„Ich lese so schrecklich gerne vor“. Oberbürgermeister Burkhard Jung stellt ein Geständnis an den Beginn seiner Lesung bei „Buchmesse schmeckt“ und macht dann kurzen Prozess: In gerade mal 25 Minuten versteht er es, mit drei kurzen Passagen atemlose Stille zu erzeugen. Da fällt es nicht einmal auf, dass er vor dem Vortrag den Buchtitel unterschlägt.
„Diese Dinge geschehen nicht einfach so“ – ein Satz, der aktuell auf viele Lebensbereiche passt. Die Autorin Taiye Selasi verwendet ihn als Titel für ihren Debutroman, der 2013 uneingeschränktes Lob fand. „Schlicht atemberaubend“ attestierte die FAZ, und der SPIEGEL entdeckte „vielschichtige, großartige Literatur“. Jung wurde zur Buchmesse auf den Titel aufmerksam. Er teilt die Begeisterung, dämpft aber vor dem ersten Kapitel: „Ich mute Ihnen etwas zu, und es beginnt gleich mit dem Tod.“
Taiye Selasi zeichnet in ihrem Werk Innenansichten einer US-amerikanischen Familie, die wir heute als Multikulti bezeichnen würden. Sie selbst ist Kind dieser Kultur: Geboren in London als Tochter einer nigerianisch-schottischen Mutter und eines ghanaischen Vaters, wuchs sie in den USA auf. Ihr Roman zerstört schleichend und schonungslos das Idyll der Integration und wandelt es in einen Albtraum aus Demütigung, Ausgrenzung und Verrat. Dafür wählt Taiye Selasi eine poetisch-eindringliche Sprache, die grausam ist und zerbrechlich zugleich.
„Ich lese so schrecklich gerne vor.“ Burkhard Jung spielt es heute aus: Er versenkt sich in den Text, erschafft Bilder und akzentuiert variantenreich das Tempo. Enge in der linken Brust, eine geballte Faust – jede Geste ist stimmig. Der Multikulti-Schnupperkurs hat Lust gemacht: Nicht unbedingt auf Multikulti, aber auf die Geschichten von Taiye Selasi.
Vorangestellt diesem Roman von Yasmina Khadra ist ein Nietzsche-Zitat, das das Gedächtnis als den einzigen Mitwisser ausweist, welcher von einigen mitunter getrübt und misshandelt werde, um zumindest an diesem Rache zu nehmen. Damit ist hier nicht bloß jener nachträgliche nostalgisch-verklärende Blick auf die eigene Vergangenheit gemeint, sondern das Zurechtrücken der eigenen Biografie, welches die selbst begangenen Grausamkeiten schlicht nicht mehr sehen oder erinnern will.
Yasmina Khadra sind die beiden Vornamen der Ehefrau des algerisch-stämmigen Autors Mohammed Moulessehoul. Der 1955 geborene Moulessehoul war, bis er im Jahr 2000 den hochrangigen Dienst quittierte, Offizier in der algerischen Armee. Er kämpfte unter anderem gegen die islamistische Gewalt in seinem Land. Nach immerhin 36 Jahren der Zugehörigkeit, seit er als Neunjähriger von seinem Vater in die Obhut einer Militärakademie gegeben worden war, verließ er das Militär und emigrierte nach Frankreich. Zuvor zwang ihn ein Erlass, der es Angehörigen der Armee auferlegte, Publikationen einer Zensurbehörde vorzulegen, seine Bücher unter einem Pseudonym zu veröffentlichen. Zunächst unter dem Namen des Protagonisten seiner Kriminalromane „Commissaire Llob“, dann unter den beiden Namen seiner Frau. Erst im September 1999 deutete er in einem Interview mit „Le Monde“ an, das sich dahinter keine Frau verberge, bevor er sich im Exil vollends zu erkennen gab.
