Rezension: Rolf Bauerdick, Pakete an Frau Blech

Rolf Bauerdick, geboren 1957 im Sauerland, studierte Germanistik und Katholische Theologie. Er arbeitet als Journalist und Fotograf und erhielt 2012 den Europäischen Buchpreis für seinen ersten Roman „Wie die Madonna auf den Mond kam“.

Quelle: www.randomhouse.de
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Vom Entwicklungsroman zur Agentenposse
Maik Kleine ist vierzehn, als er im Januar 1979 zusammen mit freigekauften politischen Häftlingen die Grenze von der DDR zur BRD in einem Bus überquert. Er hat keine Familie mehr und deshalb hatte ihn ein wohlmeinender Funktionär vor die Wahl gestellt, in der DDR in einem Heim zu leben oder zu seiner Tante nach Heidelberg überzusiedeln. (Mein, aus meiner Erfahrung als ehemalige DDR-Bürgerin und fünf Jahre später Ausgereisten, erwachsener Zweifel an diesem Akt eines Gutmenschen bestätigte sich im Laufe des Buches.) Doch auch in Heidelberg bei der Schwester seiner Mutter ist Maik kein Glück beschieden. So landet er schließlich doch in einem Internat, und zwar in einem katholischen, wo er, der Atheist, natürlich zunächst Anlaufschwierigkeiten hat. Doch er fügt sich ein, die Mitschüler und Lehrer sind human zu ihm, ein sympathischer Bruder nimmt sich seiner an. Maik hätte sicher auch das Abitur geschafft, wenn er nicht kurz zuvor dem Drang nachgegeben hätte, mit einem Zirkus, der gerade in der Stadt gastierte, weiterzuziehen. So wird die Zirkusfamilie seine neue Familie und der Zirkusdirektor fungiert als Ersatzvater.

Im ersten Teil des Buches wird zunächst abwechselnd aus dem Jahr 2007 und parallel aus dem Jahr 1978/79 erzählt. Tragische Vorkommnisse in Maiks Familie (der Vater starb – so vermutete nicht nur Maik lange – bei einem chemischen Experiment) scheinen miteinander verwoben zu sein. Diese wiederum führen zur Stasi und dem Zirkusdirektor, der in einer pittoresken Prozession zu Grabe getragen wurde und dessen Villa Maik „geerbt“ hat. Das Buch beginnt wie ein Entwicklungsroman, gespickt mit vielen Details, die ich aus meinem eigenen Leben in der DDR gut kannte. Und es hätte mir gefallen, hätte es der Autor dabei belassen. Doch Bauerdick hat Größeres vor. Nachdem weite Teile der Handlung im Zirkus spielen – ein Thema, das mich nicht so brennend interessierte – schlägt der Autor im letzten Drittel des Romans eine Volte zur Agentenposse, der manchmal schwer zu folgen ist. Es wird verwirrend. Viele berühmte Namen spielen eine Rolle. Was ist erfunden, was ist Realität? Ein Vexierspiel, das die Brücke zur Illusion der Zirkuswelt schlägt.

Mein Fazit: Viele Fragen und wenig Antworten
Wirklich glaubwürdig ist die Auflösung all der losen Enden nicht gelungen. Ich blieb unbefriedigt zurück. Hatte ich etwas übersehen oder nicht verstanden? Es hatte etwas Bemühtes, allzu Unglaubwürdiges an sich, wie der Autor die Verschwörungen und Scharaden zu erklären sucht. Viele Fragen bleiben bei mir offen: Warum hat Maiks Mutter keine Nachforschungen nach ihrem Sohn angestellt? Warum hat sie der Behauptung, er habe sich von ihr losgesagt, so kritiklos geglaubt? Und warum hat Maik selbst nicht früher Nachforschungen nach seiner Mutter angestellt? Trotz dieser Kritikpunkte und der vielen Wiederholungen empfehle ich das Buch weiter, nicht nur an Zirkusliebhaber und Stasierfahrene.

