Zarte Frau, schonungslos: Daniela Krien liest zur Buchmesse aus "Muldental"

Daniela Krien liest. Foto Detlef M. Plaisier
Daniela Krien liest. Fotos (2): Detlef M. Plaisier

Dass Holger Mann die Moderation zur Lesung von Daniela Krien übernommen hatte, war ein kluger Schachzug. Die zehn Geschichten aus dem Erzählband „Muldental“ lassen sich nicht isoliert von der politischen und wirtschaftlichen Realität im Deutschland der (Nach-)Wendezeit lesen.

Daniela Krien liest „Freiheit“ und „Sommertag“  zwei Titel, die doch eher Hoffnung schöpfen lassen. Doch es offenbaren sich menschliche Abgründe, Auswüchse des rechtlich so genannten Beitritts von Hoffen und Scheitern bis zu persönlicher Verzweiflung ohne Ausweg. Es sind Texte, die zur Lektüre vor dem Einschlafen nicht taugen. „Ich freue mich, wenn die Geschichte stark auf den Leser wirkt“, sagt Daniela Krien. „Doch beim Schreibprozess ist das noch nicht beabsichtigt.“

Die Figuren ihrer Geschichten (oder sind es Miniaturen? Gar Gesellschaftsspitzen?) sind zum Teil angelehnt an real existierende Menschen, entstammen aber nicht der eigenen Biografie. So ist der arbeitslose und alkoholabhängige Otto aus „Sommertag“, der nach seinem Scheitern den Freitod wählt, aus einer eher beiläufigen Bemerkung bei einer Krien’schen Familienfeier heraus angelegt worden. „Da horche ich auf, mache mir Notizen, und irgendwann wird es verwendet.“ Der Kniff: Daniela Krien recherchiert nicht akribisch nach („ich bin schließlich keine Journalistin“), sondern ist bestrebt, direkt ins Literarische zu gelangen. Das Thema Spätabtreibung („Freiheit“) hat Daniela Krien besonders beschäftigt. „Ich hatte das zuvor gar nicht für möglich gehalten“, zeigt sie sich immer noch betroffen.

Lesung Daniela Krien #lbm16 19.03.2016. Foto Detlef M. Plaisier (13)An einem Leseabend während der Buchmesse drängt sich der Blick auf die Ergebnisse der jüngsten Landtagswahlen auf. Daniela Krien lässt sich bereitwillig darauf ein. Nicht alle seien nach der Wende angekommen. Bis zu zwanzig Prozent der Bevölkerung hätten sich inzwischen aus der Zivilgesellschaft verabschiedet, müssten sich von Politikern als „Pack“ beschimpfen lassen. Und ja, ihre Figur Otto könnte durchaus zu einem der PEGIDA-Spaziergänger oder AfD-Wähler geworden sein. „Ich lege meine Figuren nicht politisch an, aber einige rücken in diese Nähe.“

Holger Mann gibt einen Leseeindruck wieder, den ich teile: Daniela Krien setzt ihre Figuren nicht nur dem Mitleid der Leser aus. Sie reicht auch die Hand zur Versöhnung.

Danke für einen beeindruckenden Leseabend  abseits lauter Buchmessetöne.

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Offen in viele Richtungen: Sorbische Kultur auf der Leipziger Buchmesse

Das sorbische Podium auf der Leipziger Buchmesse 2016. Foto Detlef M. Plaisier
Das sorbische Podium auf der Leipziger Buchmesse 2016. Foto Detlef M. Plaisier

Etwa 60.000 Menschen werden dem sorbischen Kulturkreis zugerechnet, so eine Schätzung aus der Wendezeit. Davon leben rund zwei Drittel in der sächsischen Oberlausitz. Geschätzt 20.000 bis 25.000 Menschen sprechen noch aktiv Sorbisch. Das Sorbische kennt zwei Haupt-Schriftsprachen: Obersorbisch, dem Tschechischen  und Slowakischen nahestehend, und Niedersorbisch, das der polnischen Sprache ähnlicher ist. Dazu gibt es zahlreiche Grenzdialekte. Die ersten Druckerzeugnisse in beiden Sprachen waren übrigens Werke von Martin Luther. Niedersorbisch ist akut vom Aussterben bedroht (hier bereits 2003 beschrieben). Dies ist eine besondere Herausforderung für Künstler sorbischer Sprache.

