Kurt Buck von der Gedenkstätte Esterwegen hatte ich gebeten, den Einsatz meines Großvaters im Lager Esterwegen zu kommentieren. Nach meinem Besuch im Oktober vergangenen Jahres hatte ich lange nichts mehr gehört. Heute erfuhr ich von ihm selbst den Grund: Es war ein Herzinfarkt nur kurze Zeit später. Nun tastet er sich langsam wieder in die verantwortungsvolle Aufgabe hinein. Alles Gute, lieber Kurt Buck, und das nötige Maß Geduld!
Bekanntschaft mit Oll Willm
Ich hatte OldWillm erwähnt, einen Einsiedler aus dem Overledingerland, den mein Vater in seiner Kindheit kennengelernt hatte. Ich freue mich, dass sein Großneffe einen Kommentar zu meinem Buch schreiben wird. Ich kann mich schon mal einlesen: Heute habe ich antiquarisch eine Lebensgeschichte von Oll Willm erstanden – in Platt!
5 Dinge, die man unbedingt wissen muss, wenn man mit einem Autor zusammen lebt
Sehr treffend – ein Beitrag, der sicher so manche Partnerschaft rettet! Hier entlang: bit.ly/1JW2vxr
Rezension: Anne Enright, Rosaleens Fest
Dass ein klassischer Familienroman unter die Haut geht und gleichzeitig locker erzählt wird, beweist Anne Enright mit „Rosaleens Fest“. Die irische Autorin präsentiert ihre Geschichte aus dem Blickwinkel von zwei Jahrzehnten und gibt dabei einen intensiven Einblick in das oft schwierige Verhältnis zwischen Müttern und ihren Kindern.
Die Mutter? Funktioniert!
Hauptfigur des Romans ist die Mutter Rosaleen. Der Vater spielt keine allzu große Rolle. Rosaleen hat vier Kinder geboren, zwei Mädchen und zwei Jungen, entwickelt aber zu keinem der Kinder eine wirklich intime Beziehung. Vielmehr bleibt sie bis ins hohe Alter unnahbar.
Der Roman beginnt 1980, als die jüngste Tochter Hanna zwölf Jahre alt ist. Sie muss des Öfteren Schmerzmittel für die Mutter besorgen. Der Grund: Dan, der älteste Bruder, will Priester werden. Diesen Plan verwirklicht er dann nicht – noch schlimmer: Er erlebt in der Schwulenszene New Yorks sein Coming-out. Den schwierigen Weg bis zur Offenbarung zeichnet Anne Enright gnadenlos nach. Beispielsweise schafft Dan es nicht, das Krankenhaus zu besuchen, in dem seine große Liebe im Sterben liegt: Klischee AIDS. Und auch die anderen Kinder Rosaleens kommen nicht problemlos durchs Leben. So entwickelt Hanna ein massives Alkoholproblem, nachdem sie es geschafft hat, Schauspielerin zu werden. Emmet, der als Entwicklungshelfer arbeitet, endet emotional völlig abgestumpft. Einzig der Schwester Constanze scheint eine glückliche Familie vergönnt zu sein.
Die Eskalation zum Weihnachtsfest
Unaufhaltsam und gezielt steuert Anne Enright die Geschichte auf das Weihnachtsfest 2005 zu. Rosaleen offenbart der Familie, dass sie das Haus verkaufen will. Sie fühlt sich einsam und von den Kindern verlassen, sodass der Verkauf aus ihrer Sicht eher ein Akt der Rache ist. Die Autorin führt die verschiedenen Figuren des Romans zunächst geschickt durch das Leben, bevor es zur letzten weihnachtlichen Zusammenkunft kommt. Zum Fest haben alle die Chance, ein zweites Mal ins Leben aufzubrechen. Damit zeichnet sich gegen Ende von Rosaleens Fest ein zarter Hoffnungsschimmer vor der düsteren Atmosphäre ab.
Mein Fazit
Rosaleens Fest ist ein gelungener und unterhaltsamer Familienroman, pointiert und mitfühlend – auch wenn mir einige Szenen zu sehr zu Herzen gehen.
Anne Enright, Rosaleens Fest
DVA, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Rosaleens-Fest-9783421047007
Autor der Rezension: Harry Pfliegl
Visser oder Visher? Die Schrift im Wandel der Zeit
Ich lerne auch etwas über die Wandlung der Schrift über die Jahrhunderte. Im Text wird ein bekannter Azt vom Fehn erwähnt. Doch wie war die Schreibweise: Visher oder Visser? Heinz J. Giermanns, Journalist in Westrhauderfehn, schreibt mir dazu:
„Bis etwa 1840 war es Aufgabe der Pastoren, die Geburt von Kindern zu registrieren. Das geschah handschriftlich in der altdeutschen Schrift. Diese Schrift kennt kein doppeltes „s“. Deshalb wurde das zweite „s“ als „Pastoren-S“ notiert, das dem „h“ unserer heutigen Schrift entspricht. Über viele Jahrzehnte wurde es also als „h“ geschrieben; daher „Visher“ und nicht „Visser“. Heute gibt es nur noch „Visser“, aber der Arzt hieß immer „Visher“ und sollte deshalb auch so geschrieben werden.“
Danke für diese Erklärung, die auch für mich als Familienforscher interessant ist.