Yasmina Khadra, „grüner Jasmin“, konterkariert dabei sehr gut, was sich in den Ohren einer westlichen Rezeptionserwartung nur zu gut ausnehmen würde. Doch statt einer verängstigten oder gar unterdrückten Frau verbarg sich hinter diesem, wie es der „Guardian“ formulierte, eben ein „soldier-novelist“ oder auch „a man of war“. Und dieser beschreibt in „Die Lämmer des Herrn“ diese seine Wirklichkeit, die er als Soldat aktiv begleitet hat – die eines andauernden Kriegszustands. Genauer, des Bürgerkriegs, dem Algerien anheim fiel, als nach der Befreiung von der französischen Kolonialherrschaft und dem Fall des Monopols der „Nationalen Befreiungsfront“ (NFL) der wirtschaftliche Niedergang des Landes eine erste Phase der Demokratisierung zunehmend erstickte.
Als ein möglicher Wahlsieg islamistischer Kräfte 1991/92 zu einem Wahlabbruch und zur Anordnung zur Auflösung der „Islamischen Heilsfront“ (FIS) führten, rief diese zum bewaffneten Kampf gegen die intervenierende algerische Armee auf. Exemplarisch schildert Moulessehoul dies hier an der Gemeinschaft des Dorfes Ghachimat, das zunächst noch unberührt von den ersten, sich 1988 ausbreitenden Unruhen in Algier bleibt. Im Zentrum rückt dabei das Werben dreier junger Männer um dieselbe Frau, die unterschiedlicher nicht sein könnten, zunächst aber freundschaftlich verbunden sind: Allal, der Polizist ist, Kada, der Lehrer, und der in den Tag hinein lebende Jafer. Als sich die Tochter des Bürgermeisters jedoch nicht für Kada entscheidet, radikalisiert sich dieser und lässt sich als Mudjaheddin nach Afghanistan entsenden.
Moulessehoul entlarvt hier symptomatisch, wie enttäuschte Träume, auch die an eine „Dämonkratie“ (sic!), zu religiös motivierter Gewalt führen. Und wie sich unter deren Deckmantel Opportunismus und Kriminalität entfalten können. Er kleidet dies in eine klare, beinahe schlichte Sprache, unter der ab und an kurze Naturbeschreibungen und Landschaftsskizzen luzide hervorstechen. Dies ist bewusst gesetzter Kontrast zu der geschilderten drastischen Gewalt in der menschlichen Gemeinschaft während der Schreckensherrschaft der jungen Islamisten. Obwohl sich Moulessehoul redlich bemüht, auch über die drei Freunde hinaus ein differenziertes Bild der Dorfgemeinschaft mit je wechselnden Perspektiven und Motiven zu liefern, ist es offenkund, wem dort seine Sympathien gelten und wem nicht.
„Die Lämmer des Herrn“ ist Tendenzliteratur im besten Sinne: Ein schnörkelloser und schonungsloser Bericht aus der Misere Nordafrikas. Mord, Vergewaltigungen oder Bombenanschläge – der Terror – als islamistische Antwort auf nicht fruchtende Demokratiebestrebungen und den Bruch mit der sich auflösenden traditionellen Dorfgemeinschaft. Und dies noch aus einer Zeit lange vor dem sogenannten „Arabischen Frühling“.
Yasmina Khadra: Die Lämmer des Herrn
Aufbau Verlag, Berlin 2011
Übersetzung von Les agneaux du Seigneur, Paris 1998
In der vergangenen Nacht habe ist erstmals von der Buchmesse geträumt. Ich war am Stand der Ukraine und fragte nach den neuesten Ereignissen. Bei der Schweiz gab es eine deftige Brotzeit. Und Thilo Sarrazin erklärte mir, warum er um keinen Preis Deutschland verlassen will.
Spaß am Lesen kann bei richtiger Förderung schon früh beginnen. Die Leipziger Buchmesse will mit dem Programm „Leipzig liest für Kids und Teens“ einen Beitrag zur Leseförderung leisten. Beachtlich: 250 Autorinnen und Autoren gestalten über 400 Veranstaltungen an 120 Leseorten. Lesen, Hören, Mitmachen: Junge Bücherfans und Zuhörer ab zwei Jahren sind an allen Tagen der Buchmesse die Hauptpersonen.