Zwischen den sorbischen Literaten gibt es seit Jahrhunderten Ost-West-Kontakte. Diese Linien werden jetzt in der überregionalen deutschen Zeitschrift für Literatur und Kunst BAWÜLON nachvollzogen. Die Publikation aus dem Ludwigsburger POP-Verlag fühlt sich der europäischen Idee verpflichtet. Die Ausgabe 1/2016 vereint Sorben und ihre Freunde in einer prachtvollen Edition auf über 270 Seiten.

Sorbischer Dudelsack. Foto Detlef M. Plaisier
Sorbischer Dudelsack. Foto Detlef M. Plaisier

Speerspitze der sorbischen Kultur ist die Domowina, der Bund Lausitzer Sorben e. V., der im Jahr 1912 einhundert Jahre seines Bestehens feierte. Jedes Jahr in Bautzen wird ein internationales Fest der sorbischen Poesie gefeiert. Ebenfalls in Bautzen vertritt seit 1958 der Domowina-Verlag als Nationalitätenverlag der Sorben das sorbische Schrifttum. In der Reihe „Die sorbische Bibliothek“ wird sorbische Literatur in deutscher Sprache verlegt, es gibt sorbische Kinderbücher, und Schulen werden mit Lehrmaterial in sorbischer Sprache versorgt. In der Smoler’schen Verlagsbuchhandlung mit Antiquariat steht die gesamte Palette sorbischer Literatur zur Verfügung.

Mein persönlicher Kontakt zur sorbischen Kultur ist Marion Quitz, vielseitige Künstlerin mit Wohnsitz Leipzig und Frontfrau der sorbischen Band Kupazukow. Ihr Engagement zeigt mir, welchen Stellenwert das Gefühl der Heimat im Leben hat. Ich habe das erst spät erkannt. Mein Weg nach Ostfriesland ist der Ausdruck dieses Gefühls.

Plädoyer für einen offenen und liberalen Islam: Die Ahmadiyya Muslim Jamaat-Gemeinschaft auf der Leipziger Buchmesse

www.ahmadiyya.ch
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Die Leipziger wissen es: Die Ahmadiyya Muslim Jamaat-Gemeinde will im Stadtteil Gohlis eine Moschee errichten. Es gab heftige Proteste, das Baugrundstück wurde zweimal geschändet. Abdullah Uwe Wagishauser, 1976 zum Islam konvertiert und seit 1984 amtierender Bundesvorsitzender der Glaubensgemeinschaft, kennt Leipzig inzwischen gut.  Auf der Buchmesse erläuterte er jetzt die Friedensbotschaft des Islam. Mitglieder der Gemeinschaft verteilten Informationsbroschüren mit der Botschaft „Liebe für alle – Hass für keinen“. 

Abdullah Uwe Wagishauser in Leipzig. Foto Detlef M. Plaisier
Abdullah Uwe Wagishauser in Leipzig. Foto Detlef M. Plaisier

Die Ahmadiyya Muslim Jamaat wurde 1889 in Pakistan von dem späteren ersten Kalifen Hazrat Mirza Ghulam Ahmad gegründet. Der Gründer veröffentlichte bereits 1882 „Beweise für die Wahrhaftigkeit des Islams“. Ahmad hielt sich selbst für den Reformer des 14. Islamiaschen Jahrhunderts und gleichzeitig auch für „den erwarteten, verheißenen Messias und Mahdi“ mit dem Anspruch, die Muslime zu reformieren. Damit stehen die Ahmadiyya im Gegensatz zu allen anderen islamischen Religionsrichtungen.

Abdullah Wagishauser nimmt eine klare Einordnung der Ahmadiyya vor: „Wir sind eine dynamische Bewegung und sehen uns als liberal, aber wertekonservativ.“ Die Bewegung stehe zu den Werten des Islam, gestatte aber auch, den Glauben wissenschaftlich und kritisch zu hinterfragen.  Klar wende sich die Ahmadiyya gegen eine Radikalisierung des Islam: „Ein Salafist traut sich nicht, mit einem Ahmadi zu diskutieren“, so jüngst geschehen bei Sandra Maischberger, als Maryam Hübsch zugunsten von Pierre Vogel ausgeladen worden sei. „Ein Terrorist sollte auch so benannt werden. Die Quellen des Islam lehren Frieden, und dafür führen wir auch innerhalb des Islam eine Auseinandersetzung.“

Für Ahmadis, so Wagishauser, sei es selbstverständlich, loyal zu ihrem Gaststaat zu stehen. Im übrigen sei es an der Zeit, vermeintlich islamische Schreckensbegriffe wie „Sharia“ und „Dschihad“ zu entmystifizieren. So bedeute „Sharia“ nichts anderes als „Weg zur Quelle“ und keineswegs den Vollzug islamischen Rechts mit drastischen Strafen. „Und ich sehe mich selbst als Dschihadist – als Bildungsdschihadist“, betont Wagishauer mit Hinweis auf das hohe Bildungsniveau der jungen Mitglieder von Ahmadiyya.  Und noch einen Punkt öffentlicher Auseinandersetzung spricht Wagishauser an: Das Verhältnis zu Frauen basiere auf der Forderung des Propheten Mohammed „Der Beste unter Euch ist derjenige, der seine Frau am besten behandelt“.