Dr. Visher ist übrigens bei alten Fehntjern bekannt, weil er fünf Jungen eines Patienten zu sich in seine Villa nahm und adoptierte. Die Mutter war gestorben, der Vater konnte nicht alle Kinder ernähren. Vom Ehepaar Visher mit den fünf Buben gibt es ein Foto, eines meiner Lieblingsfotos (Danke an Heini Albers aus Bockhorst).
Mein ältester Testleser
Mein ältester Testleser, Follrich Poelmann, Jahrgang 1928, aus Westrhauderfehn. Er begegnet Personen aus seinem Leben und wird selbst im Text erwähnt. Eine wunderbare Reise in die Vergangenheit. Und verwandt sind wir auch…
Die Leseexemplare sind bei den Testlesern
Heute sind die Leseexemplare bei den (meisten) deutschen Testlesern angekommen. Drei Tage für ein Päckchen – na ja. Und ich habe schon die erste Nachricht: Ich habe schon 100 Seiten gelesen, rufen Sie mich doch mal an. Ganz toll! Danke!
Rezension zu Falk Stirkat: Ich kam, sah und intubierte
Der Beruf des Notarztes zählt nicht zu den Top 10 der Wunschberufe junger Menschen. Der Alltag ist stressig, und im Einsatz können Bruchteile von Sekunden über Leben und Tod entscheiden. Jeder Handgriff muss sitzen, auch wenn der Notarzt im Vorfeld oft nicht weiß, unter welchen Bedingungen er arbeiten muss. Einblicke in den Alltag eines Notarztes gibt Falk Stirkat in seinem Buch „Ich kam, sah und intubierte“.
Zwischen Irrsinn und Wahnsinn
Falk Stirkat, selbst Mediziner und Leiter einer Notfallstation, schildert die Einsätze thematisch geordnet. Dadurch kann er auf medizinische Details verzichten und die Situationen in den Vordergrund stellen. Diese sind oft komisch, oft hektisch und manchmal auch tragisch. Beispielsweise das Schicksal eines jungen Paares, das in seinem Auto verbrennt, weil der Motor plötzlich Feuer fängt. Oder das Drama der jungen Mutter, die zusammen mit ihrem Kind bei einem Verkehrsunfall stirbt, was der zugedröhnte Unfallverursacher sogar noch komisch findet. In allen Fällen verzichtet der Autor auf unnötigen Voyeurismus oder übertriebenes Fachchinesisch, was das Buch auch für den medizinischen Laien sehr gut lesbar macht.
Ein gutes Buch mit Schwächen
Weil Falk Stirkat den erzählerischen Aspekt in den Vordergrund stellt, lässt sich das Buch zügig lesen. Durch den Verzicht auf unnötige Details lässt sich erahnen, welche Einsätze auch das Rettungsteam emotional berührten. Schwächen offenbaren sich jedoch in einzelnen Details, die über weite Strecken nicht stören. So wirkt der handelnde Notarzt gelegentlich etwas arrogant, was unter dem psychischen Druck eines Notfalleinsatzes aber durchaus verzeihlich ist und bis zu einem gewissen Grad auch erwartet wird. Lediglich das letzte Kapitel, in dem Stirkat die Erfahrungen als Reisearzt schildert, der Patienten zurück nach Deutschland begleitet, wirkt im Vergleich zu den vorhergehenden Kapiteln etwas lieblos.
Was mich ernsthaft stört, ist der mehrfache Hinweis auf die Gefahren des Rauchens, verbunden mit einem Appell an den Leser, das Rauchen aufzugeben. Die Art der Darstellung lässt vermuten, dass der Autor – wenngleich er vielleicht ein hervorragender Notfallmediziner sein mag – wenig bis keine Erfahrung mit Suchterkrankungen hat. Die Schilderung eines Einsatzes mit Lungenmaschine, verbunden mit dem Hinweis, dass dies das offensichtliche Schicksal eines jeden Rauchers ist, wird Nikotinsüchtige ebenso wenig vom Rauchen abhalten können wie die plakativen Warnhinweise auf Zigarettenschachteln.
Mein Fazit
Insgesamt ist „Ich kam, sah und intubierte“ ein empfehlenswertes und spannend geschriebenes Buch. Der Unterhaltungswert ist allerdings eher zwiespältig zu betrachten. Schließlich geht es um menschliche Tragödien, die nur allzu oft tödlich enden.
