Rezension: Shreyas Rajagopal, Scar City. Oder: Incredible India

Sex, Drogen, Reichtum, Psychosen… hier kommt das selektiv aus der Perspektive einer jugendlichen Oberschicht betrachtete Indien der Gegenwart. Lakonisch, kosmopolitisch, zynisch und entsprechend des Handlungstempos im hastigen Präsens beschrieben.

Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de
www.ullsteinbuchverlage.de

Willkommen im Debütroman von Shreyas Rajagopal! Der Autor ist Jahrgang 1986 und lebt in Bombay, wo er – wie passend – im Finanzsektor arbeitet. Studiert hat er unter anderem am Indian Institute of Management, was sich aber, außer einer offensichtlichen Kenntnis der indischen Sozialstruktur, nicht wirklich in seinem Roman bemerkbar macht. Freilich aber zeigt dieses 2013 geschriebene Buch alle Merkmale eines literarischen Erstlingswerks: rasches Wechselspiel von Nähe und Distanz, unbekümmertes Experimentieren mit unterschiedlichen Stilen, die eitle Lust am Dokumentieren der eigenen Genialität und des Wissens „um die Dinge“ sowie das generelle Grundrauschen einer expressionistischen Wucht.

Worum geht’s? Student Rish kommt nach „Schwierigkeiten“ in New York für eine Auszeit nach Bombay zurück. Und er landet quasi unmittelbar in einem dämonischen Pantheon aus Freunden, Eltern, Drogendealern, ehemaligen und zukünftigen Sex- und Partygefährten… kurz: es startet eine Tour de Force für Körper und Geist. Und der Strudel aus Rausch und Hass auf die Gesellschaft dreht munter seine Runden. Ja, auch Bret Easton Ellis (American Psycho) lässt hier grüßen. Nicht nur durch die fast obsessive Erwähnung von Markenprodukten, sondern auch durch die gnadenlose Kälte der Eigen- und Fremdbeobachtung des Helden. Das Indien der Milliarden Menschen mit weniger als mindestens Millionärsstatus kommt dabei übrigens gerade noch als Staffage vor.

Wer nun aber glaubt: Aha, wieder so eine überdrehte Schnösel-Story aus dem Milieu der globalen Nichtsnutze mit „goldenem Löffel“ Syndrom… nun, der springt hier eindeutig zu kurz! Rajagopal schreibt hier aus der auktorialen Perspektive – und offeriert Rückblenden mit beeindruckenden Blicken in eine gequälte Psyche. Seine Sprache ist dabei so intensiv wie bildstark – und er trifft den Ton jeder Situation ausgesprochen stimmig. Ein Lob auch der deutschen Übersetzung. Auf so ein kongeniales Wort wie Durschnitten für eine Versammlung mittelmäßiger Fickangebote weiblicher Art muss man erst einmal kommen.

Und wo bleibt in dieser Geschichte nun die Moral? Erfreulicherweise gibt es die hier nicht! Es handelt nämlich keineswegs um einen klassischen „Coming of Age“ Plot, sondern die mitleidslose Schilderung einer Reise in den kontrollierten Wahnsinn. Wobei Rajagopal keinen Zweifel daran lässt, dass dieses Indien der abgehobenen Oberschicht demnächst ganz gewaltig um die Ohren fliegen wird. Bis dahin gilt ein typischer Satz aus der Gedankenwelt des Protagonisten Rish: Du bist wie Plastik – du wirst alles hier überdauern.

Shreyas Rajagopal, Scar City
Ullstein Hardcover, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Scar-City-9783550080647
Autor: Harald Wurst | ph1.de

Gelüftet: Israel wird Schwerpunktland der Leipziger Buchmesse 2015

Israelische Flagge vor dem Mittelmeer (Foto: Wikimedia Commons/MathKnight & Zachi Evenor/Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 3.0)
Israelische Flagge vor dem Mittelmeer

Die Leipziger Messe hat bekanntgegeben, dass Israel 2015 das Schwerpunktland der Buchmesse sein wird. Offensichtlicher Grund: Vor 50 Jahren, im Mai 1965, nahmen Deutschland und Israel diplomatische Beziehungen auf.

Ich gestehe: Außer Amos Oz und Ephraim Kishon kenne ich keine israelischen Autoren. Ich werde das zum Anlass nehmen, mich zu informieren und hier auf dem Blog eine Rezensionsreihe israelischer Literatur zu starten.