Rolf Bauerdick, Pakete an Frau Blech
DVA, München 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Pakete-an-Frau-Blech-9783421046451
Autorin der Rezension: Cornelia Lotter www.autorin-cornelia-lotter.de

Rezension: Marina Keegan, Das Gegenteil von Einsamkeit

Neun Geschichten, ein bewegender Aufsatz, acht Essays und eine derartig respektvolle Einleitung, dass man sie gleich zweimal lesen sollte: Daraus besteht Marina Keegans erstes Buch – es wird ihr einziges bleiben.

Zur Autorin
Marina Keegan, geboren in Boston 1989, starb mit 22 Jahren nur fünf Tage nach ihrer Abschlussfeier an der renommierten Yale University, so dass an der Stelle, an der auf das Leben des Autors zurückgeblickt wird, stattdessen gefragt werden muss: Was hätte Sie noch vorgehabt? Was erreicht? Als Studentin erhielt sie bereits mehrere Preise für ihre Texte, sie schauspielerte, war politisch engagiert. Ihre Stelle beim Magazin „The New Yorker“ konnte sie jedoch nie antreten.

Quelle: www.fischerverlage.de
Quelle: www.fischerverlage.de

Von Coming of Age zu großen Gedanken
In vielen der Kurzgeschichten und letztendlich dem namensgebenden Aufsatz, „ Das Gegenteil von Einsamkeit“ hat Marina Keegan das Gefühl des langsamen Erwachsenwerdens und der damit verbundenen Probleme eingefangen. Auf ein Plädoyer für Lebensfreude, die Bewahrung des „Geistes der Möglichkeiten“, folgt eine Geschichte über junge Liebe, lose Bande und die Konfrontation mit plötzlichem Tod. Ohne Pathos, aber dafür mit einer klaren, frischen Sprache erschafft die Autorin lebendige Figuren mit Tiefe, die immer wieder an Scheidewege gelangen, plötzlich aus ihrer Welt, ihrem Alltag herauskatapultiert werden. Schnell verlassen die Geschichten den Kosmos der jugendlichen und leicht abgeschotteten Campus-Welt, widmen sich alternden Tänzerinnen, die nackt aus Gebrauchsanweisungen vorlesen und schildern das Grauen vom Gefangensein in den Tiefen des Ozeans. In ihren Essays erzählt Marina Keegan humorvoll über ihre besorgte Mutter, die ihre Kindheit mit Gluten freien Eiswaffeln und Fürsorge beschwerte, und betrachtet das Phänomen, warum so viele Yale-Absolventen im Consulting oder Finanzsektor landen. Keegan probiert sich mutig in jedem Text an einer neuen Erzählweise aus.

Interessante Sachen
An eine ihrer Dozenten schrieb Marina Keegan einmal, sie würde in einem Notizbuch „interessante Sachen“ sammeln: Beschreibungen und Formulierungen, die sie akribisch niederschrieb und für ihre Geschichten und Essays verwendete. Diese Neigung zur Sprache und zur aufmerksamen Beobachtung durchzieht jede ihrer Geschichten und so schafft sie es mit wenigen – eigenen – Worten, ihren Figuren Authentizität und einen ganz besonderen Charakter zu verleihen. Dabei liegt der Fokus insbesondre auf dem Zwischenmenschlichen, ohne dass die Texte in theatralische Phrasen abrutschen. Marina Keegan besaß ein besonderes Gespür für aktuelle Themen, betrachtete die Zukunft ihrer Generation ohne rosarote Brille. Sie bleibt dennoch nicht an diesem Punkt stehen, sondern geht thematisch von ihrer eigenen Vergangenheit bis zur Überlegung, wie die Zukunft der Menschheit aussehen könnte. Das ganze Buch liest sich wunderbar frisch und gleichzeitig schwebt darüber stetig die Tragik eines viel zu frühen Todes.

Mein Fazit
Ich habe mich immer wieder gefragt, ob Marina Keegan später einen der großen Romane unserer Zeit geschrieben hätte, obwohl die Antwort immer offen bleiben wird. Ich empfehle das Buch weiter, denn es lebt nicht von einem schockierten Flüstern über den Tod eines jungen Menschen, sondern von Keegans origineller Erzählweise, die noch keine feste Schiene gefunden hat, von Ehrlichkeit und dem persönlichen Charme, der in jeder Geschichte mitschwingt.

