so ein Preis dotiert werden: mit Anerkennung oder mit Preisgeld?
Und wer sollte darüber entscheiden: Jury, Voting der Blogger…?
Ich habe schon viele Blogger und Autoren persönlich angeschrieben. Bitte sagt es auch weiter.
Viele Buchblogger kennen es schon: Am 2. März hat die Verlagsgruppe Random House ihren Service bloggerportal.de vorgestellt. Buchblogger erhalten nach einmaliger Anmeldung Buchvorschläge, Materialien zum Buch und Rezensionsexemplare, nach Wahl auch E-Tickets für Reader. Für die Bewertung auf dem eigenen Blog stehen Zusatzmaterialen wie das Widget, Lese- und Hörproben, Buchtrailer und Cover zum Download bereit. Die Auswahl umfasst aktuell über 30.000 Titel, darunter mehr als 5.000 Hörbücher und 11.000 E-Books. Rezensionen können im Portal und auf randomhouse.de hochgeladen werden. Die Verlagsgruppe hat das Portal im eigenen Haus entwickelt „aufgrund der praktischen Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Buch-Bloggern“, so der Originalton des Hauses.
Auf meinem Blog stehen inzwischen über 100 Rezensionen. Da habe ich mich getraut und die Höchstzahl von zehn Rezensionsexemplaren angefordert. Unter der gequälten Freundlichkeit meiner Zustellerin kam nach zehn Tagen das letzte Buch an. Ich habe alle Exemplare auf meine Rezensenten verteilt und bin gespannt. In der Zwischenzeit lese ich die Rezensionen von Bloggerkollegen und informiere mich in den News des Portals über Gewinnspiele, Literaturpreise und Lesungstermine.
Fazit: Großes Lob für das Bloggerportal! Ich freue mich, dass Blogger immer mehr wahrgenommen und geachtet werden. Auch die Entwicklung bei den Verantwortlichen der Leipziger Buchmesse lässt auf weitere Fortschritte hoffen.
Theo Decker erlebt als Kind den Supergau: Bei einem Bombenangriff auf ein New Yorker Museum kommt seine Mutter ums Leben. Er begleitet den tödlich verletzten Antiquitätenhändler Welton Blackwell bei dessen Sterbeprozess, anschließend gelingt es dem Jungen, aus dem zerstörten Gebäude zu gelangen. Dabei lässt er das Gemälde „Der Distelfink“, ein Werk des niederländischen Malers Carel Fabritius, mitgehen – eine Tat, die schicksalsträchtiger nicht sein könnte. Mit diesem umfangreichen Werk, das Theo Deckers bewegten Weg hin zum Erwachsenen erzählt, sorgt die US-amerikanische Autorin Donna Tartt dafür, dass ihre Leser regelrecht an den Seiten festkleben.
Ein Drama, ein Thriller…
Theos Eltern sind seit kurzer Zeit getrennt, der alkoholkranke Vater lebt mit seiner neuen Freundin in Las Vegas. Nach dem Tod der Mutter kommt Theo zunächst zu den reichen Barbours, der Familie seines Freundes Andy. Doch bald holt sein Vater ihn zu sich nach Arizona, wo Theo den gewitzten Ukrainer Boris kennenlernt, der zu seinem besten Freund und Gefährten bei diversen Drogenabenteuern wird. Nach dem Tod des Vaters zieht es Theo zurück nach New York. Hier lebt er bei Hobie, dem ehemaligen Geschäftspartner des verstorbenen Welton Blackwell. Theo lernt nicht nur die Kunst der Restauration, er sieht bei Hobie auch Pippa wieder, die Nichte von Blackwell. Sie war am Tag des Anschlags ebenfalls im Museum und wurde schwer verletzt. Pippa wird die Liebe seines Lebens – doch bleibt sie für Theo unerreichbar. Andys Tod, die glücklose Verlobung mit dessen Schwester, das immer tiefere Abdriften Theos in die Illegalität und der ewige Nervenkrieg um das gestohlene Gemäldes schaffen mehr und mehr Dramen. Als Leser bin ich zerrissen: Bemitleide ich den jungen Mann, der sich immer mehr in Lügen verstrickt, oder hoffe ich darauf, dass Theos Geheimnisse auffliegen und er eine gerechte Strafe erhält?