Fotonachweis: Wikimedia Commons/MathKnight & Zachi Evenor/Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 3.0

Leipziger Buchmesse 2015: Die unabhängigen Verlage entern das Berliner Zimmer

Prof. Hellmuth Karasek im Berliner Zimmer 2013. Foto: Detlef M. plaisier
Prof. Hellmuth Karasek im Berliner Zimmer 2013. Foto: Detlef M. Plaisier

Das Berliner Zimmer auf der Leipziger Buchmesse ist Geschichte. Zur letzten Auflage 2014 waren unter anderem Marianne Birthler, Eva-Maria Hagen, Sigrid Löffler und Wiglaf Droste zu Gast. Roger Willemsen hielt die Laudatio auf Insa Wilke, Trägerin des Alfred-Kerr-Preises für Literaturkritik. Der freie Geist des Berliner Forums soll auch 2015 weiterleben: Die Leipziger Buchmesse wird erstmals durch das Forum „DIE UNABHÄNGIGEN“ bereichert. Es siedelt sich mit Lesepult und Lounge in Halle 5 mitten unter den unabhängigen Verlagen an.  

Dahinter steckt  ein gemeinsames Projekt der Leipziger Buchmesse mit der Kurt Wolff Stiftung. Das Programm des Forums wird mit Lesung und Diskussion an das „Berliner Zimmer“ anknüpfen und will das Potential der unabhängigen Verlage und jungen Talente einem breiten Publikum vorstellen. So hat Subkultur wieder ein Stück mehr Platz auf der Leipziger Buchmesse erobert – und lässt auch der Tradition weiter Raum: Am Messefreitag findet im Unabhängigen-Forum die Verleihung des Kurt Wolff Preises statt. Möge der Preisträger nicht abergläubisch sein: Dieser Freitag ist der 13.

Rezension: Richard Surface, Das Vermächtnis – schlechte Thriller-Kost

Eigentlich hat „Das Vermächtnis“, der Erstling des US-amerikanischen Autors Richard Surface, alles, was einen guten Thriller ausmacht: Einen vielversprechenden Einstieg mit einem mysteriösen Mord und einen halbwegs sympathischen Protagonisten, der den Behörden nicht traut und den Mord an seinem Großvater selbst lösen will. Dazu kommen komplexe Handlungsstränge, die sich um verschollene Kunstwerke ranken. Doch nach einem gelungenen Beginn offenbaren sich zunehmend handwerkliche Schwächen, die „Das Vermächtnis“ zu einem Roman machen, den auch hartgesottene Fans des Genres nicht wirklich gelesen haben müssen.

Die Handlung

Gabriel träumt davon, eines Tages Brücken zu konstruieren. Da er an Dyslexie leidet, scheitert sein Ingenieursstudium. Unvermittelt wird er in die Welt des internationalen Kunst-Schwarzmarktes gestoßen: Sein Großvater wird brutal ermordet und hinterlässt seinem Enkel nebst einem Bungalow in Lech eine mysteriöse Statue, die er jedoch erst finden muss – zusammen mit weiteren verschollenen Kunstwerken. Diese sollten einem illustren Kreis von millionenschweren Sammlern gehören, deren Glanzstücke eben verschollene Kunstwerke darstellen.

Obwohl Schauplätze als auch Charaktere etwas platt gezeichnet sind, gelingt es Richard Surface im ersten Teil des Romans, Spannung aufzubauen. Von der literarischen Qualität eines Dan Brown oder anderen Verschwörungstheoretikern trennen Surface zwar noch Welten. Doch zumindest ist der Leser so gefesselt, dass er erfahren möchte, wie die Geschichte endet.

Ein Bruch in der Handlung

Das ändert sich etwa ab Kapitel 25: Surface versucht, die zahlreichen Handlungsstränge miteinander zu verflechten und präsentiert eine rasante Wendung nach der anderen, wobei er sich auf ein früheres Detail-Ereignis bezieht. Das mag stilistisch durchaus beabsichtigt gewesen sein, wirkt aber auf den Leser eher so, als habe der Autor beim Schreiben gedacht: „So komm ich nicht zum Schluss, na, dann probier ich’s mal so!“ Das ist umso auffälliger, als sich die Taktung der Wendungen zum Schluss hin massiv steigert.

