Verlagsperlen bei Lehmanns: Im Birnbaum Verlag einfach ein gutes Buch machen

Auf dem Podium sitzen zwei Männer, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Beide verbindet eine Mission: Sie wollen einfach nur „ein gutes Buch machen“. Geht das? Klar, wenn man sich ehrlich eingesteht, dass Schreiben und Verlegen allein ohne einen sicheren Brotberuf das Überleben nicht sichert.

Verleger Oliver Weidlich. Quelle: Birnbaum Verlag
Verleger Oliver Weidlich. Quelle: Birnbaum Verlag

„Erstmal muss mein Bauchgefühl stimmen.“ Verleger Oliver Weidlich weiß, wonach er neue Bücher für das Verlagsportfolio seines Birnbaum Verlages aussucht. Die meisten neuen Autoren kommen über Autorennetzwerke, dazu gibt es Sichtungen bei Lesungen, erst einer hat es mit einer konventionellen Manuskripteinsendung geschafft. Keiner der Verlagsautoren kommt aus Leipzig. Klartext: „Aus dem Deutschen Literaturinstitut war noch nichts dabei für uns.“

Weidlichs Anspruch ist zeitgenössische, junge Literatur. Wenn das Bauchgefühl nicht eindeutig ist, helfen manchmal Testleser aus der Schnitttmenge der Zielgruppe. So kommen dann Autoren wie Anette Lang zum Birnbaum Verlag, die sechs kitschfreie Kurzgeschichten zur Liebe vorlegte. Oder Konrad Fischer, der Notate aus der früheren DDR nach 40 Jahren aufarbeitete. Oder Martin Spieß, der mit einer Fluchtgeschichte nach dem Tod des Vaters einen Beitrag zur Erinnerungskultur leistet. Die Zusammenarbeit mit den Autoren von Lektorat bis Cover ist eng, auch als Erfahrung aus einer Tätigkeit Weidlichs bei einem großen Verlag vor der eigenen Gründung. Die Startauflagen sollten bei Birnbaum jeweils um 500 Exemplare liegen, legt Weidlich auf Nachfrage offen. Aber: „Je anspruchsvoller der Text, desto niedriger die Verkaufszahlen.“ Bei einem Ladenpreis von 12 Euro bliebe beim Autor etwa ein Euro hängen. Ernüchternd.

Christoph H. Winter liest. Foto: Detlef M. Plaisier
Christoph H. Winter liest. Foto: Detlef M. Plaisier

An Weidlichs Seite sitzt Christoph H. Winter, hemdsärmelig, mit einer Spur zuviel Selbstsicherheit, dennoch der Schwiegermuttertraum schlechthin, erinnernd an den jungen Simon Baker (kennen Sie nicht? The Mentalist!). Er liest Anfangspassagen aus seinem Roman „Über uns die Berge. Unter uns der See“, seine erste Lesung aus dem Buch überhaupt. Frühe Notizen entstanden schon 2010. Es habe dem Text gut getan, zu reifen: „Distanz macht rund.“ Das Publikum stellt die üblichen Fragen: Warum schreiben Sie überhaupt? Und ist der Text autobiographisch? „Ich will kein politischer Günther Grass sein“, sagt Winter. „Ich will beim Lesen eine Sogwirkung erzeugen.“ Und irritierend dürfe es auch sein.

Als Widmung schreibt er mir ins Buch „Auf ein gutes Buch!“ Erste Leseprobe am späten Abend: Ja, es gab einen Sog. Rezension folgt.

Verlagsvideo: https://vimeo.com/51666764
Christoph H. Winter, Über uns die Berge. Unter uns die See.
Anette Lang, Things that I won‘t do for love
Martin Spieß, So weit weg wie möglich
Konrad Fischer, Das diktierte Leben des Herrn F.
Bücher online bestellen: laden.birnbaumverlag.de/
www.birnbaumverlag.de

Rezensionsreihe Indonesien zur Frankfurter Buchmesse 2015, Teil 1: Laksmi Pamuntjak, Alle Farben Rot. Eine Saga von erschreckender Aktualität

Im Grunde erzählt die indonesische Autorin Laksmi Pamuntjak nur die Geschichte von Amba, einer Frau, deren Zukunft angesichts der politischen Verwicklungen in ihrer Heimat gestohlen wurde. Dabei spannt die Autorin einen Bogen über mehr als vier Jahrzehnte und nimmt Bezug auf eine bekannte Sage. Das Schicksal der Charaktere scheint also vorgezeichnet. Oder hätten sie doch die Chance gehabt, einen anderen Pfad zu wählen?

