Rezensionsreihe Finnland zur Frankfurter Buchmesse 2014, Teil 6: Riikka Pulkkinnen, Die Ruhelose. Oder: Das Leichte im Schweren

Der Erstlingsroman der Finnin Riikka Pulkkinnen hat es in sich. Sie spricht Themen an, mit denen ich mich als Leserin nicht gerne beschäftige, wenn ich auf der Suche nach einem unterhaltsamen Roman bin: Tod und Sterben, Sterbehilfe und die herrschende Sexualmoral.

Entscheiden oder zerbrechen

Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de
Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de

Da ist Anja, Universitätsprofessorin und eine Frau, die mit beiden Beinen im Leben steht. Ihr Mann ist schwer an Demenz erkrankt und hat ihr bereits vor Jahren das Versprechen abgenommen, ihm eines Tages Sterbehilfe zu leisten. Ein Versprechen, das Anja mehr und mehr belastet und an dem sie zu zerbrechen droht.

Da ist Marie, Schülerin der Oberstufe, die ein Verhältnis mit ihrem Literaturlehrer hat und nicht von ihm lassen kann, obwohl sie ahnt, dass dieses Verhältnis ihr nicht gut tut. Anni, die kleine Tochter des Lehrers, sieht und hört viel mehr, als sie in ihrem Alter eigentlich sollte und Julian, der Lehrer, findet aus dem, was anfänglich eigentlich nur als harmloses Spiel gemeint war, nicht mehr heraus. Immer wieder sucht er nach neuen Rechtfertigungen dafür, warum das Verhältnis mit Marie weitergehen sollte.

Die Figuren im Roman von Riikka Pulkkinnen stehen vor einer schweren Entscheidung oder einer Lebenskrise, und erst ein ungewöhnliches oder dramatisches Ereignis führt zu einer Entscheidung. Fast wähnt man sich als Leserin in einer klassischen Tragödie, in der es ja auch erst zu einer Katastrophe kommt, bevor die Figuren sich weiterentwickeln können oder die Handlungsstränge zusammengeführt werden.

Zusammenfügen, was zusammen gehört

Besonders fasziniert hat mich an diesem Roman, dass die Figuren zunächst nebeneinander her zu laufen scheinen. Erst nach und nach verzahnen sich die Geschichten und Personen miteinander und es entsteht ein großes Bild. Anja, die heimliche Hauptfigur des Romans, ist Maries Tante. Anja begegnet der Tochter Julians begegnet und begräbt mit ihr einen toten Igel in einem kleinen Wäldchen. Das berührt mich.

Mein Fazit

Auch wenn Riikka Pulkkinnen in ihrem Roman also schwere Kost serviert, die man als Leserin erst einmal verdauen muss: Es lohnt sich unbedingt, sich auf diesen finnischen Roman einzulassen. Trotz der angesprochenen Themen kommt die Leichtigkeit in diesem Roman nicht zu kurz und zwischendurch ist Schmunzeln durchaus erlaubt. Dass man sich ganz nebenbei mit ethisch-moralischen Fragen beschäftigt, die auch für die deutsche Gesellschaft relevant sind, ist ein durchaus gewollter Nebeneffekt.

Riikka Pulkkinnen, Die Ruhelose
List Hardcover, 2014
Autorenseite (Finnisch und Englisch): http://riikkapulkkinen.com/teokset
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Die-Ruhelose-9783471350720
Autorin: Yvonne Giebels

Rezension: „In 10 Schritten…“ – Ratgeber von Madame Missou

Vor einigen Wochen erreichte mich per E-Mail die Anfrage einer gewissen Madame Missou. Sie sei über bloggdeinbuch.de auf mein „tolles Blog“ gestoßen. Sie verfasse „kleine, aber feine Ratgeber“ zu verschiedenen, meist typischen Frauenthemen und vermittle so „schön kompakt in ca. 45 Leseminuten das Wichtigste zum jeweiligen Thema.“ Jüngster Coup ist ein Büchlein, wie Frauen mit der Entdeckung umgehen, sie seien bisexuell. Ich könne ja mal einen Titel anfordern, und sie freue sich „riesig über eine ehrliche Rezension“. Gerne.