Negativ fällt außerdem auf, dass Richard Surface nicht allzu viel Zeit auf die Recherche aufgewendet zu haben scheint und einige Szenen extrem unglaubhaft schildert. Da ist zum Beispiel ein Profikiller, der Gabriel auf einem Platz in Florenz mit einem Gewehr ins Jenseits befördern möchte, jedoch nicht trifft. Gabriel hingegen benötigt als ungeübter Schütze mit einer Handfeuerwaffe nur wenige Schüsse, um den Killer zu verwunden.

Platte Beschreibungen fragwürdig übersetzt

Surface gelingt es weder, den handelnden Personen Tiefe zu geben, noch die Schauplätze lebendig werden zu lassen. Ersteres ist schade, muss aber nicht negativ gewertet werden, weil das der Leser in diesem Genre nicht zwangsläufig erwartet. Schwerer wiegt, dass die Beschreibungen der verschollenen Kunstwerke und der Schauplätze äußerst dürftig ausfallen und bestenfalls schwammige Bilder im Kopf des Lesers erzeugen. In diesem Zusammenhang fällt auch die allenfalls oberflächliche Recherche auf. So stuft Surface den Nachlass von Gabriels Großvater bis auf die erwähnte Statue als eher dürftig ein. Teil des Vermächtnisses ist jedoch ein Bungalow in Lech. Nachdem es sich bei der 1.600-Einwohner-Gemeinde um einen der mondänsten Wintersportorte im gesamten Alpenraum handelt, dürfte allein schon diese Immobilie einen sechs- bis siebenstelligen Wert haben.

Die deutschsprachige Übersetzung dürfte die Qualität des Buches noch zusätzlich mindern. Es sind vor allem Kleinigkeiten, die hier sauer aufstoßen. Beispielsweise nennt Zoë Beck die Florentiner konsequent Florenzer und lässt einen Polizeibeamten im Rahmen einer offiziellen Vernehmung von der ermordeten Haushälterin als Christel sprechen. Dass ein Polizeibeamter in offizieller Funktion grundsätzlich den Taufnamen (im Falle Christel also Christine oder Christiane) benutzt, sollte eine preisgekrönte Krimiautorin wissen.

Als Fazit bleibt:

Schade um die gute Idee. Richard Surface hat zweifellos das Zeug, um gute Unterhaltungsliteratur zu schreiben. Vor weiteren Veröffentlichungen könnte aber die Teilnahme an einem Kurs in Creative Writing nicht schaden. Denn dass „Das Vermächtnis“ eher nicht empfehlenswert ist, liegt in erster Linie am unrunden Spannungsbogen und dem fehlenden Tiefgang.

Richard Surface, Das Vermächtnis
Acabus Verlag, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Das-Vermaechtnis-The-Legacy-9783862822263
Autor: Harry Pfliegl

Rezensionsreihe Finnland zur Frankfurter Buchmesse 2014, Teil 8: Katja Kettu, Wildauge

Katja Kettu, Jahrgang 1978, studierte Kunst, Finnländische Literatur und Medienkultur und arbeitet als Animatorin, Sängerin und Schriftstellerin und Kolumnistin. „Wildauge“ ist ihr dritter Roman. Für ihre Romane erhielt sie zahlreiche Preise.

„Liebe in ihrer Grausamkeit schert sich weder um Alter noch um Rasse.“ (Seite 359)

Der Inhalt

Quelle: Galiani Verlag
Quelle: Galiani Verlag

Die finnische Hebamme, von der einheimischen Dorfbevölkerung nur „Scheelauge“ (Schielauge?) genannt – und das ist keineswegs nett gemeint – ist eine etwas kauzige, im Umgang mit Heilkräutern versierte und mit den Zumutungen des kargen Lebens vertraute Frau. Nicht mehr ganz jung, bereits jenseits der dreißig, und noch nie von einem Mann „entdeckt“. Bei einer Entbindung begegnet sie Johannes Angelhurst, einem traumatisierten, von Medikamenten abhängigen SS-Offizier, der die Frauen in seiner Aufgabe als Fotograf nicht nur fotografiert, sondern auch benutzt, wie es sich gerade ergibt. Sie verfällt ihm augenblicklich und hat fortan nur ein Ziel: ihn für sich zu gewinnen. Um dieses Ziel zu erreichen, folgt sie ihm in das Kriegsgefangenenlager Titowka. Dort ist ihre Aufgabe zunächst die gesundheitliche Betreuung dieser Gefangenen. Bei einem Ausflug ins Umland, an den Fjord des Toten Mannes, kommen sich Wildauge – wie die Hebamme von Johannes genannt wird, aus dessen Perspektive einige Kapitel erzählt werden – und der SS-Offizier, der von den Geistern der von ihm in Babi Jar mit ermordeten Juden verfolgt wird, näher. Nachdem Finnland vom Verbündeten der Deutschen zu ihrem Feind geworden ist, erlebt Wildauge die Grausamkeit im Lager am eigenen Leib.