Auch wenn sie es nicht gerne zugeben: Jungen müssen den Mädchen beim Lesen den Vorsprung lassen. Um Jungen ans Buch zu locken, gibt es am 13. März im Theater der Jungen Welt einen „Thementag Jungen“ mit Geschichten und Aktionen rund um Freunschaft, erste Liebe und Selbstfindung. Ganz so eng wird es dann doch nicht gesehen: Auch Mädchen sind willkommen.
Die Leidenschaft für Spannung verbindet Jungen und Mädels jeden Alters. Am Kinderkrimitag am Messesamstag können junge Detektive an vielen Leseorten mitraten und mitfiebern. „Haste Töne?“ heißt es im Musikzimmer in Halle 4. In Kooperation mit MDR Klassik zeigen Instrumentenbauer ihr Handwerk. Und auch das Gastland Schweiz lädt Nachwuchsleser mit der „Familien-Rallye Tour de Suisse“ zum Entdecken ein.
Eng wird es am Sonntag: Am traditionellen Familientag sollte man Zeit mitbringen und die Wunschtermine großzügig kalkulieren. Schon ab 9 Uhr gibt es auf der Magnolienallee der Glashalle ein Familienfrühstück (kostenpflichtig). Alle Kinder bis einschließlich 12 Jahre erhalten bis 10 Uhr freien Eintritt, wenn sie an der Kasse ihr Lieblingsbuch vorlegen.
Das komplette Programm „Leipzig liest für Kids und Teens“ ist in den Leipziger Buchhandlungen und an den Leseorten erhältlich.
Unterschiedlicher könnten zwei Brüder nicht sein. Da ist Lucien, der nachdenkliche, strebsame Student, der von einem normalen, ruhigen Leben träumt. Sein Bruder, von allen nur „Der Kleine“ genannt, entscheidet sich für den Schulabbruch, Drogen, Waffen und ein aufregendes, gefährliches Leben. Beide suchen ihr Heil in den Slums der Hauptstadt Haitis, wohin sie aus dem zentralen Hochplateau gegangen sind, ihre blinde Mutter zurücklassend.
Schriftsteller und Literaturdozent Lyonel Trouillot, geboren in Port-au-Prince, lässt uns Leser in die reale und die gedankliche Welt seines Schützlings Lucien eintauchen. Es ist die Welt des ersten Januar 2004; keine fröhlich feiernde Neujahrswelt rund um den 200. Jahrestag der Unabhängigkeit, sondern der tödliche Kosmos der haitianischen Revolution. Dieser Sonntag beginnt mit dem Besuch Luciens bei der Arztfamilie seines debilen Nachhilfeschülers Alfred. Längst hat Lucien die reiche Fassade durchschaut, hinter der jede jeden belügt und betrügt. Die Diskrepanzen zwischen Luciens Gedanken und seinem Verhalten wären komisch, wenn sie nicht so notwendig wären: Sonntag ist Zahltag, Lucien braucht das Geld, das er durch die Nachhilfestunden verdient. Mit diesem Geld in der Tasche wird der Lebensmittelhändler unverhofft zum Engel, denn er schenkt Lucien eine ganze Packung Zigaretten. An anderen Tagen kann er sich gerade zwei oder drei einzelne leisten. Lucien und seine Zigaretten werden zu den ersten Helden des Tages unter den Komilitonen, mit denen er sich zum Demonstrieren vor dem Nationalpalast verabredet hat. Auf dem Marsch dorthin laufen die Dinge aus dem Ruder. Die Uhr des Kleinen tickt im Rhythmus von Crack. Luciens Uhr hat ausgetickt.
Lyonel Trouillot erzählt die Geschichte der zwei Brüder und der revolutionären Vorgänge auf Haiti in einer starken und wunderbar poetischen Sprache. Diese kontrastiert zu den drastischen Ereignissen, sodass ich mich als Leserin zugleich verbal verführt und politisch wachgerüttelt fühlte.