Foto: Hans Scherhaufer - Danke!
Die Autorin Laksmi Pamuntjak, fotografiert von Hans Scherhaufer – Danke!

Alle Farben Rot: Darum geht es
Die Autorin erzählt eine Dreiecksgeschichte aus der indischen Saga Mahabharata nach. Die Hauptfiguren darin sind Amba, die von Bishma entführt wird, woraufhin sie von ihrem Verlobten verschmäht wird. Amba wird unfreiwillig zur Schicksalsfigur in einem unseligen Bruderkrieg. Die reale Amba hingegen, Tochter eines Lehrers, beginnt ein Anglizistikstudium. Sie lebt getrennt von ihrem Verlobten, weil er in einer anderen Stadt als Lehrer arbeitet und deshalb den Kontakt mit Amba nur per Brief aufrechterhalten kann.

Während des Studiums nimmt Amba einen Job als Übersetzerin in einem Krankenhaus an und verliebt sich in den Arzt Bishma. Amba scheint ihr Glück gefunden zu haben.Angesichts der politischen Wirren stellt sich das vermeintliche Glück als großes Unglück ihres Lebens heraus: Eine leidenschaftliche Affäre endet nach etwa einem Monat, als Amba und Bishma sich während einer Straßenschlacht aus den Augen verlieren. Als Amba bemerkt, dass sie von Bishma schwanger ist, löst sie ihre Verlobung und geht nach Jakarta, ohne sich von der Familie verabschiedet zu haben. Sie heiratet einen deutschstämmigen, US-amerikanischen Anglizisten, der ebenso wurzellos ist wie sie und das Kind wie sein eigenes annimmt.

Und was ist mit dem Geliebten?
Anfang 2006 – ihr Ehemann ist inzwischen verstorben, das Kind erwachsen –, erhält Amba eine anonyme E-Mail. Bishma sei verstorben. Weil dieser mit linken Aktivisten sympathisiert hatte, war er nach Suhartos Machtergreifung im Straflager Buru inhaftiert worden, das er Zeit seines Lebens nicht mehr verlassen hatte. Amba reist nach Buru, findet tatsächlich Bishmas Grab und wird von einer Frau beinahe ermordet, weil sie ein Foto von der gemeinsamen Tochter auf die Grabstätte legen möchte. Nach dieser Verwicklung beginnt Amba zu erzählen…

Der Erzählstil
Laksmi Parmuntjak unterteilt ihre komplexe Saga von nahezu 700 Seiten in mehrere Bücher, die aus unterschiedlichen Blickwinkeln über die verschiedenen Schicksale und Zeitebenen berichten. Dabei bedient sie sich einer fast märchenhaften Sprache, sodass sich der Leser problemlos in die für Europäer fremde Welt hineinversetzen kann. Dabei gelingt es Laksmi Pamuntjak, die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen Indonesiens neutral zu schildern, ohne Sympathien für die eine oder andere Seite erkennen zu lassen oder gar Schuldzuweisungen zu geben.

Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de
Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de

Gefesselt von Tabus?
Laksmi Pamuntjak gelingt der schwierige Spagat, mit einigen Traditionen der jungen indonesischen Literatur zu brechen und sich zugleich an einige Tabus zu halten. Wie andere Autoren spricht auch Pamuntjak viele Geschehnisse aus der Zeit der Suharto-Diktatur nicht aus, sondern deutet nur an. Dies lässt Raum für die Phantasie des Lesers, dürfte aber auch der Tatsache geschuldet sein, dass ein Teil der indonesischen Gesellschaft noch den alten Strukturen verhaftet ist, wie es auch in Deutschland nach der Zeit des Nationalsozialismus und dem Fall der Berliner Mauer der Fall war.

Laksmi Pamuntjak ist eine der wenigen indonesischen Frauen, die publizieren. Obwohl sich ein allmählicher Wandel abzeichnet, ist die indonesische Literatur noch stark von Männern dominiert, die für Eliten schreiben, während in der einfachen Bevölkerung die mündliche Verbreitung von Geschichten noch sehr üblich ist. Laksmi Pamuntjak ist die erste Autorin, die sich des Themas der Gefängnisinsel Buru annimmt und dies zum Mittelpunkt ihres Romans macht. Sie hat sich für ihre Erzählung auf die Berichte von ehemaligen Gefangenen gestützt, was im Werk auch an zahlreichen Details ersichtlich wird. Unter anderem war auch der bedeutendste indonesische Schriftsteller Pramoedva Ananta Toer auf der Molukkeninsel inhaftiert. Davon erzählt sein autobiographisches Werk Stilles Lied eines Stummen.