Die Sprache

Quelle: FILI
Quelle: FILI

Katja Kettu benutzt eine starke poetische Sprache, in der die Natur eine große Rolle spielt (wie auch im Leben des finnischen Volkes). Mit treffenden Worten gelingt es ihr, die vielen merkwürdigen Gestalten dieses Romans zu charakterisieren und lebendig werden zu lassen. Die Sprache selbst ist hier ein Naturereignis, sie überrollt den Leser wie eine Woge, saugt ihn ein und entlässt ihn wieder als ein anderer Mensch. Neue Wortschöpfungen, ungewohnte Verknüpfungen und Metaphern, Sprache gegen den Strich gebürstet. Dabei schießt Katja Kettu allerdings manchmal über das Ziel hinaus, etwa wenn es auf Seite 31 heißt: „Aunes Stimme war weiches Fleisch, unter dem sich ein gusseiserner Schürhaken langsam verbiegt.“ Oder auf Seite 68: „…und ein Tropfen Spucke war anmutig in den Wollstoff eingezogen.“ Dort, wo sexuelle Handlungen beschrieben werden, ist die Sprache oft zu derb. So störte mich zum Beispiel das häufig vorkommende Verb „bespringen“, das in vielen Fällen unpassend war, vor allem, wenn es um die Liebesbeziehung zwischen Wildauge und Johannes ging.

Mein Fazit
Ein unbedingt empfehlenswerter Roman, der niemenaden kalt lässt. Katja Kettu polarisiert durch die Art und Weise, wie sie ihre Figuren durch dieses dunkle Kapitel der Geschichte stolpern lässt. Mir fiel es die meiste Zeit schwer, Sympathie für einen der beiden Protagonisten aufzubringen. Sie werden getrieben von Feigheit, Besitzdenken und Angst, und nur manchmal spürt man auch einen Hauch jener Menschlichkeit, ohne die dieses Buch eine Zumutung wäre.

Katja Kettu, Wildauge
Verlag Galiani Berlin, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Wildauge-9783869710822
Autorin: Cornelia Lotter
www.autorin-cornelia-lotter.de

Rezensionsreihe Finnland zur Frankfurter Buchmesse 2014, Teil 7: Katja Kettu, Wildauge

Dass Katja Kettu mit ihrem dritten Werk „Wildauge“ einen derartigen Erfolg feiern würde, hatte die Autorin wohl in ihren kühnsten Träumen nicht erwartet. Trotz des heiklen Themas eroberte sie die finnische Bestsellerliste und die Herzen ihrer Leser in mehr als einem Dutzend weiterer Länder im Sturm – und das obwohl oder gerade weil sie ihre Geschichte in einer sehr deutlichen Sprache und aus unterschiedlichen Blickwinkeln erzählt, die von der Form her an einen Briefroman erinnern. Das erschwert dem Leser zunächst den Einstieg und ist sicher nicht die klassische Formel, mit der ein Bestseller geschrieben wird.

Die Geschichte

kettu_wildauge_klein
Quelle: www.galiani.de

Katja Kettu erzählt die wohl intensivsten Monate im Leben der Hebamme „Wildauge“, die von der einfachen Bevölkerung Lapplands ob ihres medizinischen Wissens sowohl geachtet als auch gefürchtet wird. Schließlich spendet sie Leben, vermag aber auch den Tod zu bringen. Im Sommer 1944, einem der entscheidenden Wendepunkte während des Zweiten Weltkrieges, sind mehr als 200.000 deutsche Soldaten im noch befreundeten Finnland stationiert. Darunter auch der Kriegsberichterstatter Johannes, der von den Erlebnissen an der Ostfront traumatisiert ist und sich auf dem ruhigen Posten erholen soll. Die noch jungfräuliche Wildauge (deren wirklicher Name im gesamten Text übrigens nicht offenbart wird) erlebt mit Johannes eine stürmische Zeit der Leidenschaft. Schon bald wird Johannes jedoch in ein Gefangenenlager abkommandiert, wohin ihm Wildauge folgt. Sie arbeitet im Lager als Krankenschwester und wird aus Liebe zu einer Mittäterin.

