Rezensionsreihe Israel zur Leipziger Buchmesse 2015, Teil 4: Crippa/Onnis, Wilhelm Brasse – Der Fotograf von Auschwitz

Die Ausleuchtung des Ateliers ist von besonderer Bedeutung, der Blick durchs Objektiv von Kennerschaft geprägt. Er ist ein Meister im Retuschieren, ein Fotograf mit Leib und Seele. Er ist der Fotograf von Auschwitz.

Quelle: www.randomhouse.de
Quelle: www.randomhouse.de

Wilhelm Brasse, der Häftling mit der Nummer 3444, der die auf Zelluloid gebannte Erinnerung an die Opfer und Peiniger, den demoralisierenden Lageralltag und die grauenvollen Experimente der Lagerärzte vor der Vernichtung bewahrte und somit ihr Vermächtnis bewahrte. Das vorliegende Buch aus der Feder der italienischen Journalisten und Historiker Luca Crippa und Maurizio Onnis erzählt seine Geschichte.

Und nicht nur dies. Über die biographische Dokumentation des Lebens von Wilhelm Brasse, der als deutsch-polnischer politischer Gefangener den Beginn und das Ende des Vernichtungslagers Auschwitz miterlebte, werden die Geschichten der über 50 000 von ihm porträtierten Mitgefangenen sichtbar. Teils hochemotional verdichtet in bedrückenden Einzelschicksalen, teils in der funktional-nüchternen Beschreibung des Funktionierens der Todesmaschine.

Nein, kalt lässt den Leser keine Seite dieses Buches. Und dies, obwohl die Verfasser die Hauptperson Wilhelm Brasse und die um ihn herum platzierten Akteure aus der Distanz der dritten Person zu Wort kommen lassen, mithin einen durch die Beobachtung des Geschehens und der Personen inszenierten Abstand wahren, der das Lesen erträglich macht. Dennoch – und dies ist das Verdienst der beiden Autoren – bleibt dieses Buch nicht unpersönlich. Im Gegenteil: Hier entwickelt die Erzählebene durch das Einbeziehen des lesenden Beobachters die notwendige persönliche Hinwendung zum Geschehen, ohne mit diesem zu überfordern. Das Verstehen des Unverständlichen stellt sich so nicht ein – wohl aber die wahrhaftige Anteilnahme an den vielen Genannten und Ungenannten und ihren Schicksalen.

Die Geschichte des Lagerfotografen Wilhelm Brasse ist ein in höchstem Maße angemessener Blickwinkel, um von Auschwitz zu erzählen. Ein Buch, das selbst im allzu Hoffnungslosen immer wieder Hoffnung aufscheinen lässt. Ein großartiges Werk von der Würde des Menschen inmitten der von ihm errichteten Hölle auf Erden. Verstörend und erhellend zugleich.

Crippa/Onnis, Wilhelm Brasse – Der Fotograf von Auschwitz
Karl Blessing Verlag, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Wilhelm-Brasse-der-Fotograf-von-Auschwit-9783896675316
Autor: Dr. Thomas Feist

Rezensent Dr. Thomas Feist, Jahrgang 1965, studierte Musikwissenschaft, Theologie und Soziologie an der Uni Leipzig und promovierte 2005 zum Dr.phil. mit einer Arbeit über „Musik als Kulturfaktor“. In der 18. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages vertritt er Leipzig als direkt gewählter Bundestagsabgeordneter der CDU im Wahlkreis 153 Leipzig II (Stadtbezirke Mitte, Süd, Südost, Südwest und West). Dr. Thomas Feist ist Mitglied der Deutsch-Israelischen Parlamentariergruppe und seit 2010 Vorsitzender der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Leipzig.

Rezension: Denker. Henker. Helfer. Jünger. Die Philosophen und der Nationalsozialismus | Sonderausgabe 03 des „Philosophie Magazin“

Dass die Bandbreite an philosophischen Fachzeitschriften eine große ist, dürfte nicht wirklich überraschen. Schließlich soll es ja ziemlich exakt so viele Philosophien wie Philosophen unter der Sonne geben. Entsprechend „exklusiv“ beziffert sich dann auch die Auflage der meisten dieser Organe. Anders, nämlich eher überschaubar, zeigt sich das Angebot für populärphilosophische Magazine. Einer der Platzhirsche auf diesem Markt ist der französische Verleger Fabrice Gerschel. 2006 gründete er in Paris das heute vor allem in Frankreich sehr erfolgreiche Philosophie Magazin – die Idee dazu kam ihm übrigens am „sonnigen Strand auf Korsika“. Seit 2011 scheint und erscheint dieser Lichtblick für Weisheitsfreunde auch sechs Mal pro Jahr auf Deutsch: unter der Ägide von Chefredakteur Wolfram Eilenberger im Berliner Philomagazin Verlag und mit einer Auflage von rund 100.000 Exemplaren pro Heft. Zudem erscheinen regelmäßig Sonderausgaben zu speziellen Themen. Die seit Januar 2015, und damit synchron zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, erhältliche Nummer 3 dieser Sonderhefte widmet sich dem Thema „Die Philosophen und der Nationalsozialismus“.

pmdesa3nazis2coverChefredakteurin dieser Extra-Edition ist die Berliner Autorin, Journalistin und Philosophin Catherine Newmark. Sie bzw. ihr Team hat bei diesem Themenkreis nicht zuletzt auch formal eine Zäsur zu den laufenden Ausgaben des „Philomag“ gesetzt. Statt „bunt und angenehm locker gestaltet“ die „Philosophie in unseren Alltag“ zu bringen (so der Anspruch des Verlags), herrscht hier nun schwarz-weiß Ästhetik vor – und ein an den Konstruktivismus erinnernder Einsatz von zumeist roten „Störern“. Das Farbklima der Nazis selbst bildet somit quasi das optische Grundrauschen des ganzen Hefts.

