Rezension: Stephanie Jana & Ursula Kollritsch, Das Jahr des Rehs

Romane in Form von E-Mails sind mittlerweile nichts Neues mehr. In „Das Jahr des Rehs“ stammen diese aber nicht nur aus einer Feder: Zwei Protagonistinnen und zwei Autorinnen treffen in diesem Buch aufeinander.

Zu den Autorinnen
Ursula Kollritsch, geboren 1972, und Stephanie Jana, Jahrgang 1975, tauschen wie ihre Romanfiguren fast jeden Tag E-Mails aus. Die freiberufliche Lektorin und die Texterin reden dabei sowohl über Berufliches als auch über Privates. Beide leben mit ihren Familien in Bad Honnef.

Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de
Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de

Nach langer Zeit wieder vereint
Seit 17 Jahren haben sich die Freundinnen Bella und Bine aus den Augen verloren, bis plötzlich bei der Architektin Bine eine E-Mail ihrer ehemals besten Freundin eintrifft. Schnell ist die lange Funkstille zwischen beiden vergessen: Gemeinsam erinnern sie sich an alte Schulfreunde und Liebhaber, lesen gespannt von den Lebenspfaden der anderen. Während Bine mit Mann und Kindern in der hessischen Heimatprovinz lebt, hat es die aufgeweckte Journalistin Bella mit ihrem Sohn nach Berlin verschlagen. Ihre große Liebe, Lebenspartner Andrej, schaut dort nur selten und gerne unangekündigt vorbei. Die Freundinnen schreiben einander über ein ganzes Jahr hinweg von kleinen Anekdoten des Alltags bis hin zu den großen Dramen des Lebens, teilen wie alte Freundinnen Freud und Leid.

Von Rehen und Hühnern
Jana und Kollrisch behalten die typischen Elemente des Mail-Romans bei, verzichten auf alles Geschnörkel außerhalb des Webs. So bleiben für den Leser aber auch die Inhalte der Telefonate und der beiden Treffen zwischen Bine und Bella verborgen. Es entstehen Handlungslücken, die auf die Dauer den Leser von den Protagonistinnen entfremden. Die Verteilung der Figuren auf zwei Autorinnen funktioniert erstaunlich gut, denn die Freundschaft der beiden 40-jährigen Frauen und ihr „Wiedersehen“ nach vielen Jahren wirkt sehr glaubhaft, sowohl in der Charakterisierung als auch in ihrem Sprachgebrauch. Bella ist die scheinbar etwas aufgeschlossenere und mutigere. Allerdings vergisst sie auch nicht, ihre beste Freundin in mindestens jeder fünften E-Mail darauf hinzuweisen, dass sie in Berlin lebt. Bine ist etwas ruhiger und lernt erst mit der Zeit aus sich herauszugehen. Als Gegenstück muss sie zunächst aber regelmäßig betonen, wie normal ihr Leben doch sei – fast schon langweilig.

Die Handlung des Romans verläuft trotz der guten Idee erstaunlich banal und einige der Schicksalsschläge wirken arg konstruiert. Bevor sich etwas Lesevergnügen einstellt, müssen einige Seiten gackernder „Bist du es wirklich?!“ überwunden werden.

Fazit
Am Ende fehlt dem Buch Schwung. Auch den großen Dramen des Lebens geht spätestens nach der Hälfte des Buches die Puste aus, bis die E-Mails schließlich nur noch so dahinplätschern. Wer Glattauers „Gut gegen Nordwind“ mochte, ist hier gut aufgehoben.