Kontrovers aufgenommen wurde „Wildauge“ nicht nur wegen der Thematik – die nationalsozialistische Vergangenheit wird in Finnland und Norwegen erst seit wenigen Jahren aufgearbeitet. Auch die ausführlichen Sexszenen, die Direktheit in den Beschreibungen und die raue, oft derbe Sprache mögen anfangs für Irritationen sorgen. Doch genau diese Elemente sorgen dafür, dass „Wildauge“ den Leser in seinen Bann zieht und er die Geschichte körperlich erleben kann. Katja Kettu erzählt eine Geschichte, die in dieser Form wohl nicht passiert ist, sehr wohl aber hätte passieren können.

Eine Meisterin der Sprache

Die besondere Faszination von „Wildauge“ machen aber weder Handlung noch das Schicksal der Protagonisten aus, wie es in jenen Jahren wohl Tausende von Menschen in ähnlicher Form erlebt haben. Vielmehr ist es die Sprache, welche die Figuren leben lässt, die Handlung vorantreibt und den Leser gefangen nimmt. Katja Kettu liebt das Spiel mit der Sprache, sie lässt die Menschen in unterschiedlichen Dialekten sprechen und verleiht alten Worten eine neue Bedeutung. Dieser Aspekt ist naturgemäß im finnischen Original noch wesentlich eindrucksvoller als in der ausgezeichneten Übersetzung durch Angela Plöger. Was jedoch bleibt: Allein anhand der Sprache skizziert Kettu die Protagonistin als facettenreiche Persönlichkeit, die im Umgang mit Johannes zärtlich, fast liebevoll spricht, jedoch auch derb bis an die Grenze zum Ordinären sein kann. Die Autorin zeigt so auf einer tieferen Ebene, wie der barbarische Krieg auch die Sprache und die Menschen, die sie sprechen, verrohen lässt.

Auf Spurensuche in der Vergangenheit

Inspiriert wurde die Autorin zu „Wildauge“ von ihrer eigenen Vergangenheit: Als sie die Briefe ihrer Großmutter an deren Töchter las, begann sie sich für diese nach wie vor totgeschwiegene Zeit zu interessieren. Besonders fasziniert hatte Katja Kettu der Optimismus, den die Briefe ausstrahlten. Während des Krieges war ihre Großmutter eine einfache Frau, die als Tresenkraft an vorderster Front arbeitete und dennoch davon träumte, die Welt zu bereisen und Karriere als Schauspielerin zu machen. Auch in dunkelsten Zeiten kann es einen Lichtschimmer am Horizont geben, für den es sich zu leben lohnt.

Mein Fazit

Es ist Katja Kettu gelungen, eine Geschichte von Liebenden zu erzählen, die an den Verhältnissen ihrer Zeit nur scheitern können. Insbesondere für den deutschen Leser bedeutet „Wildauge“ allerdings eine eher harte literarische Kost. Das liegt weniger an der Thematik an sich, sondern daran, dass die Geschichte im Kulturkreis der Lappen spielt, der mitteleuropäischen Lesern nur wenig vertraut ist. Ein ausführliches Glossar mit Erklärungen, das ebenso wie eine kurze Einordnung in den historischen Zusammenhang in der deutschen Übersetzung enthalten ist, bedeutet eine große Erleichterung für den Leser. „Wildauge“ ist exzellente literarische Kost für den anspruchsvollen Leser.

Katja Kettu, Wildauge
Verlag Galiani Berlin, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Wildauge-9783869710822
Autor: Harry Pfliegl

Rezensionsreihe Finnland zur Frankfurter Buchmesse 2014, Teil 6: Riikka Pulkkinnen, Die Ruhelose. Oder: Das Leichte im Schweren

Der Erstlingsroman der Finnin Riikka Pulkkinnen hat es in sich. Sie spricht Themen an, mit denen ich mich als Leserin nicht gerne beschäftige, wenn ich auf der Suche nach einem unterhaltsamen Roman bin: Tod und Sterben, Sterbehilfe und die herrschende Sexualmoral.