… und eine moderne Quest
Die einzelnen Stationen werden nicht nur durch Theo selbst, sondern auch durch das Gemälde zusammengehalten. In jeder Phase seines jungen Lebens liegt Theos gedanklicher Fokus auf dem Bild: War es Unrecht, es zu entwenden? Wie verwahrt er es am besten? Ist es an einem sicheren Ort? Und vor allen Dingen: Welche Möglichkeiten hat er, es zurückzugeben und straffrei auszugehen? Oder ist er bereit, für seine naive Tat ins Gefängnis zu gehen? Die philosophische Komponente hinter all diesen Fragen wird auf den finalen Seiten eingehend aufgegriffen. Wo man vielleicht einen klassischen Showdown erwarten würde, trifft der Leser auf einen gänzlich unerwarteten Schluss, der viele Fragen offen lässt und zumindest mir noch eine ganze Weile nachhing.
Mein Fazit
Ich habe schon lange nicht mehr ein derart mitreißendes Buch in meinen Händen gehabt: Donna Tartt schickt ihr Publikum auf eine Reise mit Tiefgang. Das durch ein Attentat aus seinen eigentlich sicher erscheinenden Fugen geratene Leben eines jungen Amerikaners wird in all seinen Facetten beleuchtet. Der mitreissende, dramatische und bisweilen auch verwirrende Anfang der Geschichte bringt Theo für den Rest des Buches in arge Schwierigkeiten – und das geich auf mehreren Ebenen. Donna Tartt schreibt eindringlich und bildhaft, man fühlt sich ihrem Protagonisten wirklich nah. Nach einem packenden Einstieg erwarten den Leser ab und an auch mal kleinere und tatsächlich quälende Durststrecken nach dem nächsten Wendepunkt. Doch sind diese auf ihre Art auch wieder faszinierend, da sie sich so real anfühlen. „Der Distelfink“ ist ein Buch, das so schnell nicht mehr loslässt, ein Buch mit „Wow!“-Effekt.
Um sieben Uhr morgens ist nicht ihre Zeit. Um acht auch nicht. Um halb neun vielleicht. Aber um zehn ganz sicher. Dann beginnt nach Tee und Mailcheck die produktive Zeit von Karen Köhler. Jetzt, da sie nicht mehr im weitläufigen Atelier zwischen Leinwänden, Stoffen und Illustrationen arbeitet, steht der Laptop auf einem winzigen IKEA-Klapptisch in der Küche. So etwa bis um zwei reicht die Energie, ein Überbleibsel aus der Theaterzeit. In den Erholungsphasen wird gesurft. „In der Schreibzeit bin ich aber zuverlässig wie ein Handwerker“, beschwichtigt Karen Köhler. Nächtliche Schreibepisoden gibt es nur, wenn eine Deadline naht.
50 Lesungen seit Erscheinen ihres Debuts „Wir haben Raketen geangelt“ zwingen zu endlosen Bahnfahrten. Auch die wollen genutzt werden. „Aber Prosa im Zug geht nicht“, hat Karen Köhler festgestellt. „Ich brauche Raum um mich und die Möglichkeit, mich zu konzentrieren. Aber Dramatisches und Reden klappen ganz gut.“ Immerhin entstanden auf Reisen Fragmente zu einer Auftragsproduktion für das Nationaltheater Weimar und zu einer Erzählung für den SWR, die auf der Leipziger Buchmesse Premiere hatte.
Karen Köhler lebt in Hamburg. Ja, in St. Pauli. Sie liebt die Offenheit des Hafens, die bunte Mischung zwischen Alten, die hier seit ihrer Geburt leben, jungen Kreativen und jungen Familien. Dass die Menschen hier, wie in ihren Geschichten, eher ein vielseitiger denn ein geradliniger Lebenslauf kennzeichnet, findet Karen Köhler ganz normal: „Wer hat denn heute noch eine straighte Karriere? Das betrifft doch höchstens alle, die erst nach 11/9 jung waren.“
Zwei Fragen kann Karen Köhler nur noch schwer ertragen: Ob denn das alles autobiografisch sei und wann denn als nächstes Buch komme. Ihr Verlag Hanser hat diese Frage bisher nicht gestellt. Man lässt sie einfach in Ruhe. „Cool“, sagt Karen Köhler. „Ich liebe mein Rudel.“ Und signiert mit entwaffnendem Lächeln das letzte von 40 Büchern mit einer schwungvollen Rakete.