Stephanie Jana & Ursula Kollritsch, Das Jahr des Rehs
List Taschenbuch, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Das-Jahr-des-Rehs-9783548612867
Autorin der Rezension: Jasmin Beer

Rezension: Alina Bronsky, Baba Dunjas letzte Liebe

Alte Leute im radioaktiv-verseuchten Dorf Tschernowo – das Thema von Alina Bronskys jüngstem Roman reizt mich nicht wirklich. Doch immerhin ist das Buch ansprechend schlank. 154 Seiten, das sollte machbar sein. Kurze Zeit später bedaure ich, dass es nur 154 Seiten sind…

Quelle: www.kiwi-verlag.de
Quelle: www.kiwi-verlag.de

Strahlend schönes Leben
Die über achtzigjährige Baba Dunja ist die erste, die Jahre nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl in ihr altes Heimatdorf Tschernowo zurückkehrt. Ihrem Beispiel folgen bald andere alte Leute, die nichts mehr zu verlieren haben. Unverwüstlich fristen die Greise dort einen beschaulichen Lebensabend, trinken Wasser aus dem Brunnen, naschen verstrahlte Früchte aus ihrem Garten und verarbeiten ihre dahingeschiedenen Hühner zu kräftigenden Suppen. Alle paar Wochen unternimmt einer der Alten den langen Fußmarsch zur kilometerweit entfernten Haltestelle, hofft auf gut Glück, dass der Bus in die nächstgelegene Stadt noch immer fährt und kauft dann dort für alle ein, was man nicht selbst anbauen kann. Ansonsten bleiben die Dorfbewohner von der Welt und dem 21. Jahrhundert so abgeschottet und unbehelligt wie nur irgend möglich – ohne Flachbildfernseher, Internet, Telefon. Das einzige Handy, das jemals nach Tschernowo mitgebracht wurde, fand dort keinen Empfang. Was kein allzu großes Unglück darstellt: Schließlich gehe von den Dingern Strahlung aus, wie Baba Dunjas Nachbarin Marja zu berichten weiß.

Idyllisch erzählt
Die erfahrene Autorin Alina Bronsky erzählt sehr liebevoll und mit leisem Witz. Ohne mich auch nur ansatzweise mit den Romanfiguren zu identifizieren, kann ich mich doch in alle einfühlen. So anschaulich malt Bronsky ihre Geschichte. Die „Todeszone“ Tschernowo erscheint – durch die Augen Baba Dunjas betrachtet – wie die letzte Idylle, wo alles seinen Platz und seine Richtigkeit hat, die heißen trockenen Sommer, ebenso wie die kalten Winter, die Kranken und die Gesunden, die Lebenden und die Toten. Der Titel „Baba Dunjas letzte Liebe“ meint sicherlich mehreres: Den Geist ihres verstorbenen Mannes Jegor, der sie stets begleitet, auch ihre Enkelin Laura, der sie beständig Briefe schreibt, obgleich sie ihr nie begegnet ist, maßgeblich aber spricht er wohl ihre Heimat an, der sie selbst um den Preis der Trennung von ihrer Familie treu bleibt.

Mein Fazit
Ich konnte dem Roman keine explizite Moral oder tiefere Botschaft entnehmen und war auch nicht gewillt, danach zu suchen. Die Geschichte ist einfach wunderschön geschrieben, weder traurig, noch fröhlich, und hat bei mir, ohne dass ich es erklären könnte, ein gutes Gefühl hinterlassen. Wer also gerade ohne Lesestoff ist, sollte hier getrost zugreifen.

Alina Bronsky, Baba Dunjas letzte Liebe
Kiepenheuer & Witsch, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Baba-Dunjas-letzte-Liebe-9783462048025
Autorin der Rezension: Katja Weber

Rezension: Tilman Strasser, Hasenmeister

Künstler gelten oft als seltsam und kauzig – nur nennt man das bei ihnen dann „exzentrisch“ und es gehört quasi zum Berufsbild. Felix Hasenmeister, der Violinist und Protagonist in Tilman Strassers Roman „Hasenmeister“, entspricht diesem Klischee von Genie und Wahnsinn. Doch was behält die Oberhand?