Entscheidend freilich sind die Inhalte. Diese spannen über knapp 100 Seiten den ganz großen Bogen: von den philosophischen Ursprüngen der Grundbegriffe des nationalsozialistischen Denkens (z.B. der gründlich missverstandene Ausdruck „Arier“ von Joseph Arthur de Gobineau aus der Mitte des 19. Jahrhunderts) über Betrachtungen zur „Idee der Volksgemeinschaft“ bis hin zu Fragen der Jüdischen Theologie nach der Shoah oder „Ausschwitz als Metapher der Moderne“. Selbstverständlich werden auch Nietzsche und ganz besonders Heidegger einer umfassenden Analyse unterzogen. Und weder Paul Celan, Hannah Arendt oder Adorno dürfen mit ihren oft zitierten Maximen und Werken fehlen (wie u.a. die „Todesfuge“ in voller Länge).

Erfährt man also wirklich Neues? Ja und nein… und vielleicht. Natürlich hängt die Höhe des Erkenntnisgewinns wie immer so auch hier vom Ausgangslevel des jeweiligen Lesers ab. Sehr gut recherchiert und aufbereitet sind eine ganze Reihe von historischen Quellen, wie etwa Karl Jaspers‘ Publikation zur „Schuldfrage“ oder die Rede von Thomas Mann „Deutsche Ansprache“ aus dem Jahr 1930. Und generell wird schnell klar, dass etwa Heidegger und Konsorten nur die Spitze eines Eisbergs an Wegbereitern oder -begleitern der Nazi-Ideologie waren. Viele Aspekte werden auch durch teils hochkarätige Interviews eingehend betrachtet. Unter anderem wäre hier das wirklich in die Tiefe gehende Gespräch mit Volker Gerhard (bis 2012 Mitglied des Deutschen Ethikrats) zum Thema „Der Wille zur Macht“ zu erwähnen. Vom Aufbau her naheliegend, aber letztlich eben auch sehr komfortabel fürs einordnende Verständnis: der Großteil aller Artikel und Dokumente ist in einen historisch-chronologischen Rapport eingebettet; mit den Kapiteln „Aufstieg der NSDAP“, „Machtergreifung“, „Kriegsjahre“ und – höchst interessant – „Unheimliche Kontinuität: NS-Philosophen in der BRD“. Es gab eben neben dem unsicheren Kantonisten und „antisemitischen Dauerläufer“ Heidegger auch nach dem Krieg weitere fragwürdige Sportsfreunde im Geiste – und in Amt und Würden. Etwa Hans-Georg Gadamer, Arnold Gehlen oder Hans Freyer, um nur einige zu nennen.

Fazit: Wer sich im Zusammenhang mit den anstehenden Gedenktagen die Frage stellt, ob und wie es sein kann, dass die „Liebe zur Weisheit“ auch zum Apologeten von Rassenwahn oder Kriegstreiberei werden kann, findet hier erste Antworten. Und eine Menge Tipps für weitere Nachforschungen in eigener Regie. Wer denkt, dass die Zeit der Nazis ein Zwischenspuk war und eigentlich „zum Vergessen“ ist, der kann nach der Lektüre dieses Sonderhefts zumindest für unsere Gegenwart eines gewinnen: nämlich den geschärften Blick auf die historische Kontinuität und den katastrophalen Impetus eines Denkens im radikalen Rahmen. Denn Intelligenz ohne Empathie war, ist und bleibt nun mal eine der verheerendsten Konstellationen, die das menschliche Gehirn zu bieten hat.

Rezension: Harald Wurst | ph1.de

Preis der Leipziger Buchmesse 2015: Das sind die Nominierten

Preis_Leipziger_Buchmesse.JPG.1129132Die Finalisten für den Preis der Leipziger Buchmesse stehen fest. Die Jury unter der Leitung von Hubert Winkels hat in den Kategorien Belletristik, Sachbuch/Essayistik und Übersetzung jeweils fünf Autoren bzw. Übersetzer nominiert. Insgesamt hatten sich 115 Verlage mit 405 Werken für den Preis beworben. Der Preis der Leipziger Buchmesse wird am Buchmesse-Donnerstag , 12. März 2015, um 16 Uhr in der Glashalle vergeben. Die Preisverleihung kann im Livestream unter www.preis-der-leipziger-buchmesse.de/stream verfolgt werden.