Vor mir liegt eine kleine Pressemappe, die mich mehrfach berührt.
Der ACABUS Verlag kündigt für März die Veröffentlichung des Titels „32 Postkarten – Post aus Nazi-Deutschland“ an. Der Autor Torkel S Wächter sammelt und kommentiert darin Postkarten, die er vor zehn Jahren im Nachlass seines Vaters in Stockholm fand. Sie betreffen ihn direkt: Es sind echt gelaufene Briefkarten seiner deutsch-jüdischen Großeltern aus Hamburg, die sie 1940/41 an den Sohn in Schweden schrieben. Die letzte Karte ging am Nikolaustag 1941 direkt vor dem Abtransport in ein Konzentrationslager auf die Reise. Heute erinnern zwei Stolpersteine in Hamburg an das Schicksal der Wächters.
Torkel S Wächter konnte die Karten nicht lesen. Sie waren in Deutsch geschrieben und in Sütterlinschrift. Er lernte Deutsch, forschte in Archiven und sprach mit Zeitzeugen. Er lernte Verwandte kennen und erfuhr, über was bisher geschwiegen wurde. Der Autor versteht „32 Postkarten“ als ein Vermächtnis für die heutige Generation und hat die Dokumente in ein größeres Kunst- und Literaturprojekt eingebunden, für das er mit authentischem Material aus dem Dritten Reich arbeitet.
Ich bin betroffen: Als Postkartensammler, als Familienforscher und als Bürger, der hier in Leipzig gegen die neuen und alten Nazis aufsteht.
Ich wünschte, auch ich hätte so ein Erbe meiner Familie.
Ich bin gespannt auf die Veröffentlichung, die als Paperback und als E-Book erhältlich sein wird.
Eine Rezension erfolgt hier nach der Leipziger Buchmesse.
Der Roman spielt im München des 16. Jahrhunderts. Die Protagonistin ist Genoveva, genannt Veva Leibert. Sie ist die Tochter eines angesehenen Münchener Kaufmanns und zu Beginn der Handlung auf dem Weg nach Tirol, um dort den Sohn eines Handelspartners ihres Vaters zu heiraten. Doch sie und ihr Zwillingsbruder Bartl werden überfallen, dabei wird Bartl getötet und Veva von den Räubern entführt. Benedikt Haselegner schafft es, sie zu befreien und nach München zurück zu bringen, aber dort glaubt ihr niemand, dass die Räuber sie nicht missbrauchten.
Nun hat sie auf dem Heiratsmarkt an Wert verloren, doch ihr Vater arrangiert eine Ehe mit Ernst Rickinger, der als Weiberheld und Kirchengegner gilt. Veva hält nicht viel von ihm, muss sich aber fügen. Im Laufe der Zeit findet das ungleiche Paar zueinander, aber ihr Glück wird ihnen nicht gegönnt. Der Geistliche Portikus spinnt bereits Intrigen gegen Ernst, da dieser damals Pater Remigius demütigte. Außerdem kann sich Haselegner nicht damit abfinden, dass Veva einen anderen heiratete, da er sie selbst ehelichen möchte.
Der Roman ist in einer einfachen und gut verständlichen Sprache geschrieben. Es werden einige Begriffe verwendet, die heutzutage nicht mehr geläufig sind, doch diese werden im Glossar erklärt, sodass keine Verständnisschwierigkeiten auftreten. Außerdem sprechen einige Figuren bayrischen Dialekt und dies lässt den Roman schon in Bezug auf die Sprache realistisch wirken. Alles in allem begleitet und unterstützt die sprachliche Gestaltung den Inhalt gut.
Die Handlung ist schlüssig und gut verständlich. Es besteht zwar die Gefahr, mit einigen Namen durcheinander zu kommen, doch dafür hat man ein Personenverzeichnis.