Der Autor r.evolver entführt den Leser in „The Nazi Island Mystery“ in ein Paralleluniversum, welches gegenüber der Gegenwart des Lesers 20 Minuten in der Zukunft liegt. In diesem Paralleluniversum wurde das Dritte Reich nicht von den Alliierten besiegt. Die Heldin Kay Blanchard, Agentin des britischen Geheimdienstes, muss ins Herz des Vierten Reiches eindringen, um das Verschwinden eines Wissenschaftlers aufzuklären. Garniert wird diese Pulp-Geschichte von plötzlich auftauchenden Ufos, die für intergalaktische Reisen werben, sowie von außerirdischen Kommunisten und Imperialisten, die ihren Kampf der Ideologien auf der Erde austragen.
Abgefahren
Kate Blanchard gelingt es in Wien, eine Spur aufzunehmen, die sie auf eine geheimnisvolle Insel im Mittelmeer führt. Dort betreiben die Nazis ein geheimes Forschungslabor, in dem genetische Experimente durchgeführt werden. Für ihre Ermittlungen tarnt sich Kate Blanchard als Wissenschaftlerin. Wenige Tage nach ihrem Eintreffen geraten die Experimente außer Kontrolle und menschenfressender, grüner Schleim übernimmt die Anlage. Schließlich gelingt es der Agentin, das Rätsel um den verschwundenen Wissenschaftler zu lösen. Jener hat nämlich seinen Tod lediglich inszeniert, weil er dem kindlichen Klon von Pol Pot das Schicksal ersparen wollte, als Anschauungsobjekt in einer nationalsozialistischen Freakshow zu enden.
Tempo, Tempo, Tempo
So durchgeknallt wie sich der Handlungsstrang liest, peitscht r.evolver den Leser durch die Handlung in „The Nazi Island Mystery“. Dieser Pulp-Roman war bereits in den 1990er Jahren als Fortsetzungsroman im Netzmagazin evolver erschienen, lange bevor literarische Größen wie Stephen King das Internet als neues Medium entdeckt hatten. In Buchform erschien der Roman zum zehnjährigen Jubiläum, nachdem sich die Verantwortlichen des Netzmagazins dazu entschlossen hatten, künftig auch einen „richtigen Verlag“ mit „richtigen Büchern“ zu betreiben. Im Zuge der Neuauflage wurden einzelne Passagen ausgeweitet und das Gesamtwerk insgesamt geschliffen.
Sex, Drugs & Rock´n´Roll sind die Elemente, auf denen r.evolver seine Geschichte aufbaut. Er bringt damit den Leser, zusammen mit den zahllosen wirren Details und irren Wendungen, an die Grenzen seiner Vorstellungskraft. Trotzdem gelingt es ihm, eine runde und in sich schlüssige Story zu präsentieren, zumindest wenn der Leser bereit ist, den abgesteckten Handlungsrahmen für die Dauer der Geschichte als solchen zu akzeptieren.
Mein Fazit
Pulp-Literatur wird vom literarischen Establishment gern als Schund abgetan. Wer sie dennoch mag, wird „The Nazi Island Mystery“ lieben. Dass ausgerechnet eine Fortsetzung des Nationalsozialismus den Hintergrund für eine unterhaltsam aufgebaute Geschichte bildet, ist sicher Geschmackssache, doch insgesamt hat der Autor seine wichtigste Aufgabe hervorragend gelöst: den Leser ein paar Stunden lang richtig gut zu unterhalten.
Amerikanischer Mittelwesten, 1950-1998: Über fast ein halbes Jahrhundert begleitet der Leser die Brüder Chic und Buddy Waldbeeser. Ihr Vater hat sich früh umgebracht, die Mutter ist mit einem neuen Mann nach Florida gegangen, aber sie beeinflussen immer noch das Leben der Brüder. Der Älteste, Buddy, geht fast am Selbstmord seines Vaters zugrunde. Ihm fehlt jemand, der seinem Leben eine Richtung gibt. Chic sehnt sich nach einem großen Bruder, zu dem er aufschauen kann, doch das kann Buddy nicht leisten. Die Sehnsucht nach Emotionen, nach Verbindung und Verlässlichkeit zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben der Brüder. Ihnen bei der Suche nach einem Ziel, einer Bestimmung und der Erfüllung des kindlichen Wunsches nach bedingungsloser Liebe zuzusehen, ist manchmal fast schmerzhaft.
