Rezension: Majgull Axelsson, Ich heiße nicht Miriam

Ist wirklich noch ein weiteres Buch über den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust nötig, nachdem das Thema seit mehr als fünf Jahrzehnten in der belletristischen Literatur dauerpräsent zu sein scheint? Diese Frage lässt sich nach der Lektüre von „Ich heiße nicht Miriam“ eindeutig mit Ja beantworten. Die Autorin beleuchtet das Thema aus einem völlig neuen Blickwinkel und gibt dem Schrecken des Krieges ein Gesicht und einen Namen.

www.ullsteinbuchverlage.de
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Erinnerung als Roma an die Naziherrschaft
Majgull Axelsson erzählt die Geschichte der Miriam Guldenberg. Sie bekommt an ihrem 85. Geburtstag von der Familie einen silbernen Armreif geschenkt, in den ihr Name eingraviert ist. Miriam kommentiert das Geschenk mit den Worten, dass ihr Name nicht Miriam sei. Jetzt brechen sich Erinnerungen Bahn und die Familie erfährt die wahre Geschichte der Protagonistin. Miriam erzählt sie zum ersten Mal davon, wie ihr Leben als Roma unter nationalsozialistischer Herrschaft verlief und wie sie später unter jüdischem Deckmantel in Schweden lebte.

Weil den brutalen Aufseherinnen im Konzentrationslager zerlumpt erscheinende Häftlinge ein Dorn im Auge waren, hatte die Protagonistin kurzerhand die eigenen Kleider abgestreift und war in die saubere Kleidung einer Toten geschlüpft, womit die Zigeunerin Malinka auch ihre Identität gewechselt hatte. Es gelingt ihr mit eisernem Willen, die Konzentrationslager in Auschwitz-Birkenau und Ravensbrück zu überleben. Nach Kriegsende gelangt die vermeitliche Miria schließlich nach Schweden, wo sie versucht, sich unter falschem Namen und mit falscher Religion zu integrieren.

Sensibel und aktuell
Majgull Axelsson schlägt mit „Ich heiße nicht Miriam“ einen sensiblen Bogen von den Schrecken und den Folgen der Naziherrschaft zur aktuellen Flüchtlingsproblematik. Auch damals stellte die Integration der zahllosen Flüchtlinge ein massives Problem für die einheimische Bevölkerung dar. Die Autorin schildert die Schrecken ihrer Protagonistin sensibel und stilsicher. Sie schildert herausragend, wie die Annahme einer fremden Identität immer mehr zur Realität wird, sodass die eigentliche Herkunft zu einem fernen Schimmer in der Erinnerung verblasst.

Mein Fazit: „Ich heiße nicht Miriam“ ist ein empfehlenswerter Roman, der den Überlebenskampf in unmenschlichen Zeiten glaubhaft schildert. Majgull Axelsson ist ein fesselnder Roman über entwurzelte Menschen in dunklen Epochen der Geschichte gelungen.

Majgull Axelsson, Ich heiße nicht Miriam
List, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Ich-heisse-nicht-Miriam-9783471351284
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Tag der Kriegsenkel (II): Matthias Lohre liest zum Elbe Day in Torgau

Matthias Lohre liest in Torgau. Foto Detlef M. Plaisier

Und wieder stehen mir Tränen in den Augen. Wenn ich es nicht schon seit der Beschäftigung mit der Biografie meines Vaters und der Lesung von Matthias Lohre auf der Leipziger Buchmesse wüsste, so wäre mir spätestens jetzt klar: Die Last als Kriegsenkel hat mein Handeln über Jahrzehnte bestimmt, die Befreiung bewirkt jetzt eine späte Wende in meinem Leben.

Matthias Lohre liest die ersten beiden Kapitel seines Buches. Dabei wählt er einen anderen Weg als Sabine Bode, die das Thema Kriegsenkel in Deutschland ins Bewusstsein rief. Statt Theorie und konstruierter Lebensbeispiele wagt er das Private. Er erzählt vom Tod seines Vaters als Geisterfahrer, lässt weitere Einblicke in sein Leben zu. Doch genau das verlangt Lohre auch seinen Lesern ab. Wer sich einlässt, wird auf einen Weg geführt, der fordert: Sich erinnern, Schmerz und Trauer zulassen, schließlich Ballast abwerfen und neues Lebensglück finden. Lohre versteht es journalistisch geschickt, schon früh im Text Betroffenheit auszulösen und dem Leser die Entscheidung zu überlassen, ob er ihm folgen will.