Wer ist Madame Bissou?
Wer ist Madame Missou?

Damals wusste ich noch nicht, dass sich hinter Madame Missou ein „junger deutscher Verleger“ versteckt; ein Mann, der sich nach eigener Aussage „durch die Kunstfigur Madame Missou und ihre schriftstellerische Arbeit im Bereich der Persönlichkeitsentwicklung einen tiefen Herzenswunsch“ erfüllen konnte. Eine Veröffentlichung im eigenen Namen sei „schlichtweg nicht denkbar gewesen“. Welch Pathos. So habe ich die Ratgeber „Mehr Selbstbewusstsein in 10 Schritten“ und „10 Schritte für mehr Schlagfertigkeit in jeder Situation“ selber gelesen und zusätzlich einer befreundeten Autorin gegeben. Das Resultat ist enttäuschend für Männer und Frauen, Madame.

Die Inhalte

Schauen wir beispielhaft auf die Verbesserung meiner Schlagfertigkeit. Bis einschließlich Seite acht des Ratgebers lese ich drei Mal „… erfahren Sie später…“. Sollte dies ein Kunstgriff sein, der zum gespannten Weiterlesen anregt, geht das nach hinten los. Ich will sofort wissen, was mir hilft, dafür lese ich ja einen Ratgeber. Fazit des Autors nach acht Seiten: Achten Sie auf Körper, Geist und Seele. Das ist wahrlich nicht neu. Im Anschluss gibt es drei Soforthilfe-Tipps: Gegenfragen, Lachen, Gehen. Auch nicht neu. Vielleicht die Malstunde danach? Silhouette aufmalen, schöne und weniger schöne Körperstellen markieren und diesen viel Aufmerksamkeit schenken. Der Hobbypsychologe schließt seinen Koffer und es wird sportlich. Balance-Übungen sollen mir zu mehr Standfestigkeit verhelfen. Mit Squash und ähnlichen Ballsportarten wird die Reaktionsfähigkeit trainiert. Entspannung ist das dritte Thema – mit Yoga, einschlägigen Büchern und CDs, auf keinen Fall beim Fernsehen. Und dann darf ich nochmal zeichnen: Dieses Mal geht es um fünf Säulen, die Lebenswelten darstellen sollen. Spätestens, als dann noch die Ergründung meiner Ängste ansteht, offenbart sich die große Schwäche dieses Ratgebers: Brainstormingfetzen werden ohne roten Faden sprunghaft aneinander gereiht.

Kapitel 5.3 heißt „Schlagfertigkeit kommt von Schlagen“. Vielleicht geht’s jetzt ums eigentliche Thema? Schade, doch nicht. Der verspannte Körper ist verantwortlich dafür, dass wir nicht schlagfertig sind. Also wieder Sport, Yoga und so. Und Atmen lernen.  Damit ich redegewandter werde, soll ich Fernsehsendungen kommentieren, egal welche. Desperate Housewives sei Bildungsfernsehen, sagt der Autor, und bespricht als Beispiel „How I met your mother“.

Nun ist’s gut. Ich will jetzt keinen Rat mehr. Soll eine schlecht übersetzte amerikanische Seifenoper weitab vom Original Maßstab für Lebenshilfe sein?

Erwarten Sie bitte nicht, dass ich jetzt noch den Ratgeber von Madame zum Selbstbewusstsein bespreche. Nur soviel: Acht Seiten Vorgeplänkel (auch hier) sind bei einem Umfang von 29 Seiten (die letzten fünf davon Buchtipps, Autorenportrait und rechtliche Hinweise) schlicht zu lang.