Quelle: www.salisverlag.com
Quelle: www.salisverlag.com

Wenn der Sohn die Träume des Vaters verwirklichen soll
Felix Hasenmeister, Sohn eines Arztes mit Ambitionen im Geigenspiel, dessen Mutter bei der Geburt starb, besitzt eine ausgeprägte musikalische Begabung. Das führt ihn ins Konservatorium, wo ihm nach Abschluss eine brillante Karriere als Konzertsolist vorausgesagt wird. Doch nach seinem Abschlusskonzert flüchtet Felix in die Abgeschiedenheit einer Übezelle, um sich vor der Welt zu verstecken. Gesucht nur von seiner geliebten Carla, offenbart Felix in der Dunkelheit der Zelle seine Geschichte vom musikalischen Wunderkind bis zum Abschlusskonzert. Nach und nach bietet sich eine Sicht auf Felix‘ Welt, dominiert von seinem Vater, der das Kind nicht wirklich lieben kann, weil seine Frau bei der Geburt starb, und seinen Geigenlehrern, die seine Psyche nachhaltig beeinflussen. Hin- und hergerissen zwischen Liebe und Hass auf die Musik und überschattet von allerlei seltsamen Begebenheiten, mischen sich die Erinnerungen mit den Empfindungen in Felix‘ selbstgewählter Isolation, sodass am Ende die Unterscheidung in Wahn und Wirklichkeit auch für den Leser schwierig ist.

Es sind die Erinnerungen, die uns prägen
Tilman Strasser gelingt es ausgezeichnet, die jeweiligen Situationen so zu schildern, wie ein Kind oder Jugendlicher im jeweiligen Alter dies gesehen haben könnte. Damit werden die Erinnerungen aber nicht rosiger, sondern gewinnen sogar noch an Schrecken, da das Kind Felix viel vom Verhalten der Erwachsenen, die es umgeben, einfach nicht versteht. Da ist etwa die erste Geigenlehrerin, die wohl ein Verhältnis mit dem Vater hat, und als dieser Geigenunterricht und Verhältnis beendet, zur irren Stalkerin wird. Da ist der dritte Lehrer, der fantastische Geschichten über seine Rettung durch die Musik erzählt. Und da ist das Verhältnis zu Carla, einer verheirateten Ärztin, der Felix mit einem kindlich-naiven Blick begegnet. Alle diese Dinge tragen dazu bei, Felix‘ Welt anhand der Erinnerung zu betrachten, immer überschattet vom despotischen Vater, der sich ein Vergnügen daraus macht, den Jungen subtil zu quälen, der ihm doch nur gefallen will. Das führt den Leser zur Erkenntnis, dass der Wahnsinn im Genie eher mit seinem Werdegang und weniger mit natürlicher Veranlagung zu tun hat – es ist die Umwelt, die uns mehr prägt als unsere Gene.

Mein Fazit
Aufgrund der Erzählweise mit ständigen Sprüngen zwischen Gegenwart, naher und ferner Vergangenheit, unterbrochen noch durch die SMS, die Carla an Felix schickt, sowie dem teilweise sehr ausschweifenden Schreibstil ist „Hasenmeister“ schwere Lesekost. Doch obwohl Tilman Strasser vielleicht ein wenig zu viel des Guten tut, wenn er gegen Ende des Buches mehr und mehr wahnwitzige Verknüpfungen andeutet, ist „Hasenmeister“ eine Empfehlung für all jene, die sich gern in die Abgründe der menschlichen Psyche versenken – und darin untergehen.

Tilman Strasser, Hasenmeister
Salis Verlag, Zürich 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Hasenmeister-9783906195254
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezension: Nina Blazon, Liebten wir

Nachdem Nina Blazon bereits großen Erfolg in der Fantasy-Literatur feierte, stellt sie nun ihren ersten Roman für ein erwachsenes Publikum vor, der beinahe ohne mythologische Gestalten auskommt.

Zur Autorin
1969 in Slowenien geboren, wuchs Nina Blazon in Bayern auf und studierte in Würzburg Germanistik und Slawistik. Nachdem sie bereits als Journalistin und Werbetexterin arbeitete, veröffentlichte sie 2003 ihren ersten Fantasy-Roman, den sie zu einer Reihe ausbaute. Knapp 30 Bücher hat sie bis heute geschrieben und erhielt unter anderem 2003 den Wolfgang-Hohlbein-Preis für fantastische Literatur sowie 2013 die „Kalbacher Klapperschlange“, ein Literaturpreis, der von einer Kinderjury vergeben wird. Nina Blazon lebt mit ihrer Familie in Baden-Württemberg.

Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de
Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de

Familien und andere Katastrophen
Was kann alles schief gehen, wenn man das erste Mal der Familie des neuen Freundes vorgestellt wird? Gäbe es in dieser Rubrik eine Katastrophenskala, Mo hätte eine volle 10 erreicht. Erst wird sie von ihrer eigenen Schwester vorgeführt, dann tötet sie den Kanarienvogel ihrer Schwiegereltern in spe. Und das sind nur zwei der traurigen Höhepunkte eines Nachmittags. Am Ende flieht die junge Fotografin vor dem Chaos mit dem Wagen ihres nun Ex-Freundes Leon und hat dessen eigensinnige Großmutter Aino gleich mit im Gepäck. Die beiden haben eines gemeinsam: Sie wollen weg und Aino hat auch schon einen Plan. Mit einigen Schwierigkeiten und vielen Streitereien begeben sich die ungleichen Frauen in auf die Spuren von Ainos Vergangenheit. Immer dabei: Ein mysteriöser Karton, der die Geheimnisse um Mos Kindheit birgt.

Durch die Linse
Wem vertrauen wir unsere Geheimnisse an und welche behalten wir ganz für uns? Diese Frage zieht sich durch das ganze Buch und Nina Blazon achtet sehr darauf, keine ihrer Figuren zu schnell zu entblättern. Im Mittelpunkt stehen die beiden auf ihre jeweils eigene Art und Weise eigenwilligen Frauen Mo und Aino. Die besondere Fähigkeit der jungen Mo besteht darin, hinter die zurechtgemachte Fassade von Familienbildern zu blicken. So wird der gesamte Roman aus ihrem Blickwinkel erzählt, während sie sich bemüht, hinter die Vergangenheit Ainos zu kommen. Dabei deckt sie aber ihre eigene Geschichte nur häppchenweise für den Leser auf, ebenso wie die alte Finnin ihre Beweggründe und die Geschehnisse in Helsinki während des Zweiten Weltkriegs nur ungern preisgibt.

Mein Fazit
Nina Blazon verwebt mit viel Feingefühl Familiendrama mit finnischer Geschichte und hat immer wieder ein Ass im Ärmel, wenn der Leser alle Geheimnisse entschlüsselt zu haben glaubt. Zugegeben: Der etwas kitschige Einband des Romans hat mich zu Beginn doch etwas abgeschreckt. Doch zwischen den Buchdeckeln steckt ein fesselnder Roman mit vielschichtigen Figuren und spannenden Wendungen. Nina Blazon zeigt, dass sie mehr als Fantasy kann.

Nina Blazon, Liebten wir
Ullstein, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Liebten-wir-9783548285771
Autorin der Rezension: Jasmin Beer

Rezension: Kenneth Bonert, Der Löwensucher

Die Regeln des Lebens sind einfach aber grausam: Fressen oder gefressen werden. Und je härter die Zeiten, desto schneller stellt sich die Frage, was man sein möchte, ein Löwe oder ein Schaf, das sich vor dem Löwen fürchtet. Doch der Preis, der für ein Leben als Löwe gezahlt wird, ist für die Hauptfigur in Kenneth Bonerts Roman höher als dieser glaubt.