Fazit
„Alle Farben Rot“ ist ein Roman, der sich leicht und zügig lesen lässt. Inhaltlich ist es jedoch keine einfache Kost. Es gelingt Laksmi Pamuntjak meisterhaft, die Geschichte einfacher Menschen zu erzählen, die ihr Glück angesichts von Umbrüchen und gesellschaftlichen Umwälzungen nicht finden dürfen, und zugleich das Interesse für eine fremde Kultur zu wecken. Durch die Wahl Indonesiens als Partnerland für die Frankfurter Buchmesse 2015 und die Präsentation von „Alle Farben Rot“ gewinnt die Saga um Amba und Bashnir ungewollt angesichts der Flüchtlingswelle, die sich 2015 aus Afrika auf den Weg nach Europa macht, erschreckende Aktualität. In den leidigen „Das Boot ist voll“-Diskussionen wird gern vergessen: Hinter jedem Flüchtling steht ein tragisches Einzelschicksal. Jeder Flüchtling hat eine menschenwürdige Behandlung verdient. Dass das auch im „zivilisierten“ Westen nicht zwangsläufig der Fall ist, zeigen nicht nur die Anfeindungen von Rechten, sondern auch die Zustände in den Auffanglagern, wo es oft am Nötigsten fehlt. So hatte Amnesty International bei der Augenscheinnahme des österreichischen Lagers Traiskirchen verheerende Zustände und gravierende Verstöße gegen die Menschenrechte festgestellt. So gerät die Frankfurter Buchmesse 2015, auch unter dem Blickwinkel des Buches von Laksmi Pamuntjak, zu einem politischen Plädoyer, und das ist gut so.

Laksmi Pamuntjak, Alle Farben Rot
Ullstein Verlag, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Alle-Farben-Rot-9783550080869
Autoren der Rezension: Harry Pfliegl / Detlef M. Plaisier

Anne Köhler liest bei Lehmanns: Atmosphärisch dicht und neue Blickwinkel

Anne Köhler stellte bei Lehmanns ihr Buch „Ich bin gleich da“ vor. Ich hatte es bereits gelesen, ein Autorenkollege hat für dieses Blog rezensiert. Der Verlag Dumont bewirbt den Text mit dem Schwerpunkt Küche und Kochen: „Für Elsa ist Kochen viel mehr als nur ihr Beruf oder die bloße Zubereitung einer Mahlzeit. Nur in der Küche gelingt es ihr, ihre Sorgen hinter sich zu lassen. … ein Roman über die Sehnsucht nach Familie und Geborgenheit – voller atmosphärischer Koch- und Küchenszenen.“ Doch Anne Köhler selbst setzt andere Schwerpunkte – was mich nach dem Abend veranlasst, das Buch noch einmal zu lesen.

Anne Köhler liest bei Lehmanns. Foto: detlef M. Plaisier
Anne Köhler liest bei Lehmanns. Foto: Detlef M. Plaisier

„Ich bin ein wahnsinniger Genussmensch.“ Anne Köhler gesteht es freimütig im Gespräch. „Wenn es mit dem Buch mal nicht vorwärts ging, war Kochen eine willkommene Ausrede.“ Sie habe sich lange „gegrämt“, nicht Köchin geworden zu sein. Doch nach der Recherche vor Ort in Spitzenrestaurants sei sie froh, dass Kochen privat geblieben ist, „einfach nur Entspannung und Vergnügen.“

Anne Köhlers eigene gastronomische Erfahrungen im Service und in einer Bistroküche waren letztlich nicht genug, um die Aktionen der Protagonistin Elsa in einer Sterneküche glaubhaft zu schildern. Was macht man da? Einfach bei Sterneköchen anfragen, ob man mal zusehen darf. Kolja Kleeberg war einer der ersten, der zusagte. Verdammt eng war es in der Küche, „gerade mal ein halber Quadratmeter, auf dem ich stehen konnte, ohne zu stören.“ Laut, heiß, viel Adrenalin – „es war heilsam“, sagt Anne Köhler rückblickend. Obendrauf gab’s noch eine Woche im Zwei-Sterne-Restaurant, „wo ich alle unliebsamen Tätigkeiten übernommen habe und die Jungköche freiwillig erzählten“ – so wurde die Recherche komplett. Überraschend ist Anne Köhlers Blick auf Köchin Elsa: „Sie hätte auch einen anderen Beruf ausüben können.“ Zu Beginn sei Kochen ja nicht ihre Leidenschaft gewesen, „und da war im Prinzip jeder Beruf möglich, der Kopf und Körper fordert und das Nachdenken verhindert.“