Marina Keegan, Das Gegenteil von Einsamkeit
S. Fischer, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Das-Gegenteil-von-Einsamkeit-9783100022769
Autorin der Rezension: Jasmin Beer

Rezension: Thomas Bannerhed, Die Raben

Ein kleiner Hof im schwedischen Småland ist die Heimat des zwölfjährigen Klas, seiner Eltern und seines Bruders Göran. Eigentlich eine Umgebung, die mit unbeschwerter Kindheit, schöner Landschaft und freundlichen Menschen in Verbindung gebracht wird. Doch das Bild, das Thomas Bannerhed in „Die Raben“ zeichnet, könnte gegensätzlicher nicht sein.

Quelle: www.randomhouse.de
Quelle: www.randomhouse.de

Wenn ich ein Vogel wär…

Klas ist ein passionierter Vogelbeobachter. Er weiß alles über die Arten, die in den Wäldern und Wiesen rund um den Hof leben. Besonders faszinieren ihn die Raben, stundenlang könnte er ihnen zusehen – und dabei die Realität vergessen. Und die ist alles andere als idyllisch: Der Vater, durch die schwere Arbeit mit dem Hof überfordert, gleitet immer in den Wahnsinn ab. Klas selbst, als ältester Sohn auf dem Hof besonders verpflichtet, fühlt sich der körperlichen Arbeit nicht gewachsen. Je weiter die Krankheit des Vaters fortschreitet, desto mehr hat auch Klas das Gefühl, dem Irrsinn anheim zu fallen. Er wird zum Bettnässer, träumt mehrfach davon, dass der Hof abbrennt, sieht sich von einem „Schwarzen Auge“ verfolgt und hört eine Stimme, die ihm Befehle erteilt. Auch die Hoffnung auf eine unbeschwerte Romanze mit Veronika erfüllt sich nicht. Auf dem elterlichen Hof häufen sich die seltsamen Ereignisse, sodass der Schluss des Buches nur die logische Konsequenz der Geschichte ist.

Nicht ganz einfache Poesie

Thomas Bannerhed gibt Klas‘ Sinneseindrücke mit großer Detailtreue wieder. Dabei bedient er sich eines poetisch anmutenden Sprachstils, der wie ein verbaler Weichzeichner wirkt. So wird die Landschaft Schwedens lebendig; ja, die Vögel singen und die Flüsse rauschen, und alle Gerüche, Gefühle und Geschmäcker vermitteln sowohl vom Umfeld als auch von den Charakteren ein individuelles Bild. Aber genau diese Detailverliebtheit macht es auch ein wenig verwirrend, dem Buch zu folgen, werden doch äußere und innere Eindrücke immer wieder vermischt. „Die Raben“ will konzentriert und nicht nebenbei gelesen werden. Die Sprache mit ihren plastischen Darstellungen regt die Phantasie an und verliert sich gleichzeitig in dieser. So ist dieses Buch sprachlich eher dem anspruchsvolleren Teil der Literatur zuzurechnen.

Mein Fazit

Wer gern opulente Sprachbilder mag, sich gern der eigenen Phantasie hingibt und noch dazu die Langsamkeit schätzt, die den nordischen Romanen zu eigen ist, der findet mit den „Raben“ ein anspruchsvolles Stück Literatur. Die ständige Vermischung von Träumen und Gedanken des Protagonisten mit der Realität machen es zu einem guten Stück Arbeit, der Handlung zu folgen. Zu oft habe ich den Eindruck, dass Klas‘ Gedanken und Gefühle eher einem erwachsenen Hirn entspringen als dem eines Zwölfjährigen. Damit wirkt das Buch als ein Versuch des Autors, wieder Kind zu werden und doch nicht aus seiner Haut – und seinen Formulierungen – entfliehen zu können. Dieser Umstand macht es, selbst bei einer Vorliebe für nordische Autoren, nicht zwingend zu einem Buch, das man gelesen haben muss.