Ein Frage- und Antwortspiel mit zwei Publikumsfragen an einem Sonntagnachmittag kann nicht alle offenen Fragen klären. Ich hatte im November 2013 die Gelegenheit, mich auf einer Tagesfahrt in der Khadiya-Moschee Berlin-Heinersdorf zu informieren. Zu mehreren Anlässen in Leipzig konnte ich mit Imam Said Ahmad Arif sprechen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Frieden für Muslime wie für Christen ein Grundanliegen ist und dass es sich immer lohnt, miteinander ins Gespräch zu kommen. 

Mein "Tag der Kriegsenkel" auf der Leipziger Buchmesse

Der erste Buchmessetag 2016 war mein „Tag der Kriegsenkel“. Am Nachmittag überreichte ich dem Acabus Verlag das Manuskript der Lebensbiografie meines Vaters, die zu weiten Teilen vom Thema Kriegsenkel durchzogen ist. Am Vormittag stellten die Autoren Raymond Unger („Die Heimat der Wölfe“) und Matthias Lohre („Das Erbe der Kriegsenkel. Was das Schweigen der Eltern mit uns macht“) ihre Bücher zum unverarbeiteten Kriegstraumata vor. Die Parallelen sind verblüffend.

Raymond Unger auf der Leipziger Buchmesse 2016. Foto Detlef M. Plaisier
Raymond Unger auf der Leipziger Buchmesse 2016. Foto Detlef M. Plaisier

Raymond Unger (Jahrgang 1963) legt ein „anderes“ Kriegsenkelbuch vor: kein Sachbuch, sondern eine in Anekdoten erzählte Familiengeschichte, die Persönliches seiner Vorfahrengenerationen aus Bessarabien (heute Moldawien) mit europäischer Geschichte verwirkt. Unger nutzt dafür eigene Erinnerungen, Tagebücher und Tonbandaufzeichnungen. „Vor fünf, sechs Jahren“, so der Autor, der auch als Kunstmaler, Coach und Psychotherapeut tätig ist, „hätte ich den Begriff Kriegsenkel noch gar verwendet. Ich hätte ein Buch über Familientraditionen, über Sucht und fundamentale Religionen geschrieben.“ Doch während der Arbeit sei ihm klar geworden, dass es tiefere Gründe gebe für akute Probleme in Familienstrukturen: „Die verkannten Kriegstraumata der Großeltern- und Elterngeneration, die Dämonen der 1940er Jahre, konnten weder durch Alkohol noch durch exzessive Hobbys gebändigt werden. Und ich, kinderloser Angehöriger der Babyboomer-Generation, beende jetzt den Reigen der Weitergabe und steche die giftigen Blasen auf.“

Ich habe erste Kapitel gelesen. Wie mein Vater, erzählt Unger nicht zeitlich chronologisch, sondern setzt im Erzählfluss zeitliche und örtliche Orientierungsmarken für den Leser. Seine Familienchronik, beginnend im Jahr 1924, drei Jahre vor der Geburt meines Vaters, zeichnet ebenso ein Sittengemälde der Zeit: hier Überleben und Anpassung im Dritten Reich, dort der allmähliche Verfall des deutschen Wirtschaftswunders. Die Wahl eines anekdotischen Familienromans erweist sich als richtig: So wird der Stoff prägnanter und zugleich unterhaltsamer.

Das Erbe der Kriegsenkel von Matthias Lohre
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„Die Elterngeneration krempelte die Ärmel auf, um die äußeren Trümmer zu beseitigen. Die seelischen Trümmer zu beseitigen – das ist Aufgabe der Enkel.“