Entscheiden oder zerbrechen

Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de
Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de

Da ist Anja, Universitätsprofessorin und eine Frau, die mit beiden Beinen im Leben steht. Ihr Mann ist schwer an Demenz erkrankt und hat ihr bereits vor Jahren das Versprechen abgenommen, ihm eines Tages Sterbehilfe zu leisten. Ein Versprechen, das Anja mehr und mehr belastet und an dem sie zu zerbrechen droht.

Da ist Marie, Schülerin der Oberstufe, die ein Verhältnis mit ihrem Literaturlehrer hat und nicht von ihm lassen kann, obwohl sie ahnt, dass dieses Verhältnis ihr nicht gut tut. Anni, die kleine Tochter des Lehrers, sieht und hört viel mehr, als sie in ihrem Alter eigentlich sollte und Julian, der Lehrer, findet aus dem, was anfänglich eigentlich nur als harmloses Spiel gemeint war, nicht mehr heraus. Immer wieder sucht er nach neuen Rechtfertigungen dafür, warum das Verhältnis mit Marie weitergehen sollte.

Die Figuren im Roman von Riikka Pulkkinnen stehen vor einer schweren Entscheidung oder einer Lebenskrise, und erst ein ungewöhnliches oder dramatisches Ereignis führt zu einer Entscheidung. Fast wähnt man sich als Leserin in einer klassischen Tragödie, in der es ja auch erst zu einer Katastrophe kommt, bevor die Figuren sich weiterentwickeln können oder die Handlungsstränge zusammengeführt werden.

Zusammenfügen, was zusammen gehört

Besonders fasziniert hat mich an diesem Roman, dass die Figuren zunächst nebeneinander her zu laufen scheinen. Erst nach und nach verzahnen sich die Geschichten und Personen miteinander und es entsteht ein großes Bild. Anja, die heimliche Hauptfigur des Romans, ist Maries Tante. Anja begegnet der Tochter Julians begegnet und begräbt mit ihr einen toten Igel in einem kleinen Wäldchen. Das berührt mich.

Mein Fazit

Auch wenn Riikka Pulkkinnen in ihrem Roman also schwere Kost serviert, die man als Leserin erst einmal verdauen muss: Es lohnt sich unbedingt, sich auf diesen finnischen Roman einzulassen. Trotz der angesprochenen Themen kommt die Leichtigkeit in diesem Roman nicht zu kurz und zwischendurch ist Schmunzeln durchaus erlaubt. Dass man sich ganz nebenbei mit ethisch-moralischen Fragen beschäftigt, die auch für die deutsche Gesellschaft relevant sind, ist ein durchaus gewollter Nebeneffekt.

Riikka Pulkkinnen, Die Ruhelose
List Hardcover, 2014
Autorenseite (Finnisch und Englisch): http://riikkapulkkinen.com/teokset
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Die-Ruhelose-9783471350720
Autorin: Yvonne Giebels

Rezension: „In 10 Schritten…“ – Ratgeber von Madame Missou

Vor einigen Wochen erreichte mich per E-Mail die Anfrage einer gewissen Madame Missou. Sie sei über bloggdeinbuch.de auf mein „tolles Blog“ gestoßen. Sie verfasse „kleine, aber feine Ratgeber“ zu verschiedenen, meist typischen Frauenthemen und vermittle so „schön kompakt in ca. 45 Leseminuten das Wichtigste zum jeweiligen Thema.“ Jüngster Coup ist ein Büchlein, wie Frauen mit der Entdeckung umgehen, sie seien bisexuell. Ich könne ja mal einen Titel anfordern, und sie freue sich „riesig über eine ehrliche Rezension“. Gerne.

Wer ist Madame Bissou?
Wer ist Madame Missou?

Damals wusste ich noch nicht, dass sich hinter Madame Missou ein „junger deutscher Verleger“ versteckt; ein Mann, der sich nach eigener Aussage „durch die Kunstfigur Madame Missou und ihre schriftstellerische Arbeit im Bereich der Persönlichkeitsentwicklung einen tiefen Herzenswunsch“ erfüllen konnte. Eine Veröffentlichung im eigenen Namen sei „schlichtweg nicht denkbar gewesen“. Welch Pathos. So habe ich die Ratgeber „Mehr Selbstbewusstsein in 10 Schritten“ und „10 Schritte für mehr Schlagfertigkeit in jeder Situation“ selber gelesen und zusätzlich einer befreundeten Autorin gegeben. Das Resultat ist enttäuschend für Männer und Frauen, Madame.