Das Fazit

Lesen Sie weiter Frauenzeitschriften und einschlägige Internetforen. Investieren Sie die Lesezeit für beide eBooks in ein hilfreiches Gespräch mit guten Freunden. Ich halte solche Ratgeber für Spinnerei. Das darf man hoffentlich auch sagen, wenn man nicht der Bundespräsident ist.

Fotonachweis (2): www.madamemissou.de

Rezension: Nina Sedano, Die Ländersammlerin

Quelle: www.prego-magazin.de
Quelle: www.prego-magazin.de

Nina Sedanos Buch „Die Ländersammlerin – Wie ich in der Ferne mein Zuhause fand“ erschien 2014 bei Eden Books. Die Mittvierzigerin hat innerhalb von 23 Jahren alle 193 UN-Staaten bereist und erzählt in diesem Buch davon (Eigenwerbung: „Die meistgereiste Frau Deutschlands“). Bis 2001 kombinierte die Autorin Arbeit und Reisen: Sie nutzte das gesparte Geld und jede freie Minute, um unterwegs zu sein. 2002 kündigte sie ihren Job als Teamleiterin bei einem Kreditkarteninstitut und konzentrierte sich ganz aufs Reisen. Nina Sedano lebt in Frankfurt/Main.

Das Buch

Angekündigt sind Abenteuer aus vierzig Jahren Reiseerfahrung mit lustigen, gefährlichen und berührenden Erlebnissen. Die Reisegeschichten sind chronologisch geordnet von der ersten Auslandsreise nach Österreich im Jahr 1971 bis zum vorerst letzten Ziel Turkmenistan im September 2011. Die einzelnen Kapitel gehen nicht ineinander über und lassen sich in beliebiger Reihenfolge auch einzeln lesen. Auf rund dreihundert Seiten ist nicht für alle Länder Platz. Ins Buch schafften es viele Tier- und Naturerlebnisse beispielsweise aus afrikanischen und zentralamerikanischen Ländern. Thematisiert werden Übernachtungen in Hostels, asiatischen Stundenhotels und bei Freunden, die Nina Sedano auf ihren Reisen kennenlernte.

Die Erzählungen von schönen und weniger schönen Erlebnissen geraten bei Nina Sedano neutral, ja fast mit Gleichmut. Wenn der Grenzübertritt von Ruanda nach Burundi drei Stunden erfordert, dann ist das eben so. Dem Untertitel „Wie ich in der Ferne mein Zuhause fand“ trägt die Autorin Rechnung mit teils sehr persönlichen Äußerungen. Da geht es zum Beispiel darum, wie der Schal einer Burka schmeckt („Igitt!“). Als die Autorin während des griechischen Wahltages der Eintritt in den Palast von Knossos verwehrt wird und sie deshalb bäuchlings eine Lücke im Zaun nutzt, gerät das sprachlich zu „je oller, desto doller“ und der anschließenden Frage, ob sie deswegen nun „Dreck am Stecken“ habe.

Mein Fazit

Wenn jemand voller Begeisterung von seiner Sammlung erzählt, spaltet sich die Zuhörerschaft in zwei Lager: die Faszinierten und die Gelangweilten. Bei der Ländersammlerin ist das nicht anders. Einige Geschichten beginnen, gehen jedoch nicht weiter. Dafür gibt es jede Menge Wortklaubereien, die weder lustig noch originell sind. Die Schilderungen der Natur- und Tiererlebnisse hingegen sind detailreich und fesselnd gelungen. Wer eine abwechslungsreiche, leicht zu lesende, unterhaltsame Lektüre sucht und die ungelenken Wortspiele ignorieren kann, ist mit der Ländersammlerin gut bedient. Reisejournalisten werden die Nase rümpfen. Ein ernsthafter Reiseführer ist das nicht. Doch der war wohl auch gar nicht beabsichtigt.