Thomas Bannerhed, Die Raben
btb, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Die-Raben-9783442753925
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezension: Odette Dressler, Sex der dein Leben verändert

Reißerisch preist der pinke Taschenbucheinband an, 25 wahre Bettgeschichten über Life-Changing Sex zu enthalten. Oha. Ich bin gespannt und hoffe auf ein ähnlich prickelndes Lesevergnügen wie bei Henry Millers „Opus Pistorum“. Doch statt Lust zu bekommen, mir die Kleider vom Leib zu reißen, will ich mir schon nach ein paar Seiten einfach nur noch die Haare raufen.

Quelle: www.edel.com
Quelle: www.edel.com

Fick mich, Baby

Odette Dressler versammelt in ihrem Debüt 25 Geschichten darüber, wie Sex unser Leben verändern kann. Zweimal schreibt sie über eigene Erlebnisse, die anderen 23 Mal versucht sie das, was andere Frauen ihr erzählt haben, prosaisch zu Papier zu bringen. Life-Changing Sex, so kündigt die Autorin bereits im „Vorspiel“ genannten Vorwort an, ist nicht immer der atemberaubend gute, unvergessliche Sex. Entsprechend mischen sich unter die Geschichten über orgastische Explosionen auch solche über erzwungenen Beischlaf, käufliche Liebe oder einen schnöden One-Night-Stand, der eine unverhoffte Schwangerschaft nach sich zieht. Trotz dieser thematischen Vielfalt bleibt der Stil Dresslers recht einheitlich. Eine mehr oder minder detaillierte Schilderung des Aktes scheint ihr in jeder Geschichte obligat, ebenso die Verwendung des Wortes „ficken“ und des Kosenamens „Baby“. Die vulgärsprachliche Copy-and-Paste-Manier wirkt vor allem in den Geschichten verstörend, welche vom Grundtonus her romantisch angelegt sind. Umgedreht wirkt es etwas lächerlich, wenn Dressler selbst die offensichtlichen Schlampen im Buch ihr Geschlechtsorgan als ihr „Heiligstes“ bezeichnen lässt. Die Vielfalt der Geschichten wie auch der Frauen verschwimmt im verbalen Einheitsbrei, so dass ich irgendwann nur noch die zugekleisterte, Highheels tragende Klischee-Tussi vor mir sehe und an den alten Sermon von „Voll Assi Toni“ denken muss.

Ausschweifung an den falschen Stellen

Natürlich gibt es Ausnahmen. Vereinzelte Sätze sind nicht völlig unoriginell und hin und wieder wirken die Akteure auch sympathisch. Wie etwa in der Geschichte über Rainer und Moni, welche beide ihre Unschuld aneinander verloren und sich erst 30 Jahre später wieder begegnen. Doch auch hier hemmt der Erzählstil das Lesevergnügen. Die Beschreibung des Liebesaktes („Bevor er kam, zog er seinen Penis aus mir heraus und drehte sich auf die Seite. Trotzdem landete ein Schuss seines Spermas direkt in meinem Bauchnabel.“) wirkt in der sonst eher melancholisch-romantisch gehaltenen Erzählung fehl am Platz. Wichtige Informationen vermisse ich (Warum sind sie sich denn nach diesem tollen Erlebnis 30 Jahre nicht mehr begegnet?), andere finde ich überflüssig (Zitat!). Diese wie auch andere Geschichten sind zu brüchig erzählt, um berührend, und zu langatmig und platt, um erotisch zu sein. Nach ellenlangem „sexlosem“ Vorgeplänkel geht es ganz plötzlich zur Sache, und ebenso abrupt endet dann auch die Geschichte.

Mein Fazit

Es ist nicht leicht über Erotik zu schreiben – und dann auch noch über Erotik mit Tiefgang. Ich konnte dem Buch weder Lust noch Erleuchtung abgewinnen. Und aufgrund des billig wirkenden Einbands kann ich es nicht mal als Deko im Bücherschrank empfehlen.

Odette Dressler, Sex der dein Leben verändert
Eden Books, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Sex-der-dein-Leben-veraendert-9783944296920
Autorin der Rezension: Katja Weber

Rezension: Jean-Baptiste Del Amo, Das Salz

Der französische Autor Jean-Baptiste Del Amo, Jahrgang 1981, wurde für seinen Debütroman „Die Erziehung“ 2009 mit dem „Prix Goncourt du Premier Roman“ ausgezeichnet.