Die Figurengestaltung ist gut gelungen, denn man kann sich gut in die Protagonisten hineinfühlen. Mit einigen Charakteren sympathisiert man sofort, z.B. mit Veva, die versucht, sich in einer männerdominierten Gesellschaft zurechtzufinden. Einige jedoch sind dem Leser auf Anhieb unsympathisch, z.B. Portikus. Mit Ernst wird der Leser erst mit der Zeit warm, sodass man die Entwicklung seiner Beziehung zu Veva gut nachvollziehen kann.
Fazit:
Es gibt nicht viel zu bemängeln, aber ein paar Kritikpunkte können gefunden werden.
Die Handlung und die Figurengestaltung sind in meinen Augen ein wenig zu klassisch, denn starke Frauen und arrangierte Ehen sind oft Themen in historischen Romanen, vor allem bei Iny Lorentz. Trotzdem ist der Roman nicht typisch romantisch, sondern an vielen Stellen spannend.
Ich würde es für all jene empfehlen, die starke Frauenfiguren, aber keinen Kitsch mögen. Ich selbst habe es mit Freude gelesen.
Iny Lorentz, Die Ketzerbraut. Knaur Taschenbuch Verlag
„Die Erdbeeren von Antons Mutter“ ist ein Roman von Katharina Hacker aus dem Jahre 2010. Es ist der Nachfolgeroman zu „Alix, Anton und die anderen“, aber eine in sich geschlossene Geschichte, die man durchaus auch lesen und verstehen kann, ohne das Vorgängerbuch gelesen zu haben.
Der Inhalt
Die Hauptakteure sind Anton, ein allein lebender Arzt, der in der Provinz aufwuchs und nun in Berlin seine Praxis hat, dessen Schwester Caroline und deren Eltern. Weitere wichtige Rollen spielen Lydia, die Anton durch einen Unfall kennen und lieben lernt, deren kleine Tochter Rachel sowie Rachels leiblicher Vater Rüdiger und dessen Weggefährte Martin.
Es geht im Buch um die voranschreitende Demenz von Antons Eltern und die Art, wie er als Sohn damit umgeht. Antons Eltern leben in einem kleinen Ort nahe Wolfsburg. Sie haben dort ein Haus und am anderen Ende des Dorfes einen kleinen Acker, auf dem Antons Mutter seit jeher Erdbeeren anpflanzt. Seit Anton aus dem Haus ist, hat sie jedes Jahr Erdbeermarmelade gekocht, sie in Gläser gefüllt und zu ihm nach Berlin geschickt. In diesem Jahr aber hat sie völlig vergessen, die Erdbeeren überhaupt anzupflanzen. Als Anton das sehr spät bemerkt, pflanzt er einfach heimlich noch Erdbeeren, ohne seine Mutter auf ihr Versehen hinzuweisen, und hofft mit Hilfe eines benachbarten Gärtners, dass doch noch schöne Früchte heranreifen.
Die Autorin erzählt parallel zu der Geschichte über die voranschreitende Demenz der Eltern in Calberlah die Geschichte um Antons Leben in Berlin, wo er als Arzt praktiziert. Eines Tages rennt er aus Versehen eine Radfahrerin um und verliebt sich sofort in sie. Lydia ist auch Ärztin und alleinerziehende Mutter der kleinen Rachel. Der Vater des Mädchens ist Rüdiger, ein ehemaliger sehr egozentrischer Fremdenlegionär, der Lydia und seine Tochter, die er nie sehen durfte, einfach nicht vergessen kann. Ebenso ergeht es Rüdigers Weggefährten aus der Fremdenlegion. Martin ist auch vernarrt in Lydia und wird im Verlauf der Geschichte zu einem Schatten von Anton und Lydia.