Dieses Zitat vom Kriegsenkel-Kongress in Göttingen umreißt klar die Aufgabe: Nicht verdrängen, sondern sich in den (Gegen-)Wind stellen, zuhören und kraftvoll bewältigen. Doch das geht nicht ohne Hilfe der Alten, ohne  Unterstützung derer, die nur selten ihr Schweigen über erlebtes Grauen brechen und ihre Traumata stumm weitergeben. Matthias Lohre (Jahrgang 1976) ist Politikjournalist in Berlin. Sein Ansatz: Nicht verarbeitete Traumata der Großelterngeneration erzeugen bei Kriegsenkeln mangelndes Selbstwertgefühl, Schuldgefühle und diffuse Ängste. Sie leiden unter einer Katastrophe, die sie selbst nicht erlebt haben. Lohre beginnt seine Nachforschungen nach dem Tod seines Vaters Ende 2012, geht die Wege seiner Eltern (Jahrgänge 1931 und 1937) nach, spricht mit noch lebenden Verwandten und zieht Therapeuten hinzu. Er muss „mitten hinein springen ins tiefe Dunkle, was uns trennt.“ Die mögliche Lösung ist Versöhnung.

Videointerview mit dem Autor hier
Lesungstipp: Matthias Lohre liest am Freitag, 22. April 2016, ab 19:00 zum „Elbe Day“ in der Stadtbibliothek Torgau.

www.kriegsenkel.de

"Ich glaube, dass meine Götter lachen" – ein vergnügliches Geburtstagsständchen für Janosch

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Nein, Janosch war nicht selbst anwesend. Die Reise von Teneriffa nach Leipzig war ihm denn doch zu beschwerlich, und auch die Augen sind nicht mehr die besten. „85 Jahre Janosch“ war als Geburtstagsfeier im Rahmenprogramm der Leipziger Buchmesse angekündigt. Das Fehlen des Geburtstagskindes sorgte nur kurz für Erstaunen und Enttäuschung. Dafür sorgte Thomas Bille, scharfzüngiger Feuilletonist, Rezitator und Moderator bei MDR FIGARO und den „Leipziger Gesprächen“. Nach einer einführenden Lesung aus „Löwenzahn und Seidenpfote“ und „Lukas Kümmel“ plauderte er auf dem Sofa kurzweilig mit Verlagsleiterin Dr. Katharina E. Meyer über Facetten und Geheimnisse aus dem Leben von Janosch. Ihr Vater Andreas J. Meyer hatte 1957 den Merlin Verlag gegründet, aus dem 1987 der Little Tiger Verlag entstand. Er zeichnet verantwortlich für alle Non-Book-Papierartikel und die Holztigerenten von Janosch. „Merlin-Meyer“ und Janosch verbindet eine Zusammenarbeit und ein Vertrauensverhältnis über Jahrzehnte.

Thomas Bille liest Janosch
Thomas Bille liest Janosch

In einem Interview zu seinem 80. Geburtstag sagte Janosch:

„Ich kenne mich ja selbst nicht und halte mich manchmal für einen verhinderten Mörder. Ich will doch gar nicht gewürdigt werden. Ich bin froh, wenn ich ungesehen durchs Leben komme.“

Ist Janosch also ein schwieriger Mensch? Zumindest dann, wenn es um den bürgerlichen Horst Eckert aus dem schlesischen Zabrze geht. Legendär ist ein TV-Interview auf der Frankfurter Buchmesse Ende aus dem Jahr 1977, als er auf eine entsprechende Frage antwortete „Ich bin der Janosch“, immer wieder. Warum das so ist, können Fans in der beeindruckenden Biografie von Angela Bajorek zum 85. Geburtstag nachlesen. Noch nie zuvor hat Janosch so viel von sich preisgegeben. In Interviews mit sich selbst („Lebenskunst“) zeichnet Janosch das Bild eines grantelnden Misanthropen, erfolglos bei den Frauen, dem Grass und Handke unverständlich bleiben. Katharina Meyer kann sich zu einem klaren Urteil nicht durchringen; man dürfe Janosch nicht alles glauben und müsse auch mal tiefgründiger lesen: „Er ist ein absoluter Freidenker, und das geht nun manchmal mit allgemeinen Vorstellungen, etwa zum Frauenbild, nicht zusammen.“

Eines ist bei aller Vernebelungstaktik sicher: Janosch schätzt Wein und ein gutes Mahl. Trunk sei göttlich, meint er, und singt ein Loblied auf die Griechen und deren „ewig große Gedanken“ während der Festgelage: „Ich glaube, dass meine Götter lachen.“

Mögen ihm Trunk und Mahl stets zum Geburtstag beschieden sein, und das noch viele Jahre!

Danke für das Lesungsfoto an Andreas Artmann.