Als Anne Köhler liest, höre ich neue Glanzlichter: die Walpurgisnacht im Dorf, als wäre ich gestern dabei gewesen, das Spiegelbild eines Kindes im Wasser, das mit einem Schlag auf die Oberfläche zerstiebt – Anne Köhlers Stimmungen und ihre Stimme schmiegen sich an meine Gefühle an. Erst der kühle Abend bringt mich wieder zur Besinnung.

Rezension: Vladimir Sorokin, Telluria

Immer schon haben Menschen darüber spekuliert, wie die Zukunft der Menschheit und der Erde wohl aussehen würde. Unzählige Bücher wurden geschrieben, um die Spekulationen festzuhalten und später mit der Realität abzugleichen. Bei Vladimir Sorokins „Telluria“ wünscht man sich, dass die Vision nie Wirklichkeit wird.

Quelle: www.kiwi-verlag.de
Quelle: www.kiwi-verlag.de

Düstere Welten
Der eurasische Kontinent, Mitte des 21. Jahrhunderts: die Staaten, wie wir sie kennen, sind vom Erdboden verschwunden, stattdessen gibt es unzählige Klein- und Kleinststaaten. Köln, Bayern, Moskau sind beispielsweise eigene Republiken, jeder ist mit jedem verfeindet, der Kontinent ist als Folge der vielen Kriege völlig verwüstet. Europa wurde von den Taliban überrannt, die einen radikalen Islamismus installierten. Wissenschaft und Forschung haben Fortschritte gemacht, Autos fahren mit Kartoffelgas, und dank der Gentechnik gibt es riesige Arbeitspferde, die wieder als Beförderungsmittel dienen. Zugleich bevölkern allerlei seltsam anmutende Lebewesen die Erde: Kreuzungen aus Mensch und Tier, Zwerge, Riesen, lebendige Schachfiguren oder aufrecht laufende Hunde und Wölfe. Was alle Lebewesen miteinander verbindet, ist die Sehnsucht nach Telluria, dem gelobten Land. Die Republik Telluria ist das einzige Gebiet auf der Erde, wo die Tellur-Nägel nicht als Suchtmittel verboten sind, sondern zur Heilung und Behandlung eingesetzt werden. Die Tellur-Atome gehen, wenn die Nägel an passender Stelle in den Kopf geschlagen werden, eine Verbindungen mit den chemischen Botenstoffen im Gehirn ein, und führen zu einem Rauschzustand, in dem die Benutzer keine Angst, Schmerzen oder Trauer kennen. Da spielt es auch keine Rolle, wenn bei falscher Benutzung durch die „Zimmerleute“ oder schlechten Bedingungen die Nutzer an den Nägeln sterben – die Sehnsucht nach dem Rausch ist größer. Und so treibt es alle Protagonisten des Buches nach Telluria, wo sie sich endgültige Befriedigung ihrer Sucht erhoffen.

Feuerwerk der Stile
Vladimir Sorokin hat keinen eigenen Stil – oder vielmehr, er hat alle. In 50 Episoden, die völlig unterschiedlich gestaltet sind, vom Märchen zur Dokumentation, vom Heldenlied über Gedicht zu Epos, von der Reiseerzählung zum Roman, werden die Situationen der Protagonisten geschildert; unzusammenhängend und doch wie ein Mosaik ein Ganzes ergebend, da sich die verschiedenen Blickwinkel alle zu einem Ereignis ergänzen. Telluria ist keine fortlaufende Erzählung, es gibt keinen roten Faden, und so ist der Leser in jeder Episode gezwungen, sich im Hinblick auf Protagonisten, Szenerie, Schreibstil und Handlung völlig neu zu orientieren. Das macht den Stoff interessant, damit aber auch zu einer anspruchsvollen Lektüre.