Verzweifelte Suche nach Halt
„Sein Wunsch nach einer Verbindung zu einem Menschen oder einer Sache war so stark, dass er sich fühlte, als würde in seinem Inneren ein Mixer rotieren und ständig seine Sehnsucht umrühren“, so Chic im Jahre 1971. Während der knapp 50 Jahre passiert nicht wirklich viel, das Leben der vier Protagonisten plätschert so dahin, durchbrochen von einer Tragödie und aneinander gekettet durch ein Geheimnis. Resigniert fasst Chic mit gerade mal 40 Jahren seine bisherige Lebenserfahrung in einem Monolog zusammen: „Wenn Sie Glück haben, wird jemand Sie lieben. Diesen Menschen werden Sie enttäuschen. Der Mensch, der Sie liebt, wird Sie eines Tags vielleicht hassen, und Sie können nichts dagegen machen. Auch wenn Sie es versuchen. Und Sie werden es versuchen. (…) Das Schlimmste ist, dass Sie es nicht aufhalten können. Nichts davon. Das Leben hat seine eigene Dynamik. Voran, voran, immer weiter voran.“ Und das ist die Tragik: Nicht das Leben der Waldbeesers geht voran, sondern das Leben um sie herum, unerbittlich und rücksichtslos.
Voran. Zum neuen Anfang oder zum Ende.
In ständigen Sprüngen zwischen den Jahrzehnten verfolgt der Leser, wie Chic gnadenlos altert und wie er sich sein Leben im Jahr 1998 eingerichtet hat. So weiß der Leser bereits, wie es Chick im Alter ergehen wird, während er als Neunzehnjähriger frisch verheiratet sein Leben beginnt. An vielen Stellen des Buches möchte ich Chic an den Schultern nehmen und schütteln, ihm zurufen: „Siehst du nicht, was passiert?“. Ich werde zum ohnmächtigen Augenzeugen und weiß schon lange vor den Protagonisten, welche Auswirkungen ihre Handlungen (oder Handlungsunfähigkeiten) haben. Chic, Buddy und ihre Frauen sind wie Planeten, die – gefangen auf ihrer eigenen Umlaufbahn – unermüdlich umeinander kreisen. Manchmal kommen sie sich auf ihrer Reise sehr nahe, dann wieder sind sie Lichtjahre voneinander entfernt. Und jeder Versuch, aus ihrer Umlaufbahn auszubrechen, scheitert.
Mein Fazit
Voran, voran, immer weiter voran ist das Romandebüt des 39jährigen Ryan Bartelmay, der mit seiner Familie in Chicago lebt. Seine klare und schnörkellose Sprache kommentiert und seziert das Leben der beiden Brüder schonungslos und lakonisch. Der leise Humor, der an vielen Stellen hervorblitzt, bewahrt das Buch davor, depressiv oder frustrierend zu werden. Es bleibt stets ein kleiner Hoffnungsschimmer, dass sich alles zum Besseren wenden könnte. Ryan Bartelmay schafft es durch seine Schreibweise allerdings immer wieder, dass diese Hoffnung schal schmeckt und dass der Humor zum Galgenhumor wird. Ich hatte gehofft, dass die Geschichte um Liebe und Verlust, Schuld und Versöhnung, Sprachlosigkeit und Resignation für alle Beteiligten ein gutes Ende haben wird – und wusste doch schon früh, dass ich nur ohnmächtiger Zuschauer sein würde.
Anthologien sind eine gute Möglichkeit für Autoren, sich vor Veröffentlichung eines eigenständigen Werkes zu präsentieren. Da ist es schon ungewöhnlich, wenn sich 24 renommierte Selfpublishing-Pioniere aus eBook und Print mit beeindruckenden sechs Millionen Verkäufen zu einem gemeinsamen Krimiprojekt zusammenfinden (okay, es sind 21, die Pseudonyme abgezogen). „24 Stunden – 24 Autoren“ ist eine spannende Story mit Abschnitten von Erotik bis Dystopie, die den Leser fordert und immer wieder überrascht.
Die Handlung: Das fiktive Grandhotel am Berliner Kurfürstendamm, nachempfunden dem Kempinski Hotel Bristol, erlebt turbulente 24 Stunden mir einem verschwundenen Fußballer, einem Fenstersturz, einer Schießerei, einem Interpol-Kongress und weiteren menschlichen Tragödien und Liebeleien. Der Reiz: Jedem Autor wurde eine Stunde zugewiesen, die er in seinem Stil und seinem Genre gestalten und dabei Charaktere aus den eigenen Werken einbringen konnte. Zuvor hatte Michael Meisheit, erfahrener Drehbuchautor für die Lindenstraße, in Zusammmenarbeit mit den Krimiautoren Elke Bergsam und Bela Bolten den Plot konstruiert.