Nina Sedano, Die Ländersammlerin
Eden Books, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Die-Laendersammlerin-9783944296203

Autorin: Mica Berlin

Beschlossen und verkündet: Eine Burgenbloggerin geht auf die Walz

Das singende, klingende Spiel der Burgenblogger-Kandidaten ist vorbei. Die Trommler der ersten Reihe sind an einem Sonntag abrupt verstummt. Die Jury hat entschieden, endgültig, unumkehrbar.

Meine Favoritin hat sich durchgesetzt. Ich will jetzt nicht triumphieren und nicht mit dem Finger zeigen auf die Unterlegenen. Sie alle sind Sieger, denn ihre Ideen werden das Projekt insgesamt fördern. Doch es erfüllt mich mit einem Stück Genugtuung, dass eben nicht die tägliche, laute Präsenz auf Social Media Kanälen automatisch den Erfolgsweg ebnet. Ein solides Konzept mit dem gebotenen Maß an persönlicher Zurückhaltung hat mehr überzeugt. Auch in Hinblick auf die kommenden Gespräche der Burgenbloggerin in der Region und die Außenwirkung des Projektes halte ich das für eine weitsichtige Entscheidung.

Wenn die Trommelstöcke ausgedient haben, ist die Enttäuschung groß, auch wenn man versucht, dies zu verbergen. Ich bin wieder frei, sagt einer, und nun ist ja auch wieder Platz im Kalender.

In meinem Kalender steht weiter das Projekt Burgenblogger. Gerne gebe ich meine Ideen frei, damit sie im nächsten Jahr in die Walz einfließen. Gerne besuche ich die Burgenbloggerin auf ihrer Zinne und begleite sie an einigen Tagen journalistisch, wenn sie es mag. Und mich treibt die Idee um, ob sich dieses großartige Projekt auch in einer anderen Region umsetzen lässt.

Herzlichen Glückwunsch, Jessica Schober!

Nachgezählt: 405 Einreichungen zum Preis der Leipziger Buchmesse 2015

indexBis zum 1. November konnten sich Verlage für den Preis der Leipziger Buchmesse 2015 bewerben. Nun ist ausgezählt: 405 Bücher aus 115 Verlagen wurden für die Kategorien Belletristik, Sachbuch/Essayistik und Übersetzung eingereicht. Im vergangenen Jahr hatten sich 136 Verlage mit 410 Werken beteiligt. Im Februar 2015 werden in jeder Kategorie fünf Werke nominiert. Die Preisverleihung findet am ersten Messetag der Leipziger Buchmesse 2015 (12. März) statt.

Der Journalist und Literaturkritiker Hubert Winkels übernimmt zum dritten und damit turnusgemäß letzten Mal den Vorsitz der Fachjury. Neben ihm bewerten

  • Lothar Müller, Feuilletonredakteur der Süddeutschen Zeitung
  • René Aguigah, Abteilungsleiter Kultur und Gesellschaft beim Deutschlandradio Kultur
  • Daniela Strigl, Literaturwissenschaftlerin an der Universität Wien
  • Dirk Knipphals, Literaturredakteur der taz
  • Sandra Kegel, Redakteurin im Ressort Literatur und Literarisches Leben der Frankfurter Allgemeinen Zeitungen und
  • Meike Feßman, Literaturkritikerin und Essayistin u.a. für die Süddeutsche Zeitung und den Tagesspiegel sowie für das Deutschlandradio Kultur und den Deutschlandfunk.

Der Preis der Leipziger Buchmesse wird 2015 zum elften Mal verliehen. Er ehrt herausragende deutschsprachige Neuerscheinungen und Übersetzungen und ist mit insgesamt 60.000 Euro dotiert. Dabei erhalten die 15 Nominierten je 1.000 Euro, die Gewinner der drei Kategorien je 15.000 Euro. Der Freistaat Sachsen und die Stadt Leipzig unterstützen den hochkarätigen Preis. Partner des Preises ist das Literarische Colloquium Berlin (LCB)

Rezension: Mechtild Borrmann, Der Geiger

Mechtild Borrmann, Jahrgang 1960, verbrachte ihre Kindheit und Jugend am Niederrhein. Bevor sie sich dem Schreiben von Kriminalromanen widmete, war sie u.a. als Tanz- und Theaterpädagogin und Gastronomin tätig. Für „Wer das Schweigen bricht“ erhielt sie einen Bestseller, der mit dem Deutschen Krimi Preis 2012 ausgezeichnet wurde. Mechtild Borrmann lebt als freie Schriftstellerin in Bielefeld. (Diese Angaben stammen mangels einer Autoren-Website von der Autoren-Seite des Droemer Knaur Verlags.)