Die Inhalte

Schauen wir beispielhaft auf die Verbesserung meiner Schlagfertigkeit. Bis einschließlich Seite acht des Ratgebers lese ich drei Mal „… erfahren Sie später…“. Sollte dies ein Kunstgriff sein, der zum gespannten Weiterlesen anregt, geht das nach hinten los. Ich will sofort wissen, was mir hilft, dafür lese ich ja einen Ratgeber. Fazit des Autors nach acht Seiten: Achten Sie auf Körper, Geist und Seele. Das ist wahrlich nicht neu. Im Anschluss gibt es drei Soforthilfe-Tipps: Gegenfragen, Lachen, Gehen. Auch nicht neu. Vielleicht die Malstunde danach? Silhouette aufmalen, schöne und weniger schöne Körperstellen markieren und diesen viel Aufmerksamkeit schenken. Der Hobbypsychologe schließt seinen Koffer und es wird sportlich. Balance-Übungen sollen mir zu mehr Standfestigkeit verhelfen. Mit Squash und ähnlichen Ballsportarten wird die Reaktionsfähigkeit trainiert. Entspannung ist das dritte Thema – mit Yoga, einschlägigen Büchern und CDs, auf keinen Fall beim Fernsehen. Und dann darf ich nochmal zeichnen: Dieses Mal geht es um fünf Säulen, die Lebenswelten darstellen sollen. Spätestens, als dann noch die Ergründung meiner Ängste ansteht, offenbart sich die große Schwäche dieses Ratgebers: Brainstormingfetzen werden ohne roten Faden sprunghaft aneinander gereiht.

Kapitel 5.3 heißt „Schlagfertigkeit kommt von Schlagen“. Vielleicht geht’s jetzt ums eigentliche Thema? Schade, doch nicht. Der verspannte Körper ist verantwortlich dafür, dass wir nicht schlagfertig sind. Also wieder Sport, Yoga und so. Und Atmen lernen.  Damit ich redegewandter werde, soll ich Fernsehsendungen kommentieren, egal welche. Desperate Housewives sei Bildungsfernsehen, sagt der Autor, und bespricht als Beispiel „How I met your mother“.

Nun ist’s gut. Ich will jetzt keinen Rat mehr. Soll eine schlecht übersetzte amerikanische Seifenoper weitab vom Original Maßstab für Lebenshilfe sein?

Erwarten Sie bitte nicht, dass ich jetzt noch den Ratgeber von Madame zum Selbstbewusstsein bespreche. Nur soviel: Acht Seiten Vorgeplänkel (auch hier) sind bei einem Umfang von 29 Seiten (die letzten fünf davon Buchtipps, Autorenportrait und rechtliche Hinweise) schlicht zu lang.

Das Fazit

Lesen Sie weiter Frauenzeitschriften und einschlägige Internetforen. Investieren Sie die Lesezeit für beide eBooks in ein hilfreiches Gespräch mit guten Freunden. Ich halte solche Ratgeber für Spinnerei. Das darf man hoffentlich auch sagen, wenn man nicht der Bundespräsident ist.

Fotonachweis (2): www.madamemissou.de

Rezension: Nina Sedano, Die Ländersammlerin

Quelle: www.prego-magazin.de
Quelle: www.prego-magazin.de

Nina Sedanos Buch „Die Ländersammlerin – Wie ich in der Ferne mein Zuhause fand“ erschien 2014 bei Eden Books. Die Mittvierzigerin hat innerhalb von 23 Jahren alle 193 UN-Staaten bereist und erzählt in diesem Buch davon (Eigenwerbung: „Die meistgereiste Frau Deutschlands“). Bis 2001 kombinierte die Autorin Arbeit und Reisen: Sie nutzte das gesparte Geld und jede freie Minute, um unterwegs zu sein. 2002 kündigte sie ihren Job als Teamleiterin bei einem Kreditkarteninstitut und konzentrierte sich ganz aufs Reisen. Nina Sedano lebt in Frankfurt/Main.