Ist so ein Wirrwarr überhaupt reizvoll für einen Leser? „Ich finde, es hat erstaunlich gut funktioniert“, urteilt Lektorin Dorothea Kenneweg. „Beim Lesen lässt man sich schnell auf das Konzept ein, wie auf ein Spiel, und die Abwechslung macht dadurch sogar erst den Reiz aus. Natürlich muss man gewillt sein, sich auf die verschiedenen Autoren einzulassen – inklusive der verschiedenen Genres.“ Die besondere Herausforderung des Lektorates: Es sollte nicht „glattgebügelt“ werden, jeder Autor sollte seine Eigenheiten behalten dürfen. „Deshalb gibt es beispielsweise mal ein Kapitel, das im Präsens erzählt ist, während der Rest in der Vergangenheitsform steht; mal in der Ich-Perspektive, mal in der dritten Person. So etwas wurde bewusst in Kauf genommen.“
Mir hat genau dieser Wechsel gefallen, der trotz aller Verschiedenheiten immer wieder den roten Faden der Story gekonnt aufnimmt. Wer sich davon überzeugen möchte, kann hier an einer Verlosung teilnehmen und ein Exemplar gewinnen (noch bis zum 31. März).
Matthias Jügler, 1984 in Halle geboren mit Masterstudium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, legt mit „Raubfischen“ seinen Debütroman vor. Der Einband sieht vielversprechend aus – ein pastellfarbenes Blaugrau mit der schönen Graphik eines Fischerbootes. Um Daniel und seinen Großvater soll es gehen, um ihren gemeinsamen Angelurlaub in Schweden und darum, dass der Großvater an ALS erkrankt – woraufhin Daniel einen „waghalsigen“ Entschluss fasst, wie es auf der Rückseite des Buches heißt. Gespannt schlage ich den Roman auf – und bin enttäuscht.
Konstruiert
Die ersten Kapitel des Buches habe ich das Gefühl, des Autors Anliegen sei es, möglichst keinen Satz mit mehr als fünf Wörtern zu schreiben. Das ändert sich zum Glück nach dem ersten Drittel. Besser wird es dennoch nicht. Denn allen Kapiteln gemeinsam bleibt die ausufernde Anhäufung von Detailschilderungen, welche mich regelmäßig den Faden verlieren lassen. Solcherlei literarische Konstruktionswut dürfen sich meines Erachtens nur Autoren wie Musil erlauben, deren Wälzer genügend Raum dafür bieten. In einer Erzählung jedoch, die vorgibt, ein Roman zu sein, scheint sie mir unangebracht.
Distanziert
Der Inhalt kommt nur mit Mühe bei mir an und verliert auf seinem Weg die Kraft, mich zu berühren: Neben den Kaffee-und-Kuchen-Schilderungen erhasche ich ein paar Sätze, aus denen hervorgeht, wie mitgenommen alle von der Erkrankung des „Großvaters“ sind. Mich lässt das ziemlich kalt. Weder wurde mir Grundlegendes zu der Krankheit ALS erzählt, noch hatte ich die Möglichkeit, eine Beziehung zu den Handlungsfiguren aufzubauen, von denen der Ich-Erzähler Daniel so verstörend förmlich („Mutter“, „Vater“, „Großmutter“, „Großvater“) berichtet.
Gleich gestelltes Vielerlei
Neben der Erkrankung geht es auch ums Hechtefangen (daher „Raubfischen“), um Daniels Ferien in Schweden und heimliches Rauchen, um eine Fehde zwischen dem Großvater und dem Verkäufer des Ferienhauses namens Åge. Aus einer Rückblende wird klar, dass die Großmutter mit diesem vor Jahren mal geliebäugelt hatte. Daher also. Drei hübsch von Tim Jockel illustrierte Kapitel handeln vom Leben unter Wasser aus Fischperspektive und fallen damit etwas aus der Reihe, sind aber durchaus angenehm zu lesen. Ansonsten stehen alle Handlungsstränge gleichberechtigt nebeneinander, alle Sätze sind gleich gewichtet. Um der Erzählung zu folgen und ihre Bedeutung zu erfassen, muss ich mich entsprechend konzentrieren und nachdenken. Dennoch erschließt sich mir nicht, was nun eigentlich so „waghalsig“ an Daniels Entschluss sein soll, mit seinem Großvater und dessen Beatmungsgerät noch eine letzte Reise nach Schweden zu unternehmen.