Mein Fazit
Wer bereit ist, sich auf radikale Stilwechsel einzulassen, sich nicht vor einer düsteren Zukunftsprognose fürchtet und Verständnis für die russische, oft etwas melancholische, Seele hat, der wird Telluria lieben. Zeitgleich ist der Text ein wichtiger aktueller Denkanstoß zu der Frage, was geschieht, wenn wir eine Politik der Abschottung und des Nationalismus auf die Spitze treiben und damit zunehmend alle humanistischen und sozialen Werte aus der Gesellschaft drängen.

Vladimir Sorokin, Telluria
Kiepenheuer & Witsch, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Telluria-9783462048117
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Shortlist des Deutschen Buchpreises 2015: Entwertet (Kommentar)

DIE WELT formuliert es drastisch: Mit der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2015 sei vorgezeichnet, dass sich der Deutsche Buchpreis selber abschaffe. Nicht nur, dass als großes Manko Literaturkritiker keine ausreichende Stimme in der Jury hätten (was Leipzig Lob einbringt). Wer den „provokativsten, intelligentesten, sprachmächtigsten und verstörendsten Roman des Jahres“ nicht auf die Shortlist setze (gemeint ist Clemens J. Setz‘ „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“), der entwerte den kommenden Preisträger von vornherein, wer es auch sei.

Zustimmung. Doch es gibt noch mehr zu kritisieren. Was in Deutschland auf der Agenda steht, spiegelt sich in der Auswahl wieder: Drei Männer, drei Frauen. Und durch die unbegreifliche Streichliste jetzt mit Jenny Erpenbecks „Gehen, ging, gegangen“ ein Flüchtlingsroman als Favorit. Alles andere wäre eine Überraschung. Dazu fielen neben Clemens J. Setz auch die zwei anderen Longlist-Titel von Suhrkamp durch den Jury-Rost. Ein Indieverlag ist gar nicht mehr vertreten. Subjektiv fand auch mein Favorit „Baba Dunjas letzte Liebe“ (bei KiWi) keine Gnade.

Also: Herzlichen Glückwunsch, Jenny Erpenbeck. Doch dieses Jahr ist der Deutsche Buchpreis vergleichbar dem Friedensnobelpreis an Obama: Er ist ohne Wert.

ZDF aspekte Literaturpreis: Das sind die sechs Nominierten

Das Finale des ZDF-„aspekte“-Literaturpreises für das beste literarische Debüt des Jahres 2015 haben sechs Romane erreicht:

  • Kristine Bilkau, Die Glücklichen
  • Mirna Funk, Winternähe
  • Franziska Hauser, Sommerdreieck
  • Kat Kaufmann, Superposition
  • Richard Schuberth, Chronik einer fröhlichen Verschwörung
  • Dimitrij Wall, Gott will uns tot sehen

Der Preisträger oder die Preisträgerin des ZDF-„aspekte“-Literaturpreises 2015 wird am Freitag, 9. Oktober 2015, in „aspekte“ bekannt gegeben. Mitglieder der Jury sind Jana Hensel (Autorin), Ursula März (Die Zeit), Daniel Fiedler (Redaktionsleiter ZDF Kultur Berlin), Clemens Schick (Schauspieler) und Volker Weidermann („Das Literarische Quartett“, Der Spiegel).

Die Preisverleihung findet am 15. Oktober um 10.30 Uhr am ZDF-Stand im Rahmen der Frankfurter Buchmesse statt. Das ZDF vergibt den „aspekte“-Literaturpreis seit 1979 für das beste deutschsprachige Prosa-Debüt. Er ist mit 10 000 Euro dotiert.

Ich drücke Kristine Bilkau alle Daumen! Eine Rezension zu ihrem nominierten Debut gibt es hier.

http://twitter.com/ZDFaspekte

Rezension: Esther Verhoef, Gegenlicht

Esther Verhoef, 1968 in den Niederlanden geboren, ist eine Sachbuch- und Krimi/Thrillerautorin. Für ihre Bücher wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Mit dem vorliegenden Buch kam sie sofort auf Platz 1 der niederländischen Bestenliste. Esther Verhoef lebt mit ihrem Mann in Südfrankreich.

Eine Frau und drei Männer. Eine Frau, die den schrecklichen Erfahrungen ihrer Kindheit und Jugend nicht entfliehen kann. Eine Frau, die endlich den Mut aufbringt, sich ihr eigenes Glück zu gönnen. Wie viel Leid kann ein Mensch ertragen, ohne verrückt zu werden?