Stalinzeit – Lager – Geheimdienst

Quelle: www.droemer-knaur.de
Quelle: www.droemer-knaur.de

Eindrucksvoll sind hier die Schilderungen der Lagerhaft des Geigers Ilja Grenko, der wegen einer naiv gestellten Bitte um Begleitung seiner Frau und seiner beiden Kinder zu einer Konzertreise nach Wien in den Fokus der Staatssicherheit gerät und in den Tiefen der berüchtigten Lubjanka verschwindet, um schließlich in einen der zur Stalinzeit zahlreichen Gulags verbracht zu werden. Wer letztendlich dafür verantwortlich ist, dass die Stradivari – ein Geschenk des Zaren – zunächst unauffindbar verschwindet und es mehrere dubiose Todesfälle in der Familie des Geigers gibt, erfährt der Leser erst ganz zum Schluss.

Sippenhaft

Galina, die Frau Iljas und eine bekannte Tänzerin, gerät durch die unterstellte Fluchtabsicht ebenfalls mit ihren Kindern in existenzielle Nöte. Sie wird nach Kasachstan verbannt, wo sie unter unmenschlichen Bedingungen für den überlebensnotwendigen Unterhalt für sich und ihre Kinder arbeiten muss. Sie glaubt der Lüge, ihr Mann habe sich abgesetzt und habe sie und die Kinder im Stich gelassen. Bei all den Grausamkeiten, denen Galina und ihr Mann im Lager bzw. der Verbannung ausgesetzt sind, gibt es doch immer wieder auch Menschen, die diese Bezeichnung verdienen. Das sind die Stellen im Buch, die am meisten berühren. Gerade, weil das unmenschliche System jegliche Menschlichkeit auszurotten imstande und im Begriff ist.

Der Enkel des Geigers

In einem zweiten Erzählstrang wird vom Enkel Ilja Grenkos erzählt, der in Deutschland lebt und nach langen Jahren Kontakt zu seiner Schwester aufnehmen will. Diese wird jedoch vor seinen Augen erschossen und Sascha beschließt, die Hintergründe für all die merkwürdigen Todesfälle zu erforschen. Seine Suche beginnt mit einem Abschiedsbrief, geschrieben an einem der letzten Tage seines Großvaters im Lager in Workuta, und sie führt ihn weit hinein in eine Welt aus Ehrenkodizes, Lügen und Verwicklungen, in der nichts so ist, wie es scheint.

Fazit

Unzweifelhaft ein empfehlenswerter Roman. Für mich waren die Passagen über Galinas und Iljas Leben, die auch den größten Raum im Buch einnehmen, die stärksten. Es fiel mir manchmal schwer, das Umschalten von dieser Vergangenheit zur neuen Erzählzeit in der Gegenwart zu bewältigen. Außerdem verwirrte mich stellenweise das „Personal“ und dessen Beziehungen im Gegenwärtigen. Die Jagd nach der Geige und die der Mafia entstammenden Figuren und deren Handlungsweisen schienen mir oft zu aufgesetzt und übertrieben. Etwas weniger wäre in diesem Fall mehr gewesen und hätte dem Roman in seiner Gesamtheit sicher gut getan.