Erstmals begleiten ausgewählte Literatur- und Buchblogger den Preis der Leipziger Buchmesse und erstellen Rezensionen zu jeweils einem nominierten Werk. Diese werden schließlich ab 7. März auf der Webseite des Preises der Leipziger Buchmesse veröffentlicht und auf Facebook und Twitter geteilt.

Bereits im Vorfeld können Literaturfans in Leipzig die Nominierten erleben. Am 22. Februar und 1. März präsentieren sich jeweils zwei beziehungsweise drei nominierte Belletristik-Autoren im Rahmen des MDR FIGARO Radio-Cafés in der Moritzbastei.

Der mit insgesamt 60.000 Euro dotierte Preis der Leipziger Buchmesse wird seit 2005 vergeben und ehrt herausragende deutschsprachige Neuerscheinungen und Übersetzungen in den Kategorien Belletristik, Sachbuch/Essayistik und Übersetzung. Die siebenköpfige Jury setzt sich aus deutschen Journalisten und Literaturkritikern zusammen.

Wer die Stimmen der Jury anhören möchte – hier entlang: : https://www.youtube.com/playlist?list=PL52981C6AAB6A7809

Und das sind die Nominierten 2015:

Kategorie Belletristik:

  • Ursula Ackrill: „Zeiden, im Januar“ (Verlag Klaus Wagenbach)
  • Teresa Präauer: „Johnny und Jean“ (Wallstein Verlag)
  • Norbert Scheuer: „Die Sprache der Vögel“ (Verlag C.H. Beck)
  • Jan Wagner: „Regentonnenvariationen“ (Hanser Berlin)
  • Michael Wildenhain: „Das Lächeln der Alligatoren“ (Klett-Cotta Verlag)

Kategorie Sachbuch/Essayistik:

  • Philipp Felsch: „Der lange Sommer der Theorie.Geschichte einer Revolte 1960-1990“ (Verlag C.H. Beck)
  • Karl-Heinz Göttert: „Mythos Redemacht. Eine andere Geschichte der Rhetorik“ (S. Fischer Verlag)
  • Reiner Stach: „Kafka. Die frühen Jahre“ (S. Fischer Verlag)
  • Philipp Ther: „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa“ (Suhrkamp Verlag)
  • Joseph Vogl: „Der Souveränitätseffekt“ (diaphanes)

Kategorie Übersetzung:

  • Klaus Binder übersetzte aus dem Lateinischen: Lukrez, „Über die Natur der Dinge“ (Verlag Galiani Berlin)
  • Elisabeth Edl übersetzte aus dem Französischen: Patrick Modiano, „Gräser der Nacht“ (Carl Hanser Verlag)
  • Moshe Kahn übersetzte aus dem Italienischen: Stefano D´Arrigo, „Horcynus Orca“ (S. Fischer Verlag)
  • Mirjam Pressler übersetzte aus dem Hebräischen: Amos Oz, „Judas“ (Suhrkamp Verlag)
  • Thomas Steinfeld übersetzte aus dem Schwedischen: Selma Lagerlöf, „Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden“ (Die Andere Bibliothek)

Rezensionsreihe Israel zur Leipziger Buchmesse 2015, Teil 2: Liad Shoham, Stadt der Verlorenen

Flüchtlinge, korrupte Politiker, eine junge Kommissarin auf der Suche nach der Wahrheit: Der israelische Bestsellerautor Liad Shoham macht aus dieser beinahe ausgebrannten Konstellation einen packenden Thriller, der im Unterschied zu seinen skandinavischen Gattungsgenossen auch ohne Actionszenen und detailreiche Schilderungen von Grausamkeiten auskommt.

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Quelle: www.thalia.de

Zur Handlung

Michal Polag lebt in einem vornehmen Stadtteil Tel Avis und engagiert sich trotz Protest aus ihrer Familie in den ärmeren Vierteln für afrikanische Flüchtlinge. Als junge Idealistin, die sich ihrer privilegierten Herkunft beinahe schämt, sucht sie den offenen Konflikt mit jenen, die aus dem Leid der Flüchtlinge Kapital schlagen: sei es mit dem „Banker“, Kopf einer illegalen Organisation, oder dem rücksichtslosen Staatsanwalt Jariv Ninio. Der Leiter der Hilfsorganisation ASSAL, Itai Fischer, steht ihren häufigen Alleingängen kritisch gegenüber, obwohl er ihren Idealismus heimlich bewundert.

Eines Morgens wird Michal tot in ihrer Wohnung gefunden und der Polizei ist schnell klar: Es ist Mord. Der Fall wird der frischgebackenen Hauptkommissarin Anat Nachmias übertragen, die akribisch die Spuren auswertet, als der aus Eritrea geflohene Gabriel plötzlich die Tat gesteht. Doch Anat zweifelt. Wieso sollte gerade er, ein Schützling und Freund Michals, sie ermordet haben? Während der Rest ihrer Kollegen und die Staatsanwaltschaft den Fall schnell abschließen wollen, stößt Anat immer weiter in die Schattenwelt Tel Avivs vor, in der Kriminalität, Angst, Korruption und der Handel mit dem Elend der Menschen den Alltag der Flüchtigen bestimmen.