Impression aus dem Reichsarbeitsdienst 1943. Foto: Archiv Detlef M. Plaisier
Impression aus dem Reichsarbeitsdienst 1943. Foto: Archiv Detlef M. Plaisier

Rund zwanzig Gäste in der Stadtbibliothek Torgau waren dazu bereit. Lohres Weg der Traumabewältigung trägt schnell Früchte: Auch die Zuhörer öffnen ihr Privatleben. Einer erzählt von der Vertreibung mit der Familie 1944 aus Ostpreußen, damals drei Jahre alt. Seine Generation sei um die eigene Jugend komplett betrogen worden, und doch wurde keiner der Mitschüler und Kommilitonen aus der Lebensbahn geworfen. Wir packen das, nur dieses Motto galt, und unsere Kinder sollen es einmal besser haben. Null Bock? Undenkbar. Gibt es Unterschiede in der Aufarbeitung zwischen Ost und West? Schon Sabine Bode hatte Probleme, im Osten Deutschlands Gesprächspartner zu finden. Die Menschen im Osten, so ein Zuhörer, seien von einer Diktatur in die andere gerutscht; da sei es doch nicht verwunderlich, dass man persönliche Verletzungen nicht gerne preisgebe.

Die Verdrängung als Kraftquell, um das äußerliche Leben zu meistern – Matthias Lohres Analyse trifft offenbar das Lebensgefühl vieler. Man könne mit der Verdrängung sein Leben beenden, so eine Stimme, doch wer aufarbeite, dem gehe es deutlich besser. Und genau dazu will Matthias Lohre ermutigen: Man kann erkennen, dass eine traumatisierte Generation die kommende zeugt und die Kultur der Untertanen fortlebt. Man kann betrauern, was in der Kindheit so furchtbar schief gelaufen ist. Und dennoch kann man umkehren und die Verursacher des eigenen Leids lieben. Ich habe es durch die Beschäftigung mit dem Thema gelernt.   

www.matthiaslohre.de

© Lesungsfoto: Detlef M. Plaisier

Viel Erfolg, Moritz Meyer!

Nun zieht er also ein, der Moritz Meyer, in die Sooneck, und wenn es in das Tagesgeschäft passt, auch in die Ehrenbreitstein. Die Initiatoren haben das Projekt gedanklich weiterentwickelt, und mir scheint, zum Positiven. Da kommt einer, der die Gegend kennt, der journalistischen Umgang kennt, der Familie hat und sie auch während des Auftrages pflegt. Klingt gut und schafft Vertrauen bei denen, die mit ihm reden sollen. Das ist kein Seitenhieb auf Jessica Schober: Sie war Klasse, offenen Auges, mit tollen beiträgen, aber ihre Arbeitsweise hat nicht gepasst. Hätte man ihr die Freiheiten gegeben wie ihrem Nachfolger, wäre sie vielleicht geblieben.

Also Moritz: Mach et joot!

Rezension: Franziska Walther, Werther Reloaded

Johann Wolfgang von Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ ist für die einen Erinnerung an eine lästige Pflichtlektüre in der Schule, für andere eine zeitlose Geschichte über Liebe und Verzweiflung. Franziska Walther, Illustratorin der Reloaded-Version, ist in der Goethestadt Weimar geboren und studierte an der dortigen Bauhaus-Universität. Heute arbeitet sie als freie Grafikerin und Illustratorin in Weimar und Hamburg.

www.kunstanstifter.de
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242 Jahre nach dem Erscheinen wagt sich Franziska Walther mit „Werther Reloaded“ an Goethes Briefroman. Spannend ist dabei nicht nur das Format einer Graphic Novel. Die Illustratorin möchte die tragische Geschichte nämlich nicht nacherzählen, sondern lediglich als Referenz nutzen, so heißt es im Nachwort.

2016: Protagonist Werther ist ein hipper Art Director in New York. Er führt ein exzessives,  aber sinnenentleertes Leben mit  One-Night-Stands, Partys und Drogen. Seine Gefühle teilt er der Welt über die sozialen Medien mit. Auf mich wirken diese ersten Seiten des Buches zu gewollt modern und klischeebeladen. Mehr Tiefe erhält Franziska Walthers Neuinterpretation, als sich Werther nach einem Zusammenbruch eine Auszeit in der Natur nimmt. Ab diesem Teil werden die Illustrationen mit Originalauszügen aus Goethes Roman kombiniert, was hervorragend funktioniert. Die mit Hashtags versehenen Bilder auf der Social-Media Plattform Instagram ziehen sich weiter durch das Buch, was meiner Meinung nach nicht notwendig gewesen wäre, um den aktuellen Bezug herzustellen.

Bei einer Party lernt Werther Lotte kennen und verliebt sich. Wie aus Goethes Klassiker bekannt, ist diese jedoch bereits an Albert vergeben. Zurück in New York, wird Werther von den Gedanken an Lotte weiter verfolgt und stürzt in einen Strudel aus Depression und Suizidgedanken. Bei der Gestaltung des Endes, soviel sei gesagt, löst sich Franziska Walther von der Originalgeschichte.

Durch die kleinen Abwandlungen der vertrauten Handlung wird diese Graphic Novel in keinem Moment langweilig, selbst wenn man Goethes Klassiker in und auswendig kennt. Im Gegenteil: Es macht Lust darauf, noch einmal in Goethes Werk von 1774 reinzulesen. Umso mehr habe ich mich als Leserin gefreut, dass der vollständige Originaltext als Anhang abgedruckt ist. Interessant ist dabei auch, noch einmal die Inspiration für Franziska Walthers Bilder vor Augen zu haben. Ihre Illustrationen sind sehr farbintensiv und überraschen auf jeder Seite neu. Hier wird klar, dass Graphic Novels eine ganz eigene Kunstform darstellen, die zu Recht mehr und mehr den deutschen Markt erobern.