Quelle: www.randomhouse.de
Quelle: www.randomhouse.de

Inhalt
Vera, eine Tierfotografin, seit 20 Jahren verheiratet, trifft sich seit zwei Jahren regelmäßig alle sechs Wochen für eine Nacht mit ihrem Liebhaber, der ebenfalls verheiratet ist. Beide erleben diese Stunden sehr intensiv. Es ist mehr als Sex. Es sind die Gespräche über fast alles, die sie so mit ihren jeweiligen Partnern nicht führen können.

Lucien, Veras Mann, hat ebenfalls eine Affäre, von der Vera etwas ahnt. Er kann nicht damit umgehen, dass Vera auf Grund ihrer Kindheitserlebnisse keine eigenen Kinder will. Als Luciens Vater seiner Familie bei einem Familienessen von seiner unheilbaren Krankheit erzählt, unternehmen alle gemeinsam eine letzte Reise nach Florida. Dort lernt Vera Luciens Halbbruder Aaron kennen, der spürt, dass zwischen Vera und ihrem Mann vieles im Argen liegt. „Es braucht nicht viel, um ein Leben aus den Angeln zu heben.“ (S. 444) Diese Erfahrung wird Vera selbst machen, und das, was sie erleiden muss, ist mehr, als manche Menschen ertragen können. Rückblickend sagt sie: „Angst war meine Triebfeder, mein Geleit, mein Schutz… Aber ich habe nicht gelebt.“ (S. 473)

Der Roman erzählt Veras Wandlung von einer zutiefst verängstigten und bindungsscheuen Frau hin zu einer Frau, die den Kampf gegen ihre inneren Dämonen aufnimmt und fast daran zerbricht. Einer ihrer Leitsprüche ist: „Man ist die Person, die man sich entschieden hat zu sein, jeden Tag aufs Neue.“ (S. 34) Als alles über ihr zusammenbricht, resümiert sie resigniert: „Glücklich sein zu wollen ist vielleicht noch zu viel verlangt.“ (S. 587)

Formelles
Das Buch besteht aus zwei Teilen, wovon der erste Teil 460 Seiten einnimmt und der zweite 144 Seiten. Im ersten Teil setzt die Autorin jedem Kapitel der Gegenwart ein kurzes der Vergangenheit (andere Schriftart, die Kapitelnummer statt in Ziffern in Buchstaben) voran. In den Kindheitskapiteln wird von einer, durch Gewalterfahrungen und Angst geprägten Schulzeit erzählt. Die Erwachsenen kommen darin nur am Rande vor, jedenfalls nicht als Helfer und Beschützer. Auch die besondere Rolle der psychisch kranken Mutter nimmt breiten Raum ein.

Die Autorin erzählt in der Ich-Form, wodurch sie dem Leser einen unmittelbaren Zugang zur Protagonistin ermöglicht. Die einzelnen Kapitel sind sehr kurz, oft nur zwei bis drei Seiten. Für mich war dieses ständige Umschalten von Vergangenheit auf Gegenwart und umgekehrt sehr anstrengend. Ich hätte gern länger in einer Zeitebene verweilt und wäre dem Handlungsverlauf lieber weiter gefolgt. Dadurch fiel es mir am Anfang auch schwer, zu den Figuren eine tiefere Bindung herzustellen. Andererseits erhielt das Ganze durch den schnellen Wechsel auch einen ungeheuren Drive, ein Tempo, das es mir schwermachte, das Buch aus der Hand zu legen.

Mein Fazit
Dieses Buch ist uneingeschränkt zu empfehlen. Selten habe ich ein so tief- und nahegehendes Psychogramm einer Persönlichkeit gelesen; die Hauptfigur, die 38-jährige Vera, ist eine Protagonistin, mit der man mitleiden und mitfiebern kann.

Esther Verhoef, Gegenlicht. Aus dem Niederländischen von Stefanie Schäfer.
btb, München 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Gegenlicht-9783442747443
Autorin der Rezension: Cornelia Lotter
www.autorin-cornelia-lotter.de

Burgenbloggerin Jessica geht. Das ist schade, aber konsequent

„Es war ein Experiment für alle Beteiligten. Als Burgenbloggerin war ich angetreten, um eine neue Art des Lokaljournalismus auszuprobieren. Dabei habe ich gemerkt: Wer über Menschen berichten will, sollte unter Menschen leben. Mitten im Mittelrheintal. Nicht 300 Höhenmeter über ihnen im Wald, in Abgeschiedenheit. Das ist nicht die Art von Lokaljournalismus, für die ich stehe. Deshalb bin ich aus Burg Sooneck ausgezogen und habe das Projekt für mich beendet.“

Mit diesen schlichten Worten hat Jessica Schober heute ihren Einsatz als Burgenbloggerin beendet. Als ich mich im letzten Jahr um den Posten beworben hatte, unter die letzten 50 gekommen war und dann die letzten zehn Kandidaten verglich, war mir klar: Die Jessica soll es machen! Und ich habe mich gefreut wie Bolle, als es dann auch so kam.