In den Straßen von Tel Aviv

Liad Shoham bedient sich in seinem Thriller verschiedener Erzählperspektiven. So berichten die Hauptcharaktere im Wechsel über das Geschehene, geben gegenseitig Wertungen über die anderen Akteure ab und stellen sich stetig der Frage, wem sie vertrauen können. Gleichzeitig greift der Autor das brisante wie aktuelle Thema der illegalen Einwanderer in Israel auf und beleuchtet es aus Sicht der Polizei, Justiz, der Hilfsorganisation und vor allem der Flüchtlinge selbst. Shoham führt den Leser als praktizierender Anwalt sicher durch die komplexe Rechtslage, der sich Gabriel durch sein Geständnis aussetzt. Er stellt die Ablehnung der konservativen Nachbarn Michals gegenüber den Einwanderern genauso offen dar, wie den Sexismus, dem die Kommissarin Nachmias in ihrem von Männern dominierten Berufszweig ausgesetzt ist. Die Handlung durchzieht Tel Aviv von den gepflegten Stadtteilen bis hin zum Flüchtlingsviertel am alten Bahnhof, schaut aber auch über den Rand und schildert anhand von Einzelschicksalen, unter welchen Umständen und Strapazen die Flüchtlinge in die zweitgrößte Stadt Israels kommen.

Mein Fazit

Mit einem zügigen Erzähltempo und einem vielschichtigen Ensemble an Charakteren schafft Liad Shoham einen packenden Kriminalroman, der die Flüchtlingsthematik nicht nur als Kulisse nutzt, sondern Missstände und Willkür anprangert. Einen Bonuspunkt von mir gibt es für die obligatorische Romanze, die sich zum Glück dezent im Hintergrund hält.

Liad Shoham, Stadt der Verlorenen
DuMont Buchverlag, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Stadt-der-Verlorenen-9783832162894
Autorin: Jasmin Beer

Rezension: Hannah Kent, Das Seelenhaus

Ausgerechnet eine Australierin will ein historisches Ereignis, das sich vor fast 200 Jahren in Island abgespielt hat, als Vorlage für ihre Geschichte verwenden  – die sie zudem aus verschiedenen Blickwinkeln erzählt. Dieses ambitionierte Vorhaben kann eigentlich nur scheitern, möchte man auf den ersten Blick meinen – zumal es sich bei „Das Seelenhaus“ um Hannah Kents Debütroman handelt. Doch diese Einschätzung ist weit gefehlt. Vielmehr präsentiert die Autorin ein einfühlsames Werk, das passagenweise so schwermütig wirkt, wie der isländische Winter.

Quelle: www.droemer-knaur.de
Quelle: www.droemer-knaur.de

Zwischen Fiktion und Realität

Hannah Kent hatte während eines Schüleraustausches in Island die Geschichte von Agnes Magnúsdóttir gehört, einem der beiden letzten Hinrichtungsopfer Islands. Sie war, ebenso wie einer der beiden Mittäter, hingerichtet worden, weil sie zwei Männer im Schlaf ermordet und anschließend verbrannt haben soll. Während Agnes und der männliche Mittäter zum Tode verurteilt wurden, kam die Dritte im Bunde – eine junge Magd – mit einer Haftstrafe davon. Weil Island in jenen Jahren Teil des Königreichs Dänemark war, mussten auf der Insel ausgesprochene Todesurteile erst vom König bestätigt werden.

Der zuständige Landrat ordnet an, dass Agnes zwischenzeitlich auf einem Bauernhof arbeiten muss. Den beiden Töchtern der Familie war sie in der Vergangenheit schon einmal auf dem Weg von einer Anstellung zur anderen begegnet und hatte den Kindern jeweils ein Ei geschenkt. Trotzdem begegnet man ihr zunächst mit großem Misstrauen, seitens einiger Nachbarinnen sogar mit offener Ablehnung.

Die unterschiedlichen Perspektiven

Die eigentlichen Ereignisse schildert Hannah Kent aus der Sicht des neutralen Beobachters. Dazwischen beleuchtet sie das Schicksal und die Vergangenheit der Magd Agnes aus der Ich-Perspektive und in erzählenden Monologen, in welchen sie einem Priester Einblick in ihr Seelenleben gibt. Dieser soll sie auf den Tod vorbereiten und ihr predigen, doch um einen Zugang zur zunächst verschlossenen Frau zu finden, entscheidet er sich dafür, ihr zunächst zuzuhören.

Hannah Kent zeichnet dabei das Bild einer hart arbeitenden Frau, die von Kindesbeinen an auf der Schattenseite des Lebens stand. Weil Agnes fleißig ist, alle aufgetragenen Arbeiten zuverlässig erledigt und hilft, wo sie nur kann, gewinnt sie schließlich die Zuneigung ihrer Gastfamilie. Pfarrer Tóti versucht sogar, sich beim Landrat für die Verurteilte einzusetzen. Doch dieser will ein Exempel statuieren und ist nicht bereit, Gnade walten zu lassen.