Katharina Hacker stellt gegenüber, wie sich die Liebesgeschichte zwischen Anton und Lydia immer weiter entwickelt und wie gleichzeitig die Demenz von Antons Eltern weiter voran schreitet. Antons Mutter würde nur zu gern die Frau in Antons Leben und das Kind endlich kennen lernen, aber Anton selbst hält das für zu früh. Er ist sich nicht sicher, was das mit Lydia nun genau ist und ob sie überhaupt eine feste Beziehung mit ihm eingehen will. Mit der Zeit merkt auch Antons Mutter selbst, wie vergesslich sie geworden ist. Sie reflektiert ihr Leben, denkt viel an eine nicht erfüllte Liebe und an einige schöne Momente in der Vergangenheit zurück. Der Leser erlebt viele Situationen, in denen das Vergessen gnadenlos über Antons Mutter hereinbricht.
Im weiteren Verlauf der Geschichte kommt Antons Schwester Caroline aus Amerika zurück, weil sie befürchtet, dass ihre Eltern nicht mehr ohne ihre Hilfe leben können. Im Inneren hofft sie, wieder fliegen zu können, aber die Situation in Calberlah erfordert dringend ihren Heimatbesuch nach vielen Jahren im fernen Amerika.
Es wird sehr gut beschrieben, wie sehr es Anton zu schaffen macht, wie ihm seine eigene Mutter entgleitet und fremd wird. Er möchte gern für die Eltern da sein, hat aber auf der anderen Seite noch sein eigenes Leben in Berlin mit seiner Praxis, seinem Freundeskreis und natürlich mit Lydia und ihrer Vergangenheit, die so vehement ins Leben der beiden Einzug hält. Insgeheim schmiedet er schon Pläne von einer gemeinsamen Zukunft mit ihr und der kleinen Rachel. Ihm fällt allerdings auch Martin immer mehr auf, der nicht nur Lydia, sondern auch ihn beobachtet und ständig verfolgt. Stress und Sorgen fordern ihren Tribut und Anton bekommt gesundheitliche Probleme. Er wird auch immer wieder mit dem Tod konfrontiert.
Am Ende der Geschichte machen sich fast alle Beteiligten auf den Weg zu dem Erdbeeracker, wo plötzlich sehr viele Schnecken auftauchen, die langsam vor sich her kriechend fast alle Erdbeeren vernichten konnten, noch bevor die Familie den Acker erreichte. Ich finde dieses Bild unheimlich treffend gewählt. Auch die Demenz von Antons Eltern kriecht langsam vor sich hin und zerfrisst am Ende den Menschen, der nach und nach vergisst, sowie all die Menschen in dessen Umfeld, die das miterleben müssen.
Mein Urteil
Mich als Leser macht das Buch sehr betroffen. Ich selbst helfe meiner Großmutter, die von Monat zu Monat mehr vergisst, und kann mich dadurch sehr gut in Antons Lage versetzen.
Zwei Zitate von Martin möchte ich gerne an dieser Stelle wiedergeben, weil sie so treffend und berührend waren:
„Sie schaut dich bloß an, weißt du? Sie schaut dich an und denkt nach. In ihrem Kopf ist alles dunkel.“
„Wenn wir sterben, ist alles weg, klar. Aber sie lebt. Und egal, was ihr passiert in ihrem Leben, sie erinnert sich nicht mehr daran.“
Einige Kleinigkeiten hab ich allerdings auch zu bemängeln:
Die Handlung ist nicht kapitelweise aus Sicht einer Person beschrieben, sondern wechselt teilweise von Absatz zu Absatz wild hin und her. Ich habe oft nochmals ansetzen müssen, um genau zu wissen, um wen es gerade geht.
Einige Dinge sind doch sehr weit hergeholt. So verfolgen in einer Szene Martin und ein vor Wut rasender Rüdiger Lydias Auto mit Anton und dem Kind an Bord auf der Autobahn, und plötzlich findet Rüdiger zufällig eine Waffe unter seinem Sitz, mit der er aus dem Fenster auf einen fremden LKW schießt…
Für meinen Geschmack ist Lydias Rolle zu dramatisch ausgeschmückt. Eine alleinerziehende Ärztin, der ein Alkoholproblem und eine Depression zugeschrieben werden, und ein Kindsvater, der als ausgebrannter Kriegsheld kaltblütig Menschen ermordet hat und nun mit Bad Boy Image seiner Exfreundin und dem Kind nachstellt, sind so nicht nötig für die Kernaussage des Buches und machen es langatmig.