Mein Fazit
Auf der Rückseite bemerkt Matthias Nawrat: „Wie [Jügler] vom Ende eines Lebens erzählt, lässt uns lange nicht mehr los.“ Mich hat es gar nicht erst gepackt.
Titel und Klappentext klangen mehr als interessant. Ich rechnete mit Parallelen zu meinem eigenen Leben, denn ich hatte selbst vor ein paar Jahren den großen Schritt gewagt und wanderte vorübergehend aus. Doch letztendlich gab es nur ganz wenige Gemeinsamkeiten. Ich konnte mich in Margrets Lage versetzen. Während der Mann seiner neuen Tätigkeit mit großer Begeisterung nachging, saß sie in einem tollen Haus und langweilte sich. Mir ging es ganz genau so, doch ging ich auf andere Art mit der Situation um und suchte mir schnell einen Job. Das lag sicherlich auch daran, dass ich aus voller Überzeugung diesen Weg gegangen war. Margret dagegen verspürt keine große Lust auf Afrika, sehnt sich nach dem kalten Wetter von Stockholm, vermisst ihren Liebhaber und lässt ihre ganze Wut an einem wehrlosen Dienstboten aus. Ihre Wutausbrüche hat sie immer weniger unter Kontrolle und am Ende bohrt sie dem ahnungslosen Schlangenjungen eine Stricknadel in den Oberschenkel.
Verloren in der Unabhängigkeitsbewegung Liberias
Schon bei der Ankunft in Liberia ist die Familie zerrüttet. Margret nimmt ein Geheimnis mit auf die Reise. Hektor weiß nicht nichts von ihrem Liebhaber und schon gar nichts von Margrets heimlicher Reise nach Polen. Hier ließ sie das Kind ihres Liebhabers abtreiben. Der Sohn Marten ist auf der Suche nach seinem Platz im Leben. Er vermisst seine Freundin Laura und hat einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Dieser wird ihm am Ende fast zum Verhängnis, denn er solidarisiert sich mit den Minenarbeitern, streikt und wird schließlich von den Soldaten verhaftet. Die fehlende Mutterliebe sucht er woanders und freundet sich mit dem Schlangenjungen an. Die Freundschaft festigt sich. Margret kann den Schlangenjungen nicht leiden. Sie will ihn vertreiben, denunziert ihn und attackiert ihn verbal und körperlich. Auch Hektor hat Probleme. Er kommt mit seinem Vorgesetzten nicht klar und auch die Hitze macht ihm zu schaffen. Er wagt einen Spagat zwischen Job und Familie, denn die Solidarität seines Sohnes mit den Minenarbeitern bringt ihn immer wieder in Misskredit.
Ein fragwürdiger Titel
Der Titel animiert zum Lesen. Allerdings hält er nicht wirklich, was er verspricht. Am Anfang des Buches ist die Familie noch auf der Suche nach Freiheit und Abenteuer. „…ein Schnattern und Ticken, das sie an nichts erinnerte, was sie jemals gehört hatte.“ Die erste Nacht in Liberia ist voller Spannung. Doch mit jedem Tag mehr zerbrechen die Erwartungen. Mit jeder Seite mehr werden die Familienprobleme offen gelegt. Schon bald merkt der Leser, dass Margrets Familienproblem der Grund waren, nach Afrika zu gehen und keineswegs die Liebe zur Freiheit. Margret erinnert sich schon nach wenigen Tagen daran, wie gleichgültig sie Schweden verlassen hatte: „Mit Gleichgültigkeit betrachtet Margret den Schneematsch und die Brücke über die Åstra-Inseln.“ Doch nun sehnt sie sich zurück nach dem kalten Stockholm, nach den dunklen Tagen im Winter und nach den Schneemassen, die Schweden oft schon im Oktober überziehen. Irgendwann wird allen in der Familie klar, dass sie im fernen Liberia nicht vor ihren Problemen weglaufen können.