Ich habe vier Monate lang verfolgt, was durch die Burgenbloggerin bewegt wurde, und das war unendlich viel. Eine Region ist erwacht, Politiker sind erwacht, Menschen haben gestritten und zueinander gefunden. Das ist für die Burgenbloggerin die größte Auszeichnung. Dass die Aufgabe nun vorzeitig endet, hatte sich nach dem Ausflug nach München und der schwindenden Frequenz der Beiträge für mich abgezeichnet. Ich zolle dieser einsamen Entscheidung Respekt.

Nächstes Jahr wird es weitergehen mit einem neuen Talreporter. Er hat ein spannendes Packerl zu tragen, denn es wird nicht ausreichen, wenn er einfach an die hinterlassenen Spuren anknüpft.

Ich werde mich im kommenden Jahr wieder bewerben, auch aus Hochachtung vor den Ergebnissen eines gelungenen ersten Experiments. Danke, Jessica.

Rezension: Nicola Nürnberger, Berlin wird Festland

Quelle: openhouse-verlag.de
Quelle: openhouse-verlag.de

Wie findet man zu sich selbst, wenn rundherum alles in Auflösung begriffen ist? Wie geht man mit der Veränderung um, die man nicht beeinflussen kann, und die gerade deswegen furchterregend ist? Diese Fragen, die Nicola Nürnberger in ihrem Roman „Berlin wird Festland“ stellt, aber nicht zu beantworten vermag, sind wahrscheinlich so alt wie die Menschheit selbst – und in manchen Situationen offensichtlicher als in anderen.

Über die Schwierigkeiten eines Neuanfangs
Berlin, 1991: der Mauerfall ist keine zwei Jahre her, und die Trennung zwischen Ost und West ist noch deutlich sichtbar in der „Insel“ West-Berlin mitten in Ostdeutschland. Christine ist aus der hessischen Provinz zum Studium nach Berlin gekommen und genießt die vermeintliche Freiheit der wilden Umbruchszeiten. Nach und nach merkt sie, dass die rasante Veränderung rundum nicht nur gute Seiten hat: zwischen aufkeimendem Rechtsradikalismus, gewaltbereiten Demonstranten und den Alten, die sich die „guten alten Zeiten“ zurück wünschen, muss sie ihren eigenen Weg finden. Monty, der „schon“ 30 ist und die Wende vor Ort miterlebt hat, hilft ihr, eine Brücke zu schlagen zwischen Ost und West, Alt und Neu. Und so, wie sich die Liebesgeschichte zwischen den beiden entwickelt, entwickelt sich auch Christines Verständnis dafür, dass positive Veränderungen bei ihr selbst beginnen müssen.

Autorin Nicola Nürnberger mit Verleger Rainer Höltschl. Foto: Detlef M. Plaisier
Autorin Nicola Nürnberger mit Verleger Rainer Höltschl. Foto: Detlef M. Plaisier

Erinnerungen, die man nicht aufschreibt, gehen verloren
Nicola Nürnberger zeichnet das Bild Berlins nach der Wende aus der Sicht einer jungen Frau: lebendig, furchteinflößend, voller Chancen und Widersprüche. Auch die Gefühlswelt und die Gedanken werden eingefangen und zeigen die Diskrepanz zwischen den jungen Menschen, die noch getrennt nach Ost und West aufgewachsen sind; zeigen, wie wenig der Westen vom Osten wusste und wie gönnerhaft mit den Menschen umgegangen wurde, die sich „drüben“ eine bessere Zukunft aufbauen wollten, frei von Stasi-Terror und Regime-Repressalien. Ebenso wird klar, wie viele Menschen damals schon eine schöne, friedliche neue Welt wollten, in der alle zufrieden miteinander leben können. Als Christine beschließt, ihre Erlebnisse aufzuschreiben, gemeinsam mit den Erinnerungen der Alten, die sie als Mitarbeiterin eines Besuchsdienstes betreut, möchte sie kein typisches Tagebuch schreiben, Erinnerungen für die Nachwelt erhalten.