Eine Geschichte vom Erwachsenwerden
1924 wandert die Jüdin Gitelle mit ihren beiden Kindern von Litauen nach Südafrika zu ihrem Mann Abel aus, der dort eine Uhrmacher-Werkstatt betreibt. Kaum angekommen, macht sie sich energisch daran, das Leben der Familie so zu organisieren, dass es die Kinder, allen voran ihr Sohn Isaac, auf den sie große Hoffnungen setzt, einmal besser haben werden. Dabei ist Isaac alles andere als ein einfaches Kind, zieht mit den schwarzen Jungs durch das jüdische Ghetto, fliegt von mehreren Schulen und lässt keine Möglichkeit aus, sich zu prügeln. Gitelle jedoch hält zu ihrem „klugen Jungen“, der sich, wie sie meint, hocharbeiten wird. Getrieben davon, zu den Löwen gehören zu wollen und beflügelt vom Traum der Mutter vom eigenen, großen Haus, in dem auch ihre Schwestern leben können, versucht Isaac sich erst in einem Umzugsunternehmen, wo er seiner ersten Liebe und seinem erbittertsten Feind begegnet. Mit dem Vertreter Bleznik lernt er Geschäfte und Investitionen, beginnt schließlich eine Lehre als Karosseriebauer, einen Beruf, für den er Talent und Leidenschaft entwickelt. Doch Isaac muss auch lernen, dass die eigene Wut und die Härte der Mutter gegen die Welt nicht immer gute Ratgeber sind. Als der zweite Weltkrieg ausbricht, meint Isaac schließlich die Entscheidung zwischen Löwe und Schaf treffen zu müssen – mit für ihn ungeahnten Folgen.

Südafrika aus der Perspektive eines Heranwachsenden
Kenneth Bonert beschreibt die Geschichte eines ganzen Landes über mehr als zwei Jahrzehnte anhand des Schicksals zweier Menschen. Die Rassentrennung, die antisemitische Bewegung der Greyshirts, die Beteiligung am zweiten Weltkrieg und das Leben in Ghettos im Gegensatz zum Luxus der weißen Oberschicht, all das sieht der Leser durch die Augen von Isaac und seiner Mutter Gitelle. Besonders Isaac ist so lebendig dargestellt, dass man sich in seinen Kopf versetzt meint und ihm mehrfach einen guten Rat aus der Sicht eines Erwachsenen geben möchte. So gelingt es dem Autor, die Leser über die fast 800 Seiten so zu faszinieren, dass man immer weiter liest, nur um zu wissen, wie es denn nun weitergeht mit Isaac und seiner Jagd nach dem Glück.

Mein Fazit
Vor dem Hintergrund der ständigen Debatte um die nach Europa strömenden Flüchtlinge ist dieses Buch eine wohltuende Erinnerung daran, dass es noch gar nicht so lange her ist, dass aus Europa geflüchtet wurde: vor dem Hunger, vor Verfolgung, Hoffnungslosigkeit und Unterdrückung. Und auch wenn diese Geschichte in den 1920er bis 1940er Jahren spielt, so ist es doch eine Handlung, wie man sie auch heute tausendfach erlebt – die Suche eines jungen Menschen nach seinem Glück. Damit ist „Der Löwensucher“ ein lesenswertes Buch über Träume, Wünsche, Ziele und den steinigen Weg dorthin.

Kenneth Bonert, Der Löwensucher
Diogenes, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Der-Loewensucher-9783257069235
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezension: Brooke Davis, Noch so eine Tatsache über die Welt

„Ihr werdet alle sterben. Alles ist gut.“ Das ist die Botschaft der siebenjährigen Millie Bird, die mit den beiden Greisen Agatha und Karl sowie der einbeinigen Schaufensterpuppe Manny durch Australien stolpert. Eine Reisegemeinschaft, die auch Jonas Jonasson zur Ehre gereicht hätte.

Quelle: www.kunstmann.de
Quelle: www.kunstmann.de

Verlassene und Hinterbliebene
Die Australierin Brooke Davis wählt eine ungewöhnliche Geschichte für ihr Debüt: Als ihr Hund Rambo stirbt, beginnt das kleine Mädchen Millie tote Dinge zu „sammeln“. In ihre Liste all dessen, was sie sterben sieht – Spinnen, Vögel, Weihnachtsbäume, Zugfahrten, Kerzen – reiht sich plötzlich auch ihr Vater ein. Zu diesem Zeitpunkt hat Millie durch ihre Sammlung den Tod bereits als eine natürliche Tatsache der Welt erkannt und verkraftet den Verlust verhältnismäßig gut. Nicht so ihre Mutter. Diese lässt Millie eines Tages im Kaufhaus stehen, heißt sie zu warten und verschwindet.