"Ein Zauberzug nach Afrika": Vierte Hörbuch-CD für Projekte in Äthiopien mit der bezaubernden Enie

Ach, sie war so bezaubernd, als wir uns 2013 auf der Leipziger Buchmesse trafen: Vor drei Jahren promotete Enie van de Meiklokjes eine Hörbuch-CD mit Märchen zugunsten der Stiftung „Menschen für Menschen“ für Projekte in Äthiopien. Das Projekt lebt seit zehn Jahren, und so legt der Verlag „steinbach sprechende bücher“ jetzt die vierte CD der Serie vor; wieder mit Enie und Prominenten, die sich ohne Honorar in den Dienst der guten Sache stellen. „Ein Zauberzug nach Afrika“ heißt es diesmal:

www.sprechendebuecher.de
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„Kalle gräbt im Garten ein Loch. Um zu testen, wie tief es ist, holt er seine Holzeisenbahn und hält sie in das Loch. Plötzlich gleitet sie ihm aus der Hand und verschwindet. Ohne zu zögern springt Kalle hinterher und landet in der weiten Steppe Äthiopiens. Dort erklärt ihm ein alter Mann, dass seine Eisenbahn ein Zauberzug ist und er damit alle Sprachen verstehen kann. Auf dem Weg zur Hauptstadt, von der aus Kalle wieder nach Hause fliegen möchte, begegnen ihnen viele unterschiedliche Menschen und ein jeder erzählt eine andere Legende oder Geschichte…“

Autorin des Zauberzuges ist die 20jährige Antonia Kraus, Studentin der Mathematik in München. „Bei Mathematik und Schreiben sind die Hauptzutaten gleich“, sagt die Autorin selbstbewusst. „Für beides braucht man Buchstaben und Fantasie“. Das Skript für die aktuelle CD entstand über die Dauer eines Jahres, „und so manche Formulierung ist bei der Abgabe immer nochnicht perfekt.“ Auch Antonia begleitet die Äthiopienhilfe seit zehn Jahren: Auf der ersten CD, damals zehn Jahre alt,  las sie die Anmoderation ein – und wurde von Karlheinz Böhm auf äthiopische Art dreimal geküsst. „Heute weiß ich, was das bedeutet. Schließlich hat er auch Romy Schneider geküsst.“

Enie (links) und Antonia Kraus. Foto Detlef M. Plaisier
Enie (links) und Antonia Kraus. Foto Detlef M. Plaisier

Enie van de Meiklokjes blickt auf die vier Studioproduktionen mit Spaß und vielen neuen Erfahrungen zurück: „Das war alles so familiär. Und die äthiopische Welt ist komplett ungewohnt, die Menschen ticken ja auch anders.“ Ein wenig wehmütig ist die Erinnerung an die Zusammenarbeit mit Dirk Bach. Enie will ihr Engagament auch nach CD Nummer 4 fortsetzen: „Wenn Privatleute helfen, ist es meist einfacher als ganz groß organisierte Hilfe. Nichts ist wichtiger als Vertrauen, dass die Spende auch ankommt.“  Und das ist mit dem Zauberzug ganz sicher so.

Die Hörbuch-CD „Ein Zauberzug nach Afrika“, unter anderem mit Frank Schöbel, Dominique Lacasa, Julia Simic und Benjamin Tomkins als Sprecher, kann hier direkt bestellt werden.

"Negatives hilft, spannende Geschichten zu schreiben": Gespräch mit der norwegischen Autorin Ingvild H. Rishøi

Mit den „Winternovellen“ der norwegischen Autorin Ingvild Hedemann Rishøi hat Verleger Rainer Höltschl vom Leipziger Open House Verlag ein echtes  Goldstück ins Programm geholt. Die Autorin (Jahrgang 1978) begeisterte in ihrer nordischen Heimat Kritik, Blogger und Publikum. Die drei Winternovellen legt der Leipziger Verlag auf knapp 200 Seiten in einer Hardcover-Ausstattung mit geprägtem Leineneinband, farbigem Vorsatzpapier und Lesebändchen vor; auch haptisch eine Entdeckung. Ich hatte Gelegenheit, mit Ingvild H. Rishøi nach ihrer Premierenlesung auf der Leipziger Buchmesse zu sprechen. Danke an die Übersetzerin Daniela Syczek für ihre Unterstützung!

Ingvild H. Rishøi bei ihrer Premierenlesung. Foto Detlef M. Plaisier
Ingvild H. Rishøi bei ihrer Premierenlesung. Foto Detlef M. Plaisier

Mit den „Winternovellen“ legen Sie drei Geschichten vor, drei Spotlights menschlichen Verhaltens, das alltäglich, ja fast banal ist. Es sind keine groß gewebten Geschichten, eher Miniaturen, die zeigen, wie zerrissen ein Mensch sein kann, wie er leidet und doch Hoffnung findet. Was ist so faszinierend am Leid? Warum fesselt Sie Leid mehr als Glück?