Falk Stirkat: Ich kam, sah und intubierte
Schwarzkopf & Schwarzkopf 2015
Verlagsvideo zum Buch: https://vimeo.com/130856690
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Ich-kam-sah-und-intubierte-9783862654963
Autor der Rezension: Harry Pfliegl
Rezension: Sabine Rennefanz, Die Mutter meiner Mutter
Mit dem Satz „Ich habe etwas über deinen Großvater herausgefunden…“ leitet die Journalistin Sabine Rennefanz eine autobiographisch angehauchte Reise in eine persönliche Vergangenheit ein. Die Geschichte einer Familie hat sich bereits kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zugetragen. Jedoch sind die Folgen bis ins 21. Jahrhundert hinein zu spüren, wenngleich sie sich oft nicht artikulieren lassen.
Der Vergangenheit auf der Spur
Die Hauptfigur des Romans ist Großmutter Anna. Sie musste im Alter von 14 Jahren mit ihrer ungeliebten Stiefmutter und drei Brüdern aus der polnischen Heimat in den Westen flüchten. Die historische Patchworkfamilie nahm in Kosakendorf, einem Flecken in der späteren DDR, Zuflucht. Anna fand eine Anstellung als Magd auf einem Bauernhof. Ihr Leben änderte sich schlagartig, als 1949 der 20 Jahre ältere Friedrich Stein aus der sowjetischen Gefangenschaft zurückkehrt. Er hatte zuvor auf dem Hof gearbeitet. Anna jedoch meidet den Mann, weil sie Angst vor seinen traurig wirkenden Augen hat. Trotzdem wird sie gezwungen, ihr Leben an seiner Seite zu verbringen: Er überfällt sie eines Nachts und vergewaltigt Anna, woraufhin diese schwanger wird. Die Dorfbevölkerung, die Anna Zeit ihres Lebens fremd sein wird, zwingt sie zur Heirat. Sie fügt sich und gebiert drei Töchter, vor denen sie ihr düsteres Geheimnis in jedem Fall verbergen möchte.
Das Knäuel wird entwirrt
Sabine Rennefanz erzählt die Familiengeschichte in der Ich-Perspektive aus der Sicht der Enkelin. Das wirkt in einigen Passagen etwas verwirrend, weil die Geschehnisse aus unterschiedlichen Zeiten oft parallel und in einer Rückblende geschildert werden. Die Autorin bedient sich in ihrer Erzählung jedoch eines sachlich neutralen, fast schon emotionsbefreiten Stils. Das wiederum bewirkt, dass die eigentliche Tragödie und deren Folgen umso eindrucksvoller erscheinen.
Fazit
Sabine Rennefanz ist ein grandioses Werk über die Folgen des verheerenden Krieges in Europa gelungen, die vermutlich in allzu vielen Familien bis in die Gegenwart hinein totgeschwiegen werden. Für manchen Leser kann das Werk Anregung sein, sich auf die Suche nach der eigenen Vergangenheit zu machen. Wer jedoch einige Bruchstücke aus der Kriegsgeschichte der Großeltern kennt, die schreckliche Ereignisse vermuten lassen, entscheidet sich vielleicht eher dazu, endgültig mit der Vergangenheit abzuschließen. Wer Mut gefasst hat, dem sei die Trilogie zu Kriegskindern und Kriegsenkeln von Sabine Bode als Einstieg empfohlen.
Sabine Rennefanz, Die Mutter meiner Mutter
Luchterhand, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Die-Mutter-meiner-Mutter-9783630874548
Autoren der Rezension: Harry Pfliegl / Detlef M. Plaisier
Das sind meine Testleser
Am Freitag sind die Leseexemplare aus dem Druck gekommen, gestern habe ich sie zur Post gebracht. Erst war der Mann von UPS begeistert, das er 25,9 Kilo in den dritten Stock wuchten durfte. Dann hat sich die nette Dame auf der Post gefreut. Ist das nun ein Päckchen oder ein Maxibrief? Ach herrje, und dann auch noch zwei nach Österreich. Bei der Summe des Portos kam dann ihr Lächeln zurück.
Ich habe die Testleser in zwei Gruppen aufgeteilt:
Gruppe A wohnt direkt auf dem Fehn in Ostfriesland und kann mir etwas sagen zu Personen und Orten. Es ist ja schon eine Herausforderung, eine Regionalbiografie über die Entfernung von 500 Kilometern zu verfassen.
Gruppe B besteht aus Autoren, Journalisten, Buchhändlern und Verlegern. Da hoffe ich dann auf ein fachliches Urteil zu Sprache und Aufbau.
Dazu kommen dann noch die Fachkommentare zu einigen Kapiteln, etwa zum Geschehen im Konzentrationslager und zur Problematik der Kriegsenkel.
Bis die ersten Rückläufe da sind, werde ich die Fotos auswerten und aussuchen.