Mein Fazit
Eine gelungene Mischung aus Lebensbild einer jungen Studentin, die zum ersten Mal wirklich verliebt ist und merkt, dass es mehr gibt im Leben als die akademische Welt, Ausgehen und One-Night-Stands, und der Beschreibung einer Stadt im Wandel. Wer selbst studiert hat, erkennt sich in Christine wieder, in der Unbedarftheit und Sorglosigkeit, mit der sie ihren Alltag bestreitet, aber auch in ihrem Entsetzen, als sie begreift, dass akademische Diskussionen und Protestplakate an der rauen Wirklichkeit vorbei gehen. Eine lesenswerte Erzählung, die hilft, Erinnerungen aufzufrischen und zu erkennen, dass die Welt von damals von der heutigen gar nicht so weit entfernt ist.

Nicola Nürnbeger, Berlin wird Festland
Open House Verlag, Leipzig 2014
Interview mit Nicola Nürnberger hier
Online bestellen: http://www.openhouse-shop.com/produkt/nicola-nuernberger-berlin-wird-festland/
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezension: Paula Bomer, Baby

Bereits vor einiger Zeit erschien im Leipziger Open House Verlag Paula Bomers Erzählungsband „Baby“. Bevor sich die Autorin im Herbst dieses Jahres mit ihrem neuen Werk „Neun Monate“ auf Lesereise begibt, lohnt es sich, einen kurzen Blick auf ihre erste Veröffentlichung in deutscher Übersetzung zu werfen.

Zur Autorin
Paula Bomer, geboren in Indiana, ist ein kleines Mysterium, was ihre Vita betrifft. Denn obwohl sie bereits eine Vielzahl von Essays und Geschichten veröffentlicht hat, bleiben doch die klassischen Angaben zum Werdegang im Verborgenen. Auf ihr Debüt „Baby and Other Stories“ folgten bisher zwei gefeierte Romane. Heute lebt Paula Bomer in New York.

Quelle: openhouse-verlag.de
Quelle: openhouse-verlag.de

Kindergeschrei und Beziehungsbrei
„Baby“ vereint zehn kurze Erzählungen. Alle beschreiben die Schattenseiten des Alltagslebens und zwischenmenschlicher Beziehungen – und alle haben eines gemein: Die Protagonisten stehen nach einem Einschnitt in ihrem Leben vor einer großen Ungewissheit, werden mit dem Ergebnis einer falschen Entscheidung konfrontiert. Sei es die Krankheit der ungeliebten Ehefrau zu ignorieren oder ein Baby zu bekommen in der Hoffnung, das süße kleine Zauberwesen könnte eher Spaß als Anstrengung sein. Der Leser folgt den Figuren in ihre tiefsten Gedanken und erhascht so einen Blick hinter die Zuckergussfassade der weißgetünchten Gartenhäuser.

Der Funke Wahrheit im Abgrund
So niedlich der Titel auch anmutet: „Baby“ ist etwas härtere Kost und nicht als spaßige Lektüre am Baggersee gedacht. Bomers Protagonisten sind aggressiv, wütend und zum Teil schon so verbittert, dass sie die Welt nur noch zynisch und verächtlich betrachten können. Dabei bedient sich die Autorin einer sehr klaren Bildsprache, etwa wenn sie in „Die Mutter seiner Kinder“ den spießigen Ted davon fantasieren lässt, wie er seinen Chef vergewaltigt. Nicht alle Figuren sind sympathisch und das ist gut so! Gerade die Schwächen und Abgründe machen Bomers Figuren so lebensecht. Mancher Leser mag sich ertappt fühlen, dass auch er schon solche Gedanken hegte, sie dann aber doch wieder vergrub, so wie Karen, die während eines Treffens der Anonymen Alkoholiker offen sagt, sie vermisse das Trinken.

Mein Fazit
Die krassen und am Ende immer offenen Erzählungen haben mich zu Beginn überrannt. Doch mit jedem Kapitel haben mich Bommers Figuren und deren Sichtweise der Welt mehr gefesselt. Allerdings empfehle ich, das Buch in kleinen Happen zu genießen, denn die teilweise bitterböse Kost liegt schwerer im Magen, als es das Cover vermuten lässt.

Paula Bomer, Baby. Erzählungen.
Open House Verlag, Leipzig 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Paula-Bomer-BABY-9783944122083
Autorin der Rezension: Jasmin Beer