In den wenigen Wochen vor der Hinrichtung erlebt Agnes das, wonach sie sich ihr ganzes Leben gesehnt hat: Sie findet ihren Platz, wird fast zu einem Teil der Gastfamilie. Offen bleibt, ob die Hinrichtung nicht das gnädigere Schicksal für die freiheitsliebende Frau gewesen wäre. Die Begnadigte stirbt wenige Jahre später im Kerker.

Mein Fazit:

Bei der Beschreibung der Lebensverhältnisse in Island zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist die fehlende Verwurzelung der Autorin zu spüren. Die Schilderungen wirken teilweise zu flach. Dieser Aspekt wirkt sich jedoch nicht insgesamt negativ auf die Geschichte aus. Hannah Kent ist ein brillanter Einstieg in die Welt der Literatur gelungen.

Hannah Kent, Das Seelenhaus
Dromer HC, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Das-Seelenhaus-9783426199787
Autor: Harry Pfliegl

Leipziger Buchmesse 2015: Verfolgen Sie meine Rezensionsreihe zum Partnerland Israel

Wie schon zur Frankfurter Buchmesse 2014 mit dem Partner Finnland, werde ich in diesem Jahr eine Rezensionsreihe zur Leipziger Buchmesse mit dem Partner Israel auflegen. Der Anfang ist gemacht mit einer Besprechung zu „Elsas Stern“. Ich bin sehr gespannt, welche Themen sich ergeben. Bisher finde ich nur drei Stichwörter: Holocaust, Kibbuz, Krimi.

Besonders freue ich mich über einen Gastrezensenten: Bernd Karwen, Mitarbeiter am Polnischen Institut Leipzig und ausgewiesener Kenner polnischer Gegenwartsliteratur, wird für diesen Blog den Roman „Die Pension“ von Piotr Paziński besprechen. Der Autor liest am 13. März um 20:00 Uhr im Polnischen Institut Leipzig aus seinem Debutwerk, für das er mehrfach ausgezeichnet wurde. Auch Dr. Thomas Feist, Vorsitzender der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Leipzig, hat eine Gastrezension zugesagt. Er wird seine Leseeindrücke von „Wilhelm Brasse, Der Fotograf von Auschwitz“ schildern. Danke!

Rezension: Dorthe Nors, Handkantenschlag

Handkantenschlag“ – das ist eine Schlagtechnik aus dem Kampfsport Karate. Nach dem Lehrbuch angewendet, setzt sie einen Gegner schnell und präzise außer Gefecht. Die dänische Autorin Dorthe Nors schreibt in ihrem neuesten Buch zwar nicht über Karatekämpfer, doch wer die Sammlung von 15 Kurzgeschichten liest, der merkt schnell, dass der Titel „Handkantenschlag“ punktgenau gewählt ist.

Quelle: www.osburg-verlag.de
Quelle: www.osburg-verlag.de

Ein harmloser Beginn
Was mich als Leserin der Geschichten erwartet, kann ich zunächst nicht ahnen, denn die Überschriften der Kurzgeschichten klingen recht harmlos. Von „Kennst du Corri?“ über „Das Entenküken“ und „Das Wattenmeer“ bis hin zum „Friseur gegenüber der Münzwäscherei“ erwarte ich als Leserin ein paar kurzweilige, vielleicht auch amüsante oder romantische Geschichten. Weit gefehlt. Wie ein Schlaglicht beleuchtet Dorthe Nors die momentane Situation ganz unterschiedlicher Menschen – und braucht dazu keinen langatmigen Szenenaufbau. Mit einigen präzise gesetzten Worten und Sätzen gelingt es Nors, mich als Leserin unmittelbar in die Szenerie zu versetzen, als würde ich direkt neben den handelnden Personen stehen. Was meist recht harmlos anfängt, bleibt nicht so. Mit ebenso präzise gesetzten Worten und Sätzen, eben mit einem echten „Handkantenschlag“, zerschlägt Nors die gerade aufgebaute Szenerie. Das Kartenhaus der Akteure, gebaut aus Selbstbetrug, Täuschung und Lügen, fällt in sich zusammen.

Deprimierend und zugleich hoffnungsfroh
Obwohl die Geschichten nahezu alle nach demselben Prinzip aufgebaut sind, hat es mich als Leserin immer wieder verblüfft, wie wenig ich auf den unausweichlichen „Handkantenschlag“ vorbereitet war. Bis auf wenige Ausnahmen hoffte ich trotz allem auf ein Happy End – was mir dann verwehrt blieb. Stattdessen ist das Ende nicht selten brutal und mit Gewalt verbunden. Das ist für mich als Leserin mitunter schwer zu verdauen. Doch obwohl die negativen Seiten der Menschen in den Kurzgeschichten überwiegen, gibt es auch hoffnungsfrohe Erzählungen. „Die große Tomate“ zum Beispiel, bei der ich ahne, dass die Geschichte nach der Geschichte im positiven Sinn weitergeht.

Fazit: Unbedingt empfehlenswert
Obwohl „Handkantenschlag“ mitunter ein etwas deprimierendes Buch ist, empfehle ich es zum Lesen. Warum? Weil mir bis jetzt selten ein Buch untergekommen ist, das die menschliche Natur in all ihren Facetten so genau und präzise beschreibt. Ich schlage allerdings vor, die Geschichten in kleinen Dosen zu lesen – jeden Tag ein Häppchen.