Insgesamt finde ich, dass dieses Buch absolut lesenswert ist und einige tief bewegende Szenen enthält, die zum Nachdenken anregen.
Katharina Hacker, Die Erdbeeren von Antons Mutter
S. Fischer Verlag, 2010
„Wenn Sie mich Russe nennen, dann bin ich eben ein Russe“, antwortet mir David, der Vater einer Freundin auf die Frage, wie ich ihn politisch korrekt einordnen soll.
Fakt ist, „russisches“ Leben ist ein Teil unserer deutschen Gesellschaft.
In „Die Chaussee der Enthusiasten. Eine Reise durchs russische Deutschland“, erschienen im Aufbau Verlag, berichtet Merle Hilbk über das Spektrum russischsprachigen Lebens in Deutschland. Ausgehend von der Erstaufnahmeeinrichtung Friedland im Landkreis Göttingen begibt sich Hilbk auf eine Reise, die sie quer durch Deutschland führt. Dabei trifft sie Menschen, die alle aus unterschiedlichen Gründen aus der damaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommen sind. Sie hört die Hoffnungen der Russlanddeutschen, die auf der Suche nach Heimat sind, trifft russische Intellektuelle mit jüdischen Wurzeln oder feiert auf der angesagten „Datscha Party“ in Hamburg zu russischen Rockbeats. Sie entdeckt eine Welt voller Reichtum in Baden-Baden, wird Zeugin monotoner Plattenbausiedlungen in Berlin-Marzahn und besucht russische Poetry Slams.
In erster Linie erzählt Hilbk Geschichten von Menschen. Gleichzeitig gelingt es ihr, die vielen Facetten des russischen oder besser gesagt russischsprachigen Lebens zu skizzieren, ohne dabei in klischeehafte Erzählungen zu verfallen. Lebhaft wird der Leser Teil ihrer Begegnungen, verfolgt gespannt die Geschichten und Schicksale der einzelnen Protagonisten. Die Autorin karikiert nicht, sie erzählt, mal komisch, mal sachlich und mal traurig. Sie zeigt Mutlose, die sich in eine Blase zurückziehen, aber auch hoffnungsvolle Menschen, die aus fehlender Anerkennung der Mehrheitsgesellschaft kreative Projekte ins Leben rufen und so aktiv zu einem bunten Deutschland beitragen. Hilbk beobachtet. In einer geschmeidigen Art vermittelt sie ganz nebenbei geschichtliche Fakten, die mir so nicht bewusst waren oder die ich schlichtweg nicht wusste.
So wird der Bericht zum vermeintlichen Roman, der sich aus vielen Begegnungen zu einem großen Ganzen zusammensetzt und uns eine Welt näher bringt, die mitten unter uns lebt und atmet.
Merle Hilbk, Die Chaussee der Enthusiasten. Eine Reise durchs russische Deutschland. Aufbau Verlag.
Diese Rezension habe ich längere Zeit vor mir her geschoben, denn ich war ziemlich enttäuscht. Der Klappentext und die Aufmachung des Buches versprachen so viel. Nur leider hält das Buch nichts von diesen Versprechungen.
Die Idee der Geschichte ist gut und realistisch: Maximilian und Sophie werden bei einem schlimmen Bombenangriff 1945 in einem Frankfurter Keller verschüttet. Dort erleben beide das, was man ‚Liebe auf den ersten Blick‘ nennt. Und noch mehr: Sie verfallen einander mit Haut und Haaren. Der Haken: Beide sind nicht nur verheiratet, sondern haben auch Kinder. Als sie sich dann aus dem Keller freigeschaufelt haben, beschließen sie, mit Hilfe einer guten Freundin von Sophie einen kompletten Monat in ‚ihrem Zuhause‘, dem Keller, zu verbringen, und dann erst zu ihren Familien zurückzukehren. Alles Weitere wollen sie dem Schicksal überlassen. So vereinbaren sie, sich jedes Jahr am 18. April zwischen 6 Uhr morgens und Mitternacht für genau fünf Minuten am Römerplatz aufzuhalten. Wenn sie sich begegnen, verbringen sie ihr weiteres Leben gemeinsam. Wenn nicht – dann versuchen sie es eben nächstes Jahr wieder.