Quelle: www.randomhouse.de
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Der Inhalt
Der Epilog schildert Sequenzen aus der Sicht einiger Figuren des Romans. Zu Armand, dem Mann, um den sich die Erinnerungen aller Personen in diesem Roman drehen, heißt es: „So ist es nun mal, die Lebenden verformen das Gedächtnis der Toten, nie sind sie weiter von ihrer Wahrheit entfernt.“ Wer ist also dieser Armand, der verstorbene Mann von Louise, die für ihre Kinder und deren Familien ein Essen ausrichten will, wirklich?

Armand wird jeweils aus den verschiedenen Perspektiven der Kinder und seiner Ehefrau geschildert, und von ihm wird gesagt: „Armand konnte nicht Vater sein…“ (S. 72). Geschildert werden all jene Dinge, die schon vielfach in der Literatur beschrieben wurden: Missachtung, psychische und physische Gewalt, Ignoranz und Abwesenheit. Der Autor vermag es jedoch nicht, die Figuren und das Zusammenleben mit ihrem Vater für mich so interessant werden zu lassen, dass mich ihr Schicksal wirklich berührte. Weder die drei Kinder und deren Angehörige noch Louise wecken mein Interesse. Oft erzählt Del Amo ein Ereignis aus den verschiedenen Perspektiven der handelnden Personen doch diese Wiederholungen waren für mich einfach nur langweilig. Ich hätte mir den Verzicht auf zu schnellen Perspektivwechsel gewünscht und dafür den Mut, sich auf eine Figur tiefer einzulassen.

Die Form
Der erste Teil, Nona, ist stringent komponiert. Die einzelnen (oft sehr kurzen) Kapitel sind mit dem Namen des jeweiligen Perspektivträgers versehen.

Im zweiten Teil, Decima, geht es wild durcheinander. Die Perspektiven springen, manchmal inmitten eines einzelnen Absatzes, zwischen verschiedenen Personen hin und her, was mich extrem gestört hat.

Während die Erzählzeit im ersten Teil fast durchgängig Präteritium ist, wechselt der Autor im Rest des Buches munter zwischen Perfekt, Präsens und Imperfekt. Manchmal wird ein Satz in der Vergangenheit begonnen und ohne ersichtlichen Grund im Präsens beendet. Ob dies ein Problem der Übersetzung ist?

Dem Lektorat/Korrektorat sind einige Mängel vorzuwerfen. Es finden sich Sätze wie: „Kurz nach der Geburt von Jonas‘ (der Apostroph ist hier völlig fehl am Platze) sind sie einmal zum Hafen hinuntergegangen waren, …“ (S. 90) oder als vorletzten Satz des Buches: „Sie scheint ihnen eigenartig stark und unverwüstlich vor.“ (S. 298). Solche groben Fehler darf es höchstens bei einem Erzeugnis aus dem Berg des Selfpublishingmülls geben.

Eigenwillig auch die Art, wörtliche Rede anzuzeigen. Es werden keine Anführungszeichen verwendet, sondern am Anfang der entsprechenden Zeile wird ein Bindestrich gesetzt.

Mein Fazit
Was die auf der Umschlagseite zitierte Huldigung von Julien Bisson „Auf halbem Weg zwischen Patrick Süskind und dem Marquis de Sade…“ mit dem Buch zu tun haben soll, hat sich mir nicht erschlossen. Auch der Ursprung des Buchtitels „Das Salz“ bleibt im Dunkeln.

Von mir gibt es nur eine sehr bedingte Leseempfehlung. Ich fand das Buch zähflüssig und wenig originell. Der sehr eigenwillige Umgang mit der deutschen Sprache hat mich mehr als einmal aus der ohnehin nicht sehr spannenden Handlung herauskatapultiert.

Jean-Baptiste Del Amo, Das Salz
Btb Verlag, München 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Das-Salz-9783442747566
Autorin der Rezension: Cornelia Lotter
www.autorin-cornelia-lotter.de

Rezension: Bill Bryson, Sommer 1927

Wann begann das amerikanische Jahrhundert tatsächlich? In der offiziellen Geschichtsschreibung stellt der Kriegseintritt – vor allem in den Zweiten Weltkrieg – den wichtigsten Wendepunkt dar. In seinem Roman „Sommer 1927“ stellt Bill Bryson hingegen die gewagte These auf, dass sich die wichtigen Ereignisse, die den USA den Weg zur dominierenden Macht (zumindest in der westlichen Welt) ebneten, im Jahr 1927 ereigneten.

Quelle: www.randomhouse.de
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Was geschah im Sommer 1927?
Die Rahmenhandlung für Bill Brysons historische Anekdotensammlung bildet der erfolgreiche Transatlantikflug von Charles Lindbergh. Der Pilot war vom 20. auf den 21. Mai 1927 nonstop von New York nach Paris geflogen und absolvierte anschließend eine Tournee durch die USA, um in der Bevölkerung die Begeisterung für die Luftfahrt zu wecken. Später wurde der Nationalheld jedoch eher zur Persona non grata, als er sich während des Zweiten Weltkriegs dafür aussprach, die USA sollten nicht in den Krieg eintreten, sondern sich mit den neuen Machtverhältnissen in Europa arrangieren.

In diese Rahmenhandlung eingestreut erzählt Bryson anekdotenhafte Ereignisse, die sich 1927 ebenfalls zutrugen und mehr oder weniger als das Erwachen des US-amerikanischen Selbstbewusstseins betrachtet werden dürfen. Die Bandbreite dieser Erzählungen reicht von Babe Ruths Rekordsaison für die New York Yankees über die Einweihung des Mount Rushmore durch Calvin Coolidge, der politisch in erster Linie durch Nichtstun auffiel, bis hin zu den Anfängen des Tonfilms und Fernsehens.

Mensch und Geschichte
Die historischen Fakten – obwohl korrekt und ausführlich recherchiert, wie der umfangreiche Anhang zeigt – spielen für Bill Bryson nur eine untergeordnete Rolle. Er erzählt seine Geschichte(n) anhand der Ereignisse, in welche die Akteure verwickelt sind. Er schildert die Personen und Handlungsstränge augenzwinkernd, oft mit einem ironischen Unterton. Und genau das macht seine Schilderungen des Sommers von 1927 lebendig und den Leser neugierig darauf, sich näher mit den Einzelheiten zu befassen. Zudem erläutert Bill Bryson die Zusammenhänge kurz und prägnant, auch wenn sie in einem zeitlichen Zusammenhang von einem halben Jahrhundert gesehen werden müssen.

Mein Fazit
Bill Bryson beweist mit „Sommer 1927“, dass es einfach nur Spaß machen kann, sich mit historischen Themen und Zusammenhängen zu befassen. Durch seine Herangehensweise wirkt Geschichte lebendig. Bryson macht den Leser neugierig, und das ist gut so…

Bill Bryson, Sommer 1927
Goldmann Verlag, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Sommer-1927-9783442301232
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezension: Roger Cockrell (Hrsg.), Michail Bulgakow – Ich bin zum Schweigen verdammt. Tagebücher und Briefe

Michail Bulgakow erlebte nicht einmal seinen 49. Geburtstag. In seinem kurzen Leben war er erst Arzt, dann Schriftsteller, Feuilletonist, Dramatiker, Schauspieler und Regisseur. In der UdSSR wurde er lebendig begraben – dennoch gab er nie auf. Seine Briefe und Tagebucheinträge zeigen den fortwährenden Kampf des Künstlers gegen Armut, Krankheit und Zensur.

Quelle: www.randomhouse.de
Quelle: www.randomhouse.de

Nach Russland verbannt, zum Schweigen verdammt

Auf den ersten Seiten des Bandes, welche die Jahre 1921 bis 1925 umfassen, wechseln sich Briefe und Tagebücher chronologisch geordnet ab. Hauptsächlich dokumentiert Bulgakow in diesen Jahren seine finanzielle Notlage, generell den Verlauf der Nachkriegsinflation und die politischen Entwicklungen Europas. Notizen seines Privatlebens sind ausgesprochen rar, nicht einmal die Scheidung von seiner ersten Frau erwähnt er. Im Mai 1926 wurden Bulgakows Tagebücher beschlagnahmt, von da an gibt es nur noch Briefe. Aus Bulgakows Korrespondenz erfahre ich, an welchen Stücken er gerade arbeitete und wie er gegen die vom Zensus gewünschten Umänderungen derselben kämpfte. Ab 1928 spitzt sich die Lage Bulgakows dramatisch zu. Der Künstler bittet wiederholt vergeblich um die Genehmigung einer Auslandsreise. Seine Stücke werden nach und nach verboten, seine Erzählungen nicht mehr gedruckt. Mit der Bitte um Ausweisung aus der UdSSR wendet er sich 1929 an Stalin persönlich und teilt mit: „[Ich] bin mit meinen Kräften am Ende; außerstande, weiterhin zu existieren, abgehetzt, wissend, dass ich innerhalb der UDSSR weder gedruckt noch aufgeführt werde […]“ Bulgakows Gesuch bleibt unbeantwortet. Nach einem langen Brief an die Regierung wird er immerhin zum Regieassistenten und Dramaturg ernannt. Dies bewahrt den Schriftsteller vorm Hungertod, doch da er nun maßgeblich Auftragsstücke verfasst, bleibt er weiterhin „zum Schweigen verdammt“.

Dürftig kommentiert, schlecht lektoriert

Stets mit dem Zeigefinger zwischen den Anmerkungen im Anhang des Buches, stolpere ich stirnrunzelnd durch Bulgakows Briefe und Notizen. Die Namen und Zusammenhänge verwirren mich. Ich verbringe mehr Zeit mit dem Vor- und Rückblättern, als dem eigentlichen Lesen. Mehr als einmal wünsche ich mir eine kurze Erklärung, einen biographischen oder historischen Verweis. Doch Fehlanzeige. Zu den verwirrenden Nachnamen fügen die Anmerkungen lediglich zwei oder mehr verwirrende Vornamen hinzu, sowie die kurze Notiz „Autor“ oder „Regisseur“. Nichts Erhellendes für den Kontext, in dem Bulgakow die Personen erwähnt. Spätere Anmerkungen verweisen gern auf frühere, laufen dabei aber oft ins Leere – vermutlich hat eine letzte unvollständige Überarbeitung alles ein wenig verrutscht. Drastischer der Fehler im Vorwort, das behauptet, Bulgakow habe Alexej Tolstoi einen „dreckige[n] ehrlos[n] Narr[en]“ genannt. Im entsprechenden Brief aber sind dies die zitierten Worte Tolstois über sich selbst. Zum Verständnis der Briefsammlung bietet die unglücklich im Anhang platzierte Kurzbiographie eine magere Hilfe und trumpft mit der Information, dass Bulgakow für sein Medizinstudium von 1911-1916 ungewöhnlicherweise sieben Jahre brauchte.

Mein Fazit

Zugegeben, ich weiß jetzt mehr über den Autor, von dem ich „Meister und Margarita“ sowie „Aufzeichnungen eines jungen Arztes“ im Regal stehen habe. Und wer Bulgakow, sein Werk und die historischen Hintergründe bereits bestens kennt, mag Gefallen an diesen mangelhaft kommentierten Briefen finden. Allerdings frage ich mich: Fehlt Luchterhand neuerdings Geld für ein vernünftiges Lektorat?

Roger Cockrell (Hrsg.), Michail Bulgakow – Ich bin zum Schweigen verdammt
Luchterhand, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Ich-bin-zum-Schweigen-verdammt-9783630874661
Autorin der Rezension: Katja Weber

Rezension: Jana Beňová, Abhauen!

Was bedeutet die Flucht vor dem eigenen Leben? Was bleibt zurück? Ist es Mut oder Feigheit? Die Protagonistin Rosa träumt schon lange davon, aus ihrem Leben auszubrechen, die Welt zu entdecken. Was in ihrer Schulzeit ein kindlicher Wunsch blieb, sieht sie am Ende ihrer Ehe als einzigen Ausweg. Eine gedankenvolle Reise beginnt.

Poetin & Prosaistin
Jana Beňová, geboren 1974, studierte Dramaturgie an der Akademie der darstellenden Künste in Bratislava. Nach ihrem Abschluss 1998 schrieb sie zunächst unter Pseudonym für verschiedene slowakische Zeitungen und arbeitet heute als Dramaturgin am Theater Institut in Bratislava. Bereits zu Beginn ihres Studiums veröffentlichte Beňova ihren ersten Gedichtband, auf den bald ein zweiter und schließlich auch eine Sammlung von Kurzgeschichten erschienen. Für ihren Roman „Plán odprevádzania“ erhielt sie 2012 den EU Prize for Literature.

Quelle: www.residenzverlag.com
Quelle: www.residenzverlag.com

Aus Bratislava in die Welt
Rosa wächst nahe dem Bahnhof auf, überquert in den vierzig Jahren ihres Lebens jeden Tag die Gleise. Ihren Mann Son lernte sie zu Schulzeiten kennen, als sie mit dem Schwänzen begann, weil sie der Unfreiheit der Schulpflicht ein wildes Herumstreifen entgegensetzen wollte. Bis heute hat Rosa diese Angewohnheit beibehalten. So hält sie Abstand zu ihrer hinterlistigen Chefin und ihren oberflächlichen Kolleginnen, den Kukulas. Das graue Leben und die bröckelnde Ehe mit dem Poeten Son zernagen die Protagonistin und schließlich rennt sie mit einem neuen Mann davon. Das Ziel ist noch nicht klar, vielleicht das Meer, vielleicht Paris. Während der Stationen ihrer Reise reflektiert Rosa über ihr Leben und ihre Beziehungen zu dem alten und dem neuen Mann.

„the best of course is poetry“
Der Originaltitel „ Preč! Preč!“ beschreibt die Essenz des lediglich 132 Seiten umfassenden Romans am treffendsten: Fort! Fort! Rosa läuft davon – in jedem Sinne. Sie sucht ihre Freiheit fernab der Enge ihrer Ehe, in der Dichter Son doch immer wieder als der starke Teil propagiert wird. Er ist der gefeierte Poet und große Künstler, sie ist lediglich Prosaistin. Als Rosa den Hund ihrer Chefin aus dem Fenster wirft, knackt sie letztendlich alle Konventionen und legt jede Rücksicht auf andere ab. Die Reise mit Corman, dem neuen Mann an ihrer Seite, zwingt Rosa zur Auseinandersetzung mit dem Damals, denn eine Flucht schützt nicht vor dem Abschied von ihrem alten Leben. Ein Vergleich zwischen Son und Corman wird unvermeidlich, die Reise gerät zu einem Kraftakt. Langsam muss sich Rosa der Erkenntnis stellen, dass sie nur einen Alltag gegen einen anderen getauscht hat.

„Abhauen!“ liest sich wie eine szenische Lesung und die einzelnen Absätze halten wie die Strophen eines Liedes großen Abstand voneinander. Stetig wird zwischen Rosa als Protokollantin ihrer Ansichten und allgemeiner Schilderung gewechselt, ohne dass eine direkte Rede deutlich gemacht wird. Vielmehr ist es ein ewiges Sinnen um Vergangenheit und Zukunft, das von Rosas gefühlter Einsamkeit ummantelt scheint, die sie gerade durch ihren neuen Begleiter umso stärker spürt. In einer Mischung aus Prosa und Lyrik erzählt Jana Beňová eine Geschichte vom Weglaufen ohne Ziel, bei dem die Stationen der Reise so austauschbar sind wie die Gesprächsthemen der Kukulas. Jana Beňová verzichtet zum Glück auf eine „Eat, pray, love“-Mentalität zugunsten einer ernsthafteren Botschaft.

Mein Fazit
Die starken Lyrikelemente in einem Roman waren für mich recht ungewohnt. Aber die punktgenaue Sprache und die bildhaften Vergleiche, die durch die Übersetzung an nichts verloren haben, formen eine Erzählung über Alltagsflucht und rastloser Suche nach Sinn.

Jana Beňová, Abhauen
Residenz Verlag, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Abhauen–9783701716449
Autorin der Rezension: Jasmin Beer