Dorthe Nors, Handkantenschlag
Osburg Verlag – Murmann Publishers, Hamburg 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Handkantenschlag-9783955100704
Link zur Autorin: http://www.dorthenors.dk/
Autorin der Rezension: Yvonne Giebels

Rezension: Kenzaburō Ōe, Licht scheint auf mein Dach

Bereits 1995 und 1996 publizierte Kenzaburō Ōe zwei Bücher mit Essays über das Leben seiner Familie, das durch die Behinderung seines ältesten Sohnes geprägt ist. Obwohl seitdem beinahe 20 Jahre vergangen sind, übermittelt die neue Zusammenstellung seiner Essays durch Nora Bierich eine Form des familiären Miteinanders und Zusammenhalts, die heute noch gültig ist.

Ein Nobelpreisträger und Vater

Ōe, geboren 1935 auf Shikoku/Japan, verfasste bereits während seines Studiums der Romanistik in Tokyo mehrere Theaterstücke und schrieb für die Fakultätszeitung, wofür er den Ichō-Namiki-Preis erhielt. Viele Auszeichnungen inklusive der Ehrung mit dem Nobelpreis für Literatur 1994 später kann er auf ein umfangreiches literarisches Werk zurückblicken, das vor allem durch ein privates Ereignis geprägt wird: Die Behinderung seines ältesten Sohnes Hikari. Waren seine Schriften zuvor eher politischen Themen gewidmet, bildet nun die Geschichte seines Sohnes sowohl die Grundlage für den autobiographischen Roman „Eine persönliche Erfahrung“ als auch für viele Figuren, die in seinem späteren Werken auftreten. Kenzaburō Ōe lebt heute mit seiner Familie in Tokyo.

Quelle: www.fischerverlage.de
Quelle: www.fischerverlage.de

Leben mit der Behinderung und der Kunst

Alles beginnt mit einer Geburtstagskarte von Hikari an seine Mutter. Sechsundzwanzig Jahre zuvor kam der älteste Sohn der Familie Ōe mit einer Schädeldeformation auf die Welt. Trotz einer lebensrettenden Operation leidet er unter häufigen epileptischen Anfällen, ist geistig zurückgeblieben. Das Familienleben verläuft nach dem Takt, den die Pflege des Sohnes vorgibt: Arztbesuche, Behindertenwerkstatt, Klavierunterricht, Medikamente. Hikari ist ein stiller junger Mann, der Musik liebt, sich in seiner Musik ausdrückt und trotz seiner Behinderung die Welt genau beobachtet. So drückt die Geburtstagskarte an seine Mutter aus, wie er den langsamen geistigen Verfall seiner Großmutter erlebt – und dies in nur wenigen Worten.

Im Schein dieser Anekdote beginnt Kenzaburō Ōe sein erstes Essay über den Wandel der Jahreszeiten des Lebens. Als Kind war Hikari noch im Vollbesitz seiner physischen Kräfte gewesen, konnte mit seinen Geschwistern herumtoben, bevor er immer mehr von seiner Behinderung eingeholt wurde. Auch Ōe und seine Frau sind sich ihres stetigen Alterns gewiss. Woher schöpfen Menschen im Angesicht von Krankheit und Alter ihren Trost? Hikari bezieht Stärkung aus seiner Liebe zur klassischen Musik und drückt auch seine Gefühle durch Musik aus – ebenso wie sein Vater in seinen Romanen, seine Mutter in ihren Bildern.

Die Krankheit als Essay

Im Mittelpunkt der insgesamt 19 Essays stehen daher vor allem die Ereignisse, in denen sich der Sohn musikalisch verwirklichen kann: In denen er sowohl seine „heulende Seele“ als auch seine Empfindungen zu wichtigen Ereignissen in seinem Leben preisgibt. Genauso werden die Schwierigkeiten des Alltags, Streitereien und unangenehme Situationen geschildert. In einer Mischung aus philosophischem Diskurs und Tagebucheinträgen beschreibt Ōe seinen inneren Konflikt über den Umgang mit der Behinderung seines Sohnes, ohne die Schattenseiten zu kaschieren. Offen schreibt er über sein Zögern, dem lebenswichtigen Eingriff an seinem Sohn kurz nach dessen Geburt zuzustimmen oder die Wut, die ihn angesichts der Hilfsbedürftigkeit seines Sohnes überkommt. Er scheut sich auch nicht, die Kritik anzusprechen, die der Familie entgegenschlägt, als Hikari erste Erfolge als Komponist verzeichnen kann.
In einer ruhigen und gleichzeitig bildhaften Sprache werden die Beziehungen zur Mutter, den Geschwistern und auch den Freunden der Familie vor dem Leser ausgebreitet, wenngleich es nur episodenhafte Einblicke sind.