Ganz einfach: Das Negative hilft dabei, spannende Geschichten zu schreiben. Das ist wie bei Märchen: Nur Positives ergibt keine Handlung. Deswegen brauche ich immer negative Menschen und Handlungen.

?  Ihre Charaktere in den „Winternovellen“ sind verzweifelt, strahlen für mich aber gleichzeitig menschliche Wärme aus. Wie real sind die Personen? Gibt es lebende Vorbilder für Alexa, Leon und die Geschwister?

!  Manche Situationen sind tatsächlich passiert, manche Dialoge sind aus dem tatsächlichen Leben. Das betrifft vor allem die Rückblenden. Die Blicke in die Vergangenheit sind realer als die Gegenwartssituationen. Wenn ich etwas Reales einbaue, dann vor allem, weil sich die Art, wie es passierte oder wie es gesagt wurde, bei mir emotional verfestigt hat.

Ingvild H. Rishøi mit ihrer Übersetzerin Daniela Syczek. Foto Detlef M. Plaisier
Ingvild H. Rishøi mit ihrer Übersetzerin Daniela Syczek. Foto Detlef M. Plaisier

Mich interessiert Ihr Schreibprozess. Wie schreiben Sie: eher diszipliniert oder intuitiv? Gibt es immer nur ein Projekt oder mehrere parallel?

Mich begleitet immer ein Notizblock, selbst ins Fitnessstudio. Ich gehe jeden Tag zur selben Zeit ins Büro. Aber da entstehen natürlich nicht die Ideen. Die Recherchezeit ist draußen, im Büro werden die Ideen dann strukturiert.

Von Ihnen gibt es auch zwei Kinderbücher. Die Personen in Ihren Texten reichen von jung und unschuldig bis lebenserprobt. Welche Lebensphase ist für das Schreiben am ergiebigsten?

(lacht) Mädchen in den Zwanzigern! In die kann ich mich am besten hineinversetzen. Aber es ist generell spannend, wenn ich mir vorstelle, jemand anderes zu sein. Das gilt auch für Männer, etwa bei Thomas, wie er seine zeit im Gefängnis verbringt. Da beginne ich zu träumen und male mir das aus.

01c-winternovellen_Cover_Vorschau_record-pfeffer?  Sie haben 2015 in Norwegen den Buchblogger-Pries für die „Winternovellen“ erhalten. In Deutschland werden Literaturblogger zunehmend neben dem etablierten Feuilleton wahrgenommen. Wie ist das in Norwegen? Wie ist da die Position der Blogger? Haben Sie persönlich Kontakt zu Bloggern?

Darüber weiß ich nicht viel. Aber zwischen den „alten Kritikern“ der Zeitungen und den Bloggern ist das Klima nicht freundlich, es ist Konkurrenz. Viele Kritiker meinen, was sie tun, solle ein seriöser Beruf sein. Wer sie „nebenbei“ damit beschäftige, könne Literatur auch nicht im gleichen Maß wertschätzen. Ich bin da anderer Meinung. Schließlich beschäftigen sich Buchblogger freiwillig mit den Texten und bekommen ihre Lektüre nicht vorgeschrieben.

Ausführliches Interview mit der Autorin auf dem Verlagsblog hier

Rezension: Benjamin Percy, Jemand wird dafür bezahlen müssen

Benjamin Percy legt in seiner Kurzgeschichten-Sammlung „Jemand wird dafür bezahlen müssen“ Erzählungen über das Erwachsenwerden vor, über die Kämpfe junger Männer mit ihren ganz persönlichen Dämonen, und über die Narben, die danach auf der Seele zurückbleiben. Zehn Geschichten über junge Männer, die glauben, sich und der Welt beweisen zu müssen, dass sie stark, unabhängig und unverletzbar sind – und daran scheitern.