Fazit:  Ein ästhetisch sehr ansprechendes Buch! Franziska Walther schafft es, Werthers tragische Geschichte in die Gegenwart zu transportieren, obwohl die Neuinterpretation an manchen Stellen etwas übertrieben wirkt. Dank der bekannten Vorlage ist dieses Buch ein empfehlenswerter Einstieg für alle, die sich noch nie an das Genre Graphic Novel gewagt haben.

Franziska Walther, Werther Reloaded
Kunstanstifter Verlag, 2016
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Werther-Reloaded-9783942795371
Autorin der Rezension: Franziska Schmidt

Welttag des Buches 2016 (II): Internationale Bibliothek Leipzig eröffnet in der Eisenbahnstraße

Zum Welttag des Buches am 23. April bekommt die lebendige Szene im Leipziger Osten kulturellen Zuwachs: Im „Kultur Café Leipzig Ost“ in der Eisenbahnstraße 107 eröffnet die International Library Leipzig (ILL). Zum Auftakt gibt’s eine mehrsprachige Lesung in Polnisch und Holländisch mit Übersetzung in Englisch und Deutsch.

Die Ausleihkarten der ILL, gestaltet von Karel Ensing
Die Ausleihkarten der ILL, gestaltet von Karel Ensing

Initiatoren und Projektpartner der ILL sind Jolanta Drywa (Muttersprache Polnisch) und Karel Ensing (Muttersprache Niederländisch), der auch die Bücher zur Ausleihe bereitstellt. „Das niederschwellige Angebot der Kultur Cafés mit regelmäßigen Öffnungszeiten, angenehmer Atmosphäre im Coworking Space und moderaten Preisen nutzen wir gern für unsere Idee“, erzählt Jolanta Drywa.

Da die ILL eine private Initiative ist, sind auch die Ausleihkonditionen ungewöhnlich: Es gibt zwei Bibliothekskarten, von Karel Ensing persönlich gestaltet, mit denen wahlweise fünf (Preis 5 Euro) oder zehn (Preis 10 Euro) Bücher ausgeliehen werden können. Für beide Karten bekommt man ein handgemachtes International Library Leipzig Notizbuch als Zugabe. Es kann jeweils nur ein Buch ausgeliehen werden, die Lesefrist beträgt einen Monat. Wer sein Buch zu spät zurückbringt, bekommt ein Strafbuch notiert und „verliert“ so ein Buch auf seiner Guthabenkarte. Für eine vollgelesene Karte spendiert das Kultur Café Leipzig Ost einen Espresso gratis.

Ab Mai will die „polyglottische Lesebühne ILL-bread“ im Kultur Café Leipzig Ost jeden zweiten Freitag im Monat mehrsprachige Lesungen auf die Bühne bringen. Das Ausleihangebot wird aus dem privaten Bestand von Karel Ensing laufend ergänzt.

Eröffnung der ILL: Samstag, 23. April 2016, 20:00 in der Eisenbahnstraße 107 / Kultur Café Leipzig Ost mit Lesebühne und Wodka-Verkostung

Heute ist der 90. Geburtstag meiner Mutter

Heute ist der 90. Geburtstag meiner Mutter, die schon 1985 im Alter von 59 Jahren verstarb. Gleichzeitig ist es der Hochzeitstag meiner Eltern, die 1952 am 26. Geburtstag meiner Mutter heirateten. Damals lebte mein Vater schon nicht mehr in Ostfriesland. Seit dem Tod meines Vaters trage ich seinen schlichten goldenen Ehering. Von meiner Mutter habe ich kaum Erinnerungen. Eine Biografie über sie wäre gar nicht möglich.

Welttag des Buches 2016 (I): Lehmanns Media führt Schüler zum Lesen

www.stiftunglesen.de
www.stiftunglesen.de

Der Welttag des Buches am 23. April fällt dieses Jahr auf einen Samstag. Gelegenheit also für alle Dienstleister rund  ums Buch, ein attraktives Programm anzubieten. Lehmanns Media Leipzig fokussiert sich auf den Lesenachwuchs.

„Wir haben sechs Lesungstermine für Schulen mit der wunderbaren Anke Stoppa organisiert“,so Katharina Bretschneider von Lehmanns. Die Schauspielerin und Sprecherin stellt das Buch „Letzten Donnerstag habe ich die Welt gerettet“ von Antje Herden vor. Alle Veranstaltungen sind ausgebucht. Die Schulen können bei Lehmanns zusätzlich Führungen anmelden oder einfach nur zum Stöbern vorbeikommen. Katharina Bretschneider: „Wir haben knapp 50 Klassen, die zu uns kommen wollen und damit wieder über 1000 angemeldete Schüler und Lehrer bei uns.“ Werbung ist übrigens für den Welttag nicht nötig: „Die Stiftung Lesen leistet schon ganz tolle Arbeit.“