Mein Fazit

„Licht scheint auf mein Dach“ ist weder eine Biografie noch eine Familiengeschichte, sondern eine Sammlung von Anekdoten und Reflektionen über das Zusammenleben eines Vaters mit seinem behinderten Sohn. Zu Beginn mag man sich an der leicht distanzierten Erzählweise stören, aber gerade das bietet Raum zum Nachdenken, wie man selbst in dieser oder jener Situation reagiert hätte. Die Offenheit Kenzaburō Ōe ist mehr als beeindruckend, frei von Rührseligkeit und Drama. Es ist kein Buch, das man schnell nebenbei lesen kann, und es mag von Vorteil sein, bereits einen Roman des Schriftstellers zu kennen. Am Ende ist Ōe (wieder einmal) ein einfühlsames und nachdenkliches Buch gelungen, dessen neue Übersetzung seiner Sprache gerecht wird und durch die Untermalung mit Yukari Ōes Zeichnungen einen wunderbar persönlichen Eindruck in die Gefühlswelt seiner Familie gibt.

Kenzaburō Ōe, Licht scheint auf mein Dach
S. Fischer Verlag, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Licht-scheint-auf-mein-Dach-9783100552174
Autorin: Jasmin Beer

Rezension: Alexandra Friedmann, Besserland

Dass wahre Geschichten mit einem realen Hintergrund nicht schwermütig oder mit tragischem Unterton erzählt werden müssen, beweist Alexandra Friedmann mit ihrem Erstlingswerk „Besserland“. Sie erzählt die Geschichte ihrer Familie, die eigentlich aus der Sowjetunion in die USA auswandern wollte, letztlich aber in Krefeld strandete. Obwohl aufgrund der Ereignisse wie dem Reaktorunglück von Tschernobyl durchaus tragische Elemente mitschwingen, schafft Alexandra Friedmann ein witzig und temporeich erzähltes Stück Zeitgeschichte.

Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de
Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de

Auf der Suche nach Freiheit

Eigentlich haben sich Lena und Edik, die Eltern der kleinen Sanja, ganz gut mit dem System in der Sowjetunion arrangiert: Lena ist eine ehrgeizige Bauzeichnerin, die mehr Zeit an ihrer Arbeitsstelle verbringt als zu Hause. Edik leitet einige Mitarbeiter in der Baubehörde der weißrussischen Stadt Gomel. Er arbeitet jedoch nur das nötigste, verbringt lieber Zeit mit seinem Kind oder spielt mit Freunden Karten und vergisst selbstverständlich nicht, sich mit Gefälligkeiten und Zuwendungen ein Netzwerk an Kontaktleuten aufzubauen.

Als Michail Gorbatschow die Perestroika ausruft, um Staat und Gesellschaft zu erneuern, gehören die Friedmanns zunächst zu den Profiteuren dieser neuen Zeit: Edik gründet eine Kooperative und schafft einen bescheidenen Wohlstand für seine Familie. Doch das Glück währt nur kurz: Die gewonnenen Freiheiten werden wieder eingeschränkt, während zugleich die Repressionen gegen Juden zunehmen. Die schwarzen Niederschläge, die nach dem Reaktorunglück auch in Gomel vom Himmel fallen, fasst die Familie als schlechtes Omen für die Zukunft auf.

Die Reise nach Besserland

Nachdem die Ausreise für sowjetische Juden, die eine Einladung von Verwandten aus den USA oder Israel besitzen, erleichtert wurde, setzt Edik Friedmann alle Hebel in Bewegung, um an die begehrten Papiere, nämlich ein Visum und ein Zugticket nach Wien zu bekommen. Die Familie kann schließlich über Warschau nach Wien ausreisen, muss jedoch entgegen der Versprechen eines Kontaktmannes den Großteil ihres Besitzes zurücklassen. In Wien findet die Familie Unterschlupf bei Jossik, der ihnen statt der Ausreise in die USA einen Asylantrag in Deutschland schmackhaft macht. Die Friedmanns müssen erneut eine abenteuerliche Reise unternehmen, um die Grenze zu passieren, können erfolgreich Asyl beantragen und bauen schließlich in Krefeld eine Zukunft auf.

Nichts ist skurriler als die Realität

Alexandra Friedmann erzählt die Geschichte aus der Perspektive der kleinen Saskja, ohne die hintergründigen Ereignisse in irgendeiner Form zu werten. Sie erzählt eher als neutraler Beobachter und entwickelt Setting sowie Charaktere durch die detaillierte Schilderung von Anekdoten. Diese wirken teilweise so skurril, dass sie sich einfach so zugetragen haben müssen. Ein Beispiel: Ediks Kontaktmann zum Zoll taucht an der russischen Grenze mit eingegipsten Armen und zerschlagenem Gesicht auf und erklärt, dass seine Kontaktleute dummerweise gerade nicht Dienst hätten und die Friedmanns deshalb nichts durch den Zoll schmuggeln könnten.

Die Charaktere bis hin zu den Nebenfiguren skizziert Alexandra Friedmann liebevoll mit all ihren Stärken und Schwächen. Dadurch wirken sie so authentisch, dass unweigerlich Bilder der gerade handelnden Personen im Kopf haben – Kopfkino der Zeitgeschichte.