Die Idee ist gut, aber dann wird zunehmend dick aufgetragen:
Sophie ist arm wie eine Kirchenmaus, ihr Mann ein prügelnder, ungepflegter, widerlicher Alkoholiker, der droht, sie umzubringen, sollte sie ihn verlassen. Maximilian gehört zu einer der reichsten Familien Frankfurts, steckt aber fest in einer Ehe mit einer gefühlskalten Frau und einem Netz aus Intrigen, das sein patriarchalischer Vater perfekt spinnt.
Wie sich die Leben der beiden über die nächsten Jahre entwickelt, wird abwechselnd von der Autorin erzählt und anhand von Briefen, die Maximilian und Sophie einander schreiben (ohne sie absenden zu können, da sie nicht mal ihre Nachnamen ausgetauscht haben). Auch diese Idee ist gut, allerdings ging mir das permanente Gejammere der beiden unglaublich auf die Nerven. Es ist für mich unglaubwürdig, dass Sophie in den Wirren der Kriegs- und Nachkriegszeit, in der tausende von Menschen verschollen sind, nicht irgendeinen Weg gefunden hätte, mit ihren Kindern komplett unterzutauchen.
Auch Maximilian fügt sich, wird immer schwächer und auf Dauer lethargisch und depressiv. Es muss sogar sein Sohn für ihn aktiv werden und ihn aus der scheinbar aussichtslosen Situation innerhalb weniger Monate herausboxen. Auch hier ging mir die Figur des armen, reichen Mannes, der nicht in der Lage ist, selbstständig zu handeln, sehr auf die Nerven. Vielleicht war es zu Kriegszeiten und in der Nachkriegszeit tatsächlich in der Gesellschaft so, aber ich tue mich schwer damit zu glauben, dass zwei Menschen, die sich dermaßen lieben wie Max und Sophie, tatsächlich 20 Jahre lang willentlich in ihren miserablen Leben steckenbleiben – egal in welcher Epoche.
Doch auf einmal überschlagen sich die Ereignisse, schnell wird noch der Bezug zu tatsächlich Geschehenem hergestellt, und ich kam aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus. Nach 20 Jahren tatsächlich Licht am Ende des Tunnels? Hoffnungsvoll nahm ich die letzten Seiten in Angriff und … dazu kann ich nun nichts sagen, ohne zukünftigen Lesern zu viel zu verraten. Darum sage ich sehr neutral: Der Schluss passt zu meinem Eindruck vom gesamten Buch. Und schüttele meinen Kopf noch ein wenig weiter.
Die Sprache im Buch ist zum Teil sehr schlicht, zum Teil sehr schwülstig. Dazu erklärt die Autorin überflüssig oft Sachverhalte, die man als halbwegs gescheiter Leser eigentlich sofort selbst versteht.
Mein Fazit: Es hätte wirklich ein sehr schönes Buch werden können, hinterließ aber während des Lesens und nach dem Zuschlagen bei mir ein eher genervt-frustriertes Gefühl. Übrigens ist ‚Rebecca Stephan‘ ein Pseudonym. Dahinter steckt Steffi von Wolff, die wohl normalerweise eher im Bereich der lustigen Frauenbücher angesiedelt ist. Da ich davon allerdings (noch?) keines kenne, kann ich keine Aussagen dazu machen, ob ihr das Genre vielleicht besser liegt. Vielleicht teste ich das mal als nächstes aus.
Rebecca Stephan, Zwei halbe Leben. List Verlag, 3. Auflage 2012