Nach zwei Tagen des Wartens flieht Millie vor der Polizei und potentiellen Pflegeeltern. Kurze Zeit später begibt sie sich auf die Suche nach ihrer Mutter. Unterstützt und begleitet wird sie dabei von ihren neuen Freunden: der Schaufensterpuppe, in dessen stummer Gesellschaft Millie gewartet hat und die schließlich den Namen „Manny“ erhält; der 82jährigen Agatha Pantha, die in Millies Nachbarschaft wohnt, das Haus seit dem Tod ihres Mannes nicht mehr verlassen hat und ihre Tage damit fristet, sich selbst und andere anzuschreien und ihre Wangenelastizität, Faltenanzahl und Armschwabbelstärke zu dokumentieren; sowie dem 87jährigen Karl dem Tasttipper, der alles (auf unsichtbaren Tastaturen) mittippt, was er sagt und stets ein paar Tasten in der Hosentasche bei sich trägt. Auch er leidet unter dem Verlust seiner Frau und erwählt sich das Kaufhaus zu seinem Domizil, bis er dort Millie kennenlernt.

Heiteres Beileid
Brooke Davis erzählt ihre traurig-komische Geschichte angenehm kurzweilig. Die knappen Kapitel gestatten es mir, immer wieder zu pausieren, wenn es mir doch mal zu bunt wird – was nicht selten geschieht. Spannend und interessant finde ich, wie Brooke Davis ihre Protagonisten mit Trauer und Gram umgehen lässt; mitreißend ist es insofern, als ich mich immer wieder echauffiere über das ungeheuerliche Verhalten von Millies Eltern, die sich stets mehr für den Fernseher als für ihre Tochter interessierten und nun gar Millies Mutter, die ihr siebenjähriges (!) Kind sang- und klanglos zurücklässt. Amüsant sind die Eigenheiten der Charaktere, so etwa Millies beharrliche Annahme, dass ihre Rabenmutter sich nur verlaufen hat, weswegen sie kontinuierlich Schilder mit der Auskunft „Hier bin ich, Mum“ anfertigt. Nervig und unsympathisch dagegen ist das permanente Schreien der griesgrämigen Agatha Pantha, für die ich keinerlei Mitgefühl aufbringen und über deren absehbares Happy End ich mich dementsprechend auch nicht freuen kann.

Mein Fazit
Wer ein Faible für ungewöhnliche, kreativ verfasste Geschichten hat, ist mit diesem Buch gut beraten. Mich persönlich hat der Roman stilistisch und während des Lesens durchaus angesprochen, am Ende jedoch inhaltlich enttäuscht, da ich mich für die Figuren nur teilweise erwärmen konnte und mir einen aussagekräftigeren Epilog gewünscht hätte.

Brooke Davis, Noch so eine Tatsache über die Welt
Verlag Antje Kunstmann, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Noch-so-eine-Tatsache-ueber-die-Welt-9783956140532
Autorin der Rezension: Katja Weber

Drei unfreundliche Thesen über Literaturblogs

Fabian Thomas veröffentlicht im Netzmagazin The Daily Frown drei Verallgemeinerungen zum Thema Literaturblogs, die er als Thesen ausgibt und zur Diskussion auffordert:

  1. Literaturblogs fehlt es an Distanz.
  2. Lesen wird durch Blogs in die comfort zone gedrängt.
  3. Literaturblogger leiden unter Gefallsucht.

Na, wenn das keinen Widerspruch provoziert. Die vollständige Argumentation (?) und Diskussion steht hier.

Rezension: Jacinta Nandi, nichts gegen blasen

Das satte Pink vor dem blassrosa Hintergrund macht es unmöglich, kein zweites Mal hinzugucken. Das ist doch wohl nicht…? Ist das etwa…? Nein, ist es nicht. Es ist keine Fotze, die mir hier entgegenspringt, sondern ein geöffnetes Geldtäschchen. Ich muss schmunzeln. Ein originelles und cleveres Cover, wenn man bedenkt, dass „Fotze“ ursprünglich „Tasche“ bedeutet.

Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de
Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de

Humorvoll und gleichmütig
So amüsant wie die Umschlaggestaltung liest sich auch das Buch mit dem vielsagenden Titel „nichts gegen blasen“. Jacinta Nandi hat nichts einzuwenden gegen blasen, ficken, Weintrinken, rauchen im Bett (wenn sie sturmfrei hat), viel und ungesundes Essen und Dokus über Lady Di. Das einzige, was ihr wirklich aufstößt, ist die Frage, warum sie nach Deutschland kam. Dann gibt sie ehrliche Antworten (wegen des Kindergeldes, um Gerhard Schröders Schwanz zu lutschen, um ihr Deutsch zu verbessern), die allesamt wahr sind oder komplett erfunden – wer weiß das schon.

Tatsache ist jedenfalls, dass die Halb-Inderin im Jahr 2000 von London nach Berlin zog, wo sie seither lebt und arbeitet. Sie ist Mitglied verschiedener Lesebühnen, schreibt eine Kolumne für das englischsprachige Magazin Exberliner und einen Blog für die taz. Dort wie auch hier in ihrem ersten Buch erzählt sie Episoden aus ihrem nicht ganz uninteressantem Leben: Von ihrer Mutter, die an MS erkrankte, ihrer Tante Trudie, die früher auf den Namen Bob hörte und als ihr Stiefvater ein richtiges Arschloch war, von ihren Fickterminen mit schönen Penissen und Muschis und ihrer Zeit im Frauenhaus, in das sie flüchtete als ihr Exmann sie kurz nach der Geburt ihres Sohnes erst anschrie und schließlich verprügelte, weil er mit ihrer Stilltechnik unzufrieden war. Selbst so schockierende Geschichten wie diese letzte erzählt die Autorin mit solcher Nonchalance, dass ich mir das Lachen nur schwer verkneifen kann:

„Warum hat er dich denn angeschrien?“
„Wegen dem Winkel.“, sage ich.
„Wegen dem Winkel?“, fragt Jens, total überrascht.
„Wegen des Winkels“, sage ich.
„Ja“, sagt Jens. „Wegen des Winkels. Aber welchen Winkel meinst du?“
„Wegen dem Winkel meiner Brustwarze.“

Keine Feuchtgebiete
Nandis Stil ist Geschmackssache: Sie arbeitet mit systematischen Wiederholungen und einer derben, unverblümten Sprache. Unter anderem wohl letzterer wegen wird sie bisweilen mit Charlotte Roche verglichen. Den ersten Satz des Buches lesend („Ich habe einen ganz schlimmen Pilz […]“) fürchte auch ich kurzfristig hier einer weiteren Helen zu begegnen. Aber Nandi kennt Grenzen. Bei aller Offenheit verschont sie uns doch mit feuchten Details. Der größte Unterschied zwischen ihr und Roche aber ist, dass sie nicht schockieren oder provozieren, sondern zum Lachen bringen will: „I would say anything: I’d admit to having raped a baby bunny for the fun of it, murdered my granny for a bet or wanked off a homeless guy for a fiver, IF there was a laugh in it.“ So bleibt immer ein letzter Zweifel, ob Nandis ehrliche Erzählungen auch wahr sind oder nur lustig sein sollen.

Mein Fazit
Jacinta Nandi hat mich mehrmals zum Lachen gebracht, genauso oft aber auch mit ihrem eigenwilligen Stil und einer gewissen Bedeutungsarmut ermüdet. Insgesamt ist das Buch ein großes Kann, definitiv aber kein Muss.

Jacinta Nandi, nichts gegen blasen
Ullstein, 2015
Homepage der Autorin: www.jacinta-nandi.de
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Nichts-gegen-blasen-9783864930294
Autorin der Rezension: Katja Weber

Rezension: Carl Nixon, Lucky Newman

Mit den Worten „Meine Mutter hat sich unsterblich in einen Mann ohne Gedächtnis verliebt“ erringt ein über 80-jähriger Mann das Interesse von Carl Nixon. Damit die Geschichte seiner Familie nicht verloren geht, möchte der alte, wohlhabende Mann diese erzählt haben: in einem Buch.