www.randomhouse.de
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Das Leben ist kein Kinderspiel
Angesiedelt in einer ländlichen Gegend in Oregon, in Kleinstädten am Fuße der Cascade Mountains, zeigen Percys Geschichten jene Probleme auf, die sonst gerne totgeschwiegen werden: Es ist die Hoffnungslosigkeit amerikanischer Jugendlicher, die im ländlichen Raum kaum Zugang zu Bildung haben, die sie aus der Kleinstadt entkommen ließe. Es sind die eintönigen Jobs und immer dieselben Hobbys: Jagen, Fischen, Autotuning. Es ist der Irak-Krieg, der vielen Familien die Väter, Brüder und Söhne nimmt oder sie als traumatisierte Veteranen heimkehren lässt. Und es sind die traditionellen Vorstellungen von Ehe und Familie und darüber, wie ein „richtiger Mann“ zu sein hat. Das alles prägt das Leben der Hauptfiguren in Percys Erzählungen. Ob Teenager, deren Väter aus der Tristesse der Kleinstadt in den Irak-Krieg geflohen sind und die nun täglich vergeblich auf Emails hoffen, ob ein verrückter Bär, der einen Jagdausflug zum Alptraum werden lässt, oder eine Fehlgeburt, die ein junges Paar an die Grenzen seiner Belastbarkeit treibt – die Auslöser für die Bewährungsproben sind vielfältig. Und es braucht den ganzen Mut der Protagonisten, damit umzugehen.

Das öde Land zwischen den Zeilen
Benjamin Percy zeigt in seinen Erzählungen Menschen und Situationen, die eintönig, grau und ein hoffnungslos sind. Die Benachteiligung der amerikanischen Kleinstädte ist zwischen den Zeilen greifbar. Schleppend, fast träge lesen sich die Geschichten, immer unaufgeregt und gleichmütig fließen sie dahin. Auch dann, wenn Menschen töten oder verzweifeln  – die Sprache bleibt gleich. Durch diese scheinbare Banalisierung schrecklicher Ereignisse wirken diese jedoch umso plastischer und lassen begreifen, warum die Protagonisten so geworden sind, warum sie so leben.

Mein Fazit
Der Erzählstil und die Tristesse sind gewöhnungsbedürftig. Die Langsamkeit der Geschichten ließ mich schon einmal ein paar Seiten nach vorne blättern, in der Hoffnung, die Handlung nimmt Fahrt auf. Doch dabei überliest man leicht den entscheidenden Punkt – und beginnt wieder von vorn. Eine Kurzgeschichten-Sammlung für jene, die das stille Grauen unter einer scheinbar biederen Fassade sehen und sich darauf einlassen wollen.

Benjamin Percy, Jemand wird dafür bezahlen müssen (in der Übersetzung von Klaus Berr)
Luchterhand, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Jemand-wird-dafuer-bezahlen-muessen-9783630874647
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezension: Jodi Picoult, Bis ans Ende der Geschichte

Schuld und Sühne sind verlässlich wiederkehrende Motive der Literatur. Jodi Picoult nimmt sich dieses Themas anhand zweier sehr unterschiedlicher Menschen an. Beide tragen eine tatsächliche Schuld mit sich herum, die jedoch gefühlt viel größer ist. Beide wünschen sich Vergebung und Erlösung, doch wer soll ihnen vergeben, wenn die, die es könnten, tot sind?

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Die Außenseiterin und der alte Mann
Sage Singer ist eine junge Frau, die ihre Leidenschaft im Backen gefunden hat. Brötchen, Striezel, Brote, Kuchen, sie mischt Teige, backt und verziert. Sie arbeitet nachts, damit am Morgen jeder frisches Gebäck kaufen kann – und damit sie den Menschen aus dem Weg gehen kann. Denn sie trägt eine Narbe von einem Autounfall, die niemand sehen soll, von der niemand wissen soll; zu sehr schmerzt die Erinnerung an dieses Ereignis. Eines Abends kommt der pensionierte Deutschlehrer Josef Weber in die Bäckerei. Zwischen Sage und Josef entsteht sofort eine tiefe Freundschaft. Beide verbindet eine Schuld, die niemals gesühnt wurde.

Als Josef Sage sein schreckliches, lange verborgenes Geheimnis offenbart und Sage gleichzeitig bittet, ihm beim Sterben zu helfen, stürzt diese in einen tiefen Gewissenskonflikt. Josef, der in Nazi-Deutschland viele Menschen getötet hat, möchte endlich von seinen Qualen erlöst werden. Aber darf und kann Sage überhaupt entscheiden, ob ihm diese Erlösung zu teil werden kann? Anhand ihres inneren Konfliktes beginnt Sage schließlich, auch für sich zu begreifen, dass Schuld und Strafe nicht immer absolut sein müssen.

Das ewige Thema Nazi-Deutschland
Für viele amerikanische Autoren sind die Nationalsozialisten ein faszinierender Stoff für immer wieder neue Geschichten. Es ist das große Verdienst von Jodi Picoult, in ihrem Buch differenzierter zu agieren als viele andere amerikanische Autoren. Ihre Protagonisten sind nicht nur gut oder nur böse, sie offenbaren zwei Seiten und werden durch ihr soziales Umfeld geformt. Durch die Schilderung der Situationen aus dem Blickwinkel von Tätern, Opfern und weiteren Beteiligten lässt Picoult ein Bild entstehen, das viel tiefer greift als der „übliche Nazi-Roman“. Die Integration einer Geschichte in der Geschichte hilft viel mehr als jede Beschreibung zu begreifen, wie sehr Gut und Böse in jedem von uns wohnen.