Mechtild Borrmann, Der Geiger
Droemer HC, 2012
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Der-Geiger-9783426199251

Autorin: Cornelia Lotter
www.autorin-cornelia-lotter.de

Rezensionsreihe Finnland zur Frankfurter Buchmesse 2014, Teil 5: Sofi Oksanen, Als die Tauben verschwanden. Oder: Volksseelenwanderung

Liebe Leserinnen und Leser: wohl selten war es so wertvoll, auf meine Meinung einen Dreck zu geben. Denn was jetzt kommt, könnt ihr glauben oder auch nicht. Mit diesem Buch tue ich mich nämlich sehr sehr schwer. Und mit der Besprechung dazu fast noch mehr.

Quelle: www.kiwi-verlag.de
Quelle: www.kiwi-verlag.de

Normalerweise startet man als Rezensent ja vorurteilslos frei ins Lesen eines Romans, oder sollte es zumindest versuchen. Das hier in der Kritik stehende Werk von Sofi Oksanen wurde mir allerdings schon vorab in mehreren TV-Kritikerrunden und noch mehr Feuilletons dermaßen wortgewaltig und tiefschürfend um die Ohren gehauen, dass eine objektive Beschäftigung mit Form oder Inhalt keine realistische Option war. Warum? Weil ich den schärfsten Lästereien über diese Prosa fast uneingeschränkt zustimmen muss. Vom Start weg und in allen Punkten.

Aber Vorsicht! Dieses Buch ist auch ausgesprochen konsequent! In seiner Diktion. In seinem Impetus. Und ja, auch in seiner ganz eigenen Wahrhaftigkeit. Und eben das kann vielen Lesern ausgesprochen gut gefallen. Anderen dagegen ganz und gar nicht.Zu den Letzteren gehöre ich.

Die Fakten: 1941 wird Estland von der Wehrmacht okkupiert. Die Soldaten fangen reichlich Tauben, um sie zu essen. Der Titel ist damit geboren. Der Plot behandelt den Lebensweg von drei zentralen Protagonisten: Edgar mit seiner unausgelebten Homosexualität ist opportunistisch bis zur Skrupellosigkeit; Juudith, seine Frau verliebt sich in den SS-Hauptsturmbannführer Hertz; und Roland, Vetter von Edgar, gibt den aufrechten Freiheitskämpfer. Stoff für Verwicklungen ist damit reichlich gewoben. Diese werden aus wechselnden Perspektiven beschrieben. Und nach den Nazis kommen die Sowjets. Deren Besatzungszeit bereitet die Bühne für die zweite Erzählebene und neuerliche “Charakterprüfungen“ der Figuren, angesiedelt in den Neunzehhundertsechzigerjahren in der Baltischen Sowjetrepublik. Wobei generell, ob 1944 oder 1966, die tiefere Gestaltung der Charaktere zugunsten der Handlungsstränge leider auf der Strecke bleibt.

Zum Erzählstil: hier muss ich den meisten Kritikern beipflichten. Insbesondere die Tonalität aus Perspektive von Juudith spielt schon fast ins Unerträgliche. Schwülstige Schöpfungsschilderungen treffen auf völkische Fantasien. Blut und Boden Symbolik feiert fröhliche Urständ. Nation und Natur werden zur Legitimation einer nordischen Identität, die sich dem Spielball der Geschichte so gut es eben geht zu erwehren versucht. Kann man ja machen. Und ich weiß aus eigenen Besuchen in Estland, dass die Angst dieses Landes vor einer erneuten Fremdherrschaft, ganz gleich von welcher Ideologie befeuert, einen Grundton des Alltagsbewusstseins vieler Menschen dort bildet. Ich persönlich mag es allerdings nicht so „allegorisch überdeutlich und melodramatisch süß“ – um hier mal den Kritiker der Süddeutschen Zeitung zu zitieren.

Unbestritten freilich hat Frau Oksanen, Jahrgang 1977, mit ihrer Herkunft den richtigen Background für diesen literarischen Versuch: sie ist Tochter einer estnischen Mutter und eines finnischen Vaters. Und ganz bestimmt werden viele Leser den Stil des Romans für