Quelle: www.weidleverlag.de
Quelle: www.weidleverlag.de

Was wäre, wenn wir noch einmal komplett neu anfangen müssten?

Mai 1919, in einer kleinen Stadt einer britischen Kronkolonie: die Krankenschwester Elizabeth Whitman erhält ein Angebot, gegen gute Bezahlung einen reichen Mann zu pflegen, der mit einer Kriegsverletzung aus dem Ersten Weltkrieg heimkehrte. Doch die Kopfverletzung, die der wohlhabende Paul Blackwell erlitten hat, hatte weitreichende Folgen: sein gesamtes Gedächtnis ist ausgelöscht, er weiß weder wer noch wo er ist, kennt niemanden seiner alten Freunde und auch seine Frau nicht mehr und auch alle gesellschaftlichen Regeln sind ihm fremd. Seine Erinnerung beginnt erst in dem Moment, als er schwer verletzt mehrere Tage in der Kälte eines Schützengrabens ausharren muss, während rund um ihn der Krieg tobt. Da er sich nicht an seinen Namen erinnern kann, nennen ihn die Sanitäter „Lucky“. Fortan ist das sein Name.

Während seine Frau unbedingt will, dass er sich daran erinnert, Paul Blackwell zu sein, hat Elizabeth Verständnis für Lucky und seinen Versuch eines Neuanfangs, ist doch ihr eigener Ehemann und Vater ihres Sohnes im Krieg verschollen. Als Lucky zwar lernt, sich in der Gesellschaft zu bewegen, jedoch sein Gedächtnis nicht wieder erlangt, lässt seine Frau ihn in eine Irrenanstalt einweisen, wo er unter Drogen gesetzt wird – und Elizabeth, die sich in Lucky verliebt hat, beginnt um seine Freiheit und damit um sein Leben zu kämpfen.

Humor als Waffe gegen den Schrecken

Carl Nixon gelingt es fast vom ersten Satz an, seine Leser mit seinem ironischen Stil in den Bann zu ziehen. Die Schrecken des Ersten Weltkriegs, die Armut und das Elend jener Männer, die als Soldaten in den Krieg zogen und als Krüppel wieder kamen, das Sterben und die Leiden derer, die daheim in der Ungewissheit leben müssen, ob ihr Sohn, Mann oder Vater überhaupt noch lebt – sind die zentralen Themen das Buches. Der Autor lässt Elizabeth ihrem Sohn eine Geschichte erzählen über einen Ballonfahrer, der in fernen Ländern wilde Abenteuer erlebt, von Heldenmut, Tod und Schätzen umgeben. Am Ende der Geschichte stirbt der Ballonfahrer, weil er sich für seine Freunde opfert. So soll der Verlust seines Vaters für den Buben leichter zu ertragen und besser zu begreifen sein. Diese Geschichte in der Geschichte und das gesamte Buch sind dabei ironisch-witzig, regen immer wieder zum Lachen an und machen es damit möglich, das Grauen zu begreifen, ohne daran zu zerbrechen, eine der größten Stärken der Menschheit, konzentriert in einem Buch.

Mein Fazit

Eine ungewöhnliche Lebensgeschichte, in ungewöhnlichem Stil erzählt. Eine Geschichte, die von der ersten Seite an fasziniert, und die man eigentlich nicht mehr aus der Hand legen will, bis man sie ganz gelesen hat. Durch die selbstironischen Einwürfe des Autors als Erzähler entsteht zusätzlich der Eindruck, das Ganze würde am Lagerfeuer erzählt werden, während die Leser mit offenem Mund lauschen – eindeutig ein Buch, das man gelesen haben sollte.

Carl Nixon, Lucky Newman
Weidle Verlag, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Lucky-Newman-9783938803714
Autor der Rezension: Harry Pfliegl