Mein Fazit
Ich erwartete eine Familie, die nach Afrika auswandert und sich dort mit den neuen Begebenheiten vertraut machen muss. Eine Familie, die voller Erwartung und Vorfreude ist und mit Überzeugung an einem anderen Ort ganz von vorne anfängt. Zwar setzen die Agierenden sich auch mit den Ereignissen in Liberia auseinander, aber das gesamte Buch wird von Familienproblemen dominiert. Trotzdem fesselt die Spannung, und besonders Margrets Charakterzüge haben mich mitunter erstarren lassen.
Man muss die Musik der Böhsen Onkelz nicht kennen, um die Band trotzdem hassen zu können, oder? So lautet meist das einhellige Urteil politisch (über)korrekter Rockfans. Schließlich waren die „Onkelz“, wie sie von ihrer treuen Fangemeinde genannt werden, einst in der Skinhead-Szene zuhause und standen zumindest phasenweise als Synonym für den aufkeimenden Rechtsrock aus deutscher Produktion. In seinem Buch „Die Legende der böhsen onkelz“ räumt der Musikjournalist Conrad Lerchenfeldt mit Vorurteilen auf und zeichnet die seit mehr als drei Jahrzehnten währende Geschichte einer der umstrittendsten deutschen Bands nach.
Der Abschied als Einstieg
Um begreifen zu können, was die besondere Faszination der Band für die Fans ausmacht, beschreibt Lerchenfeldt in seinem einleitenden Vorwort das 2005er Abschiedskonzert auf dem Lausitzring, wo die Böhsen Onkelz von internationalen Top-Acts wie Motörhead oder Rose Tattoo begleitet wurden. Hier gingen 120.000 Fans vor der Band in die Knie, um sich für 25 gemeinsame Jahre in einer verschworenen Gemeinschaft zu bedanken.
Ein Zufall führt zur Musik
Die Böhsen Onkelz, das sind Stephan Weidner, Kevin Russell, Matthias Röhr und Peter Schorowsky. Sie alle stammen aus eher bildungsfernen oder zerrütteten Elternhäusern und entdeckten gemeinsam, beeinflusst von der Punk-, später von der Oi-Bewegung, Musik als Mittel, um ihren Frust auf die Gesellschaft und ihr eigenes Leben auszudrücken. In den ersten Jahren stand in den Songs neben Saufen und Gewalt auch Nationalstolz im Vordergrund, der eben auch von der rechten Szene vereinnahmt wird. Das und die Tatsache, dass in den ersten Jahren Auftritte in stramm rechten Locations vor entsprechendem Publikum stattfanden, verfolgen die Böhsen Onkelz bis in die Gegenwart hinein. Nach den Schilderungen Lerchenfeldts gewinnt der Leser den Eindruck, dass die vier Musiker der Böhsen Onkelz in den Anfangsjahren ihre musikalische Karriere wohl eher etwas naiv gestartet hatten, indem sie populäre Parolen aus ihrem Umfeld vertonten und Auftrittsmöglichkeiten nutzten.
Gesinnungswandel oder nicht?
Den Gesinnungswandel von einer eher krawalllastigen hin zu einer kritischen und national angehauchten, aber nicht unbedingt nationalistischen Band schildert Lerchenfeld ebenso ausführlich, wobei er auch so manche absurde Situation darstellt: Beispielsweise, wenn die Böhsen Onkelz auf öffentlichen Diskussionen dazu aufgefordert werden, ihren Gesinnungswandel unter Beweis zu stellen, sich auf den gleichen Veranstaltungen aber Konzertveranstalter weigern, mit den Onkelz zusammenzuarbeiten, eben weil sie angeblich rechts sind. Am deutlichsten für den Laien wird der Gesinnungswandel nach jener verhängnisvollen Silvesternacht 2009, als Sänger Kevin Russell unter Drogeneinfluss einen Verkehrsunfall verursacht, in dem zwei Unschuldige fast zu Tode kamen: Die Onkelz nehmen den Sänger nicht in Schutz, sondern fordern ihn auf, zu seiner Tat zu stehen. Der anschließende Entzug und die Gefängnisstrafe dürften eine wichtige Voraussetzung für die Reunion 2014 gewesen sein.
Mein Fazit
Das Buch von Conrad Lerchenfeldt überzeugt vor allem durch die weitgehend neutrale und wertungsfrei geschilderte Geschichte der Band. Der interessierte Leser findet im Anhang ein Quellenverzeichnis, mit dessen Hilfe er tiefer in das Thema einsteigen kann. Man mag die Onkelz und ihre Musik mögen oder nicht – faszinierend ist ihre Geschichte allemal.