Das Buch

Angekündigt sind Abenteuer aus vierzig Jahren Reiseerfahrung mit lustigen, gefährlichen und berührenden Erlebnissen. Die Reisegeschichten sind chronologisch geordnet von der ersten Auslandsreise nach Österreich im Jahr 1971 bis zum vorerst letzten Ziel Turkmenistan im September 2011. Die einzelnen Kapitel gehen nicht ineinander über und lassen sich in beliebiger Reihenfolge auch einzeln lesen. Auf rund dreihundert Seiten ist nicht für alle Länder Platz. Ins Buch schafften es viele Tier- und Naturerlebnisse beispielsweise aus afrikanischen und zentralamerikanischen Ländern. Thematisiert werden Übernachtungen in Hostels, asiatischen Stundenhotels und bei Freunden, die Nina Sedano auf ihren Reisen kennenlernte.

Die Erzählungen von schönen und weniger schönen Erlebnissen geraten bei Nina Sedano neutral, ja fast mit Gleichmut. Wenn der Grenzübertritt von Ruanda nach Burundi drei Stunden erfordert, dann ist das eben so. Dem Untertitel „Wie ich in der Ferne mein Zuhause fand“ trägt die Autorin Rechnung mit teils sehr persönlichen Äußerungen. Da geht es zum Beispiel darum, wie der Schal einer Burka schmeckt („Igitt!“). Als die Autorin während des griechischen Wahltages der Eintritt in den Palast von Knossos verwehrt wird und sie deshalb bäuchlings eine Lücke im Zaun nutzt, gerät das sprachlich zu „je oller, desto doller“ und der anschließenden Frage, ob sie deswegen nun „Dreck am Stecken“ habe.

Mein Fazit

Wenn jemand voller Begeisterung von seiner Sammlung erzählt, spaltet sich die Zuhörerschaft in zwei Lager: die Faszinierten und die Gelangweilten. Bei der Ländersammlerin ist das nicht anders. Einige Geschichten beginnen, gehen jedoch nicht weiter. Dafür gibt es jede Menge Wortklaubereien, die weder lustig noch originell sind. Die Schilderungen der Natur- und Tiererlebnisse hingegen sind detailreich und fesselnd gelungen. Wer eine abwechslungsreiche, leicht zu lesende, unterhaltsame Lektüre sucht und die ungelenken Wortspiele ignorieren kann, ist mit der Ländersammlerin gut bedient. Reisejournalisten werden die Nase rümpfen. Ein ernsthafter Reiseführer ist das nicht. Doch der war wohl auch gar nicht beabsichtigt.

Nina Sedano, Die Ländersammlerin
Eden Books, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Die-Laendersammlerin-9783944296203

Autorin: Mica Berlin

Beschlossen und verkündet: Eine Burgenbloggerin geht auf die Walz

Das singende, klingende Spiel der Burgenblogger-Kandidaten ist vorbei. Die Trommler der ersten Reihe sind an einem Sonntag abrupt verstummt. Die Jury hat entschieden, endgültig, unumkehrbar.

Meine Favoritin hat sich durchgesetzt. Ich will jetzt nicht triumphieren und nicht mit dem Finger zeigen auf die Unterlegenen. Sie alle sind Sieger, denn ihre Ideen werden das Projekt insgesamt fördern. Doch es erfüllt mich mit einem Stück Genugtuung, dass eben nicht die tägliche, laute Präsenz auf Social Media Kanälen automatisch den Erfolgsweg ebnet. Ein solides Konzept mit dem gebotenen Maß an persönlicher Zurückhaltung hat mehr überzeugt. Auch in Hinblick auf die kommenden Gespräche der Burgenbloggerin in der Region und die Außenwirkung des Projektes halte ich das für eine weitsichtige Entscheidung.

Wenn die Trommelstöcke ausgedient haben, ist die Enttäuschung groß, auch wenn man versucht, dies zu verbergen. Ich bin wieder frei, sagt einer, und nun ist ja auch wieder Platz im Kalender.

In meinem Kalender steht weiter das Projekt Burgenblogger. Gerne gebe ich meine Ideen frei, damit sie im nächsten Jahr in die Walz einfließen. Gerne besuche ich die Burgenbloggerin auf ihrer Zinne und begleite sie an einigen Tagen journalistisch, wenn sie es mag. Und mich treibt die Idee um, ob sich dieses großartige Projekt auch in einer anderen Region umsetzen lässt.

Herzlichen Glückwunsch, Jessica Schober!