Mein Fazit
Die unterschiedlichen Handlungsstränge führen zu spannender Unterhaltung, werden doch die Verflechtungen der Schicksale damit erst nach und nach sichtbar. Dennoch ist das Gesamtkonstrukt zu berechenbar, doch etwas zu sehr typisch amerikanischer Roman mit Happy End und Liebesgeschichte. „Bis ans Ende der Geschichte“ ist damit ein netter, leicht zu lesender Roman, der sich mit seiner differenzierten Betrachtungsweise der Charaktere wohltuend abhebt.

Jodi Picoult, Bis ans Ende der Geschichte (in der Übersetzung von Elfriede Peschel)
Bertelsmann, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Bis-ans-Ende-der-Geschichte-9783570102176
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezension: Alain Claude Sulzer, Aus den Fugen

Der Flügelschlag eines Schmetterlings könne an einem anderen Ort der Welt einen Tornado auslösen, sagt man. Doch wie viel stärker und unmittelbarer ist dieser Effekt, wenn die Entscheidung eines Einzelnen das Leben der Menschen um ihn herum direkt beeinflusst? Alain Claude Sulzer geht in seinem Roman „Aus den Fugen“ dieser Frage nach und zeigt, wie sehr die Schicksale völlig Fremder plötzlich miteinander verbunden sein können.

www.galiani.de
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Ein Pianist, ein Konzert und viele Enden
Marek Olsberg wird als Pianist auf den klassischen Bühnen dieser Welt gefeiert. Er spielt in New York, London, Tokio, Wien, Amsterdam – und in Berlin. Immer begleitet von seiner treuen Assistentin Astrid Maurer, lebt er größtenteils aus dem Koffer in den besten Hotels der jeweiligen Städte. Eigentlich mag Olsberg sein Leben, doch mitten in der Hammersonate des Berlin-Konzerts bricht er ab, schließt den Klavierdeckel und verlässt den Saal mit den Worten „Das war‘s“. Unbemerkt verschwindet er anschließend in die Nacht, befreit aus seinem goldenen Käfig.

Olsbergs plötzlicher Entschluss ist der Auslöser für tiefgreifende Veränderungen bei vielen Menschen. Olsberg beschließt, seinem Leben eine neue Wendung zu geben. Esther, die viel früher nach Hause kommt als geplant, muss feststellen, dass ihr Ehemann nicht wie erwartet daheim ist. Johannes, der Wirtschaftsboss, verzichtet auf das Konzert, verbringt einen Abend mit Marina vom Escort-Service und erlebt eine Überraschung. Nico, der sich auf ein Treffen mit Olsberg freute, geht wegen eines Streits mit seinem Liebhaber dann doch eher ins Kino. All diesen Schicksalen ist eines gemeinsam: es genügt eine winzige Veränderung, und schon ist das Leben komplett aus den Fugen geraten.

Viele Stränge ergeben ein Ganzes
Sulzer erzählt die Ereignisse nicht stringent, sondern schildert die Schicksale aus der Sicht der jeweiligen Protagonisten. Dass dabei Zeitsprünge auftreten, ist logisch und macht die Geschichte umso reizvoller. Mit einer teilweise anspruchsvollen Sprache führt der Autor durch die verschiedenen Leben, verwebt sie zu einer schlüssigen Geschichte mit vielen Aspekten, die alle um eine einzige unerwartete Entscheidung kreisen.

Mein Fazit
„Aus den Fugen“ führt dem Leser vor Augen, dass er nicht allein lebt und dass Entscheidungen andere Menschen weit mehr beeinflussen können als angenommen. Jeder Protagonist ist in seinem Handeln schlüssig, und doch wollte ich so manches Mal in das Buch schlüpfen, um selbst etwas zu verändern. Lebendig erzählt, bleibt „Aus den Fugen“ trotzdem insgesamt eher an der Oberfläche der menschlichen Psyche und wird damit zu einem leichten Lesevergnügen für alle, die klassische Erzählungen schätzen.

Alain Claude Sulzer, Aus den Fugen
Galiani Berlin, 2012
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Aus-den-Fugen-9783869710594
Autor der Rezension: Harry Pfliegl