Mein Fazit

Mit „Besserland“ ist Alexandra Friedmann ein überzeugendes Debüt gelungen. Insgesamt wirkt die erste Hälfte des Romans stärker als der Schluss, der sich fast zwangsläufig zu einem Happy End entwickelt. Die skurrilen Situationen aus dem ganz alltäglichen Wahnsinn in der Sowjetunion, die phasenweise fast an „Per Anhalter durch die Galaxis“ erinnern, treten in der zweiten Romanhälfte fast komplett in den Hintergrund. Hier hätte die Autorin einige Stellen, etwa den ersten Einkauf des Vaters in einem großen Supermarkt, für den er eine Autobahn überquert, durchaus weiter ausbauen können. Davon unbenommen hat Alexandra Friedmann mit „Besserland“ etwas geschafft, woran schon so mancher etablierte Autorenkollege gescheitert ist: Eine kurzweilige Geschichte aus der Sicht des „kleinen Mannes“ vor dem Hintergrund einer der größten weltpolitischen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts zu erzählen.

Alexandra Friedmann, Besserland
Graf Verlag, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Besserland-9783862200528
Autor: Harry Pfliegl

Rezensionsreihe Israel zur Leipziger Buchmesse 2015, Teil 1: Agnes Christofferson, Elsas Stern. Oder: Shoah-Schatten in Manhattan.

Auschwitz, Holocaust, bestialischer Völkermord, traumatisierte Überlebende und selbstvergessene Verbrecher, die sich in einem neuen Leben einzurichten versuchen… das ist alles in allem extrem harter Stoff. Wer sich diesem Thema als Autor stellt, verdient zunächst einmal großen Respekt, denn die Fallhöhe kann hier sehr hoch sein. Die gebürtige Polin Agnes Christofferson hat sich der Herausforderung gestellt. Und – abgesehen von wenigen Abstrichen – legt die Autorin mit ihrem Roman „Elsas Stern“ eine beeindruckende Geschichte vor: über miteinander verwobene Schicksale und die grenzenlose Grausamkeit, zu der Menschen fähig sind.

Quelle: www.acabus-verlag.de
Quelle: www.acabus-verlag.de

Die Handlung beginnt 1979 in New York. Elsa, Jüdin und Auschwitz-Überlebende, trifft sich mit ihrer Tochter Leni in einem italienischen Restaurant. Als ein älterer Mann die Gaststätte betritt, bricht Elsa offensichtlich geschockt zusammen. Im Krankenhaus kümmern sich Elsas Töchter Leni und Salome besorgt um ihre Mutter – diese benimmt sich allerdings zusehends immer seltsamer. Schließlich übergibt Salome das alte Tagebuch von Elsa an Leni. Und damit startet der zentrale Plot des Romans. Sie erfährt aus den Aufzeichnungen der Mutter nicht nur, wie ihre ganze Familie von den Nazis fast ausgelöscht wurde und dass Elsa in Auschwitz als Opfer brutalster Menschenexperimente leiden musste – auch ihre Schwester Salome ist nicht wirklich mit ihr verwandt… und es gibt einen skrupellosen Arzt namens Erich Hauser, der mit dem Schicksal ihrer Mutter auf verschiedenste Weise verknüpft ist.

Klar, der unbekannte Mann in der Pizzeria ist natürlich dieser grausame KZ-Arzt. Und die, übrigens recht knappe und literarisch wie dramaturgisch eher mittelmäßige, Rahmenhandlung, dreht sich um die Enttarnung des Mannes, der im New York der späten 1970er Jahre als Kinderarzt Peter Miller praktiziert. Zu großer Form läuft der Roman bei den Tagebuch-Sequenzen aus der Perspektive von Elsa auf. Dieser Strang macht rund 80 Prozent des Buches aus. Und keine Seite davon ist zu viel. Von der ersten Begegnung und sogar einem Flirt Elsas mit dem jungen „Erik“ Hauser in der Obhut eines versteckten Landsitzes bis zu den fürchterlichsten Beschreibungen des KZ-Alltags und schmerzhaft detaillierten Schilderungen medizinischer „Experimente“ des perversen Arztes in Auschwitz schont die Sprache dieses Buches den Leser nicht. Die realistische Härte der Prosa ist schlichtweg gewaltig. Und die Ambivalenz der Charaktere , ob SS-Männer, Kapos oder KZ-Insassen, gnadenlos in der Schilderung.

Autorin Agnes Christofferson, geboren 1976 in Polen und seit ihrem 12. Lebensjahr in Deutschland lebend, hat mit „Elsas Stern“ ein tatsächlich ergreifendes Buch geschrieben. Die Geschichte ist rein fiktiv – die Szenerie nicht. Und wer glaubt, zum Holocaust sei eigentlich alles schon gesagt, kann sich hier beim Lesen getrost selber fragen: Ist so ein Verbrechen je vergessen – oder heute wieder möglich? In diesem Buch findet der Leser die Antwort zwar nicht, aber es wird nach der Lektüre womöglich schwer sein, nicht danach zu suchen.

Agnes Christofferson, Elsas Stern
Acabus Verlag, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Elsas-Stern-Ein-Holocaust-Drama-9783862823109
Autor: Harald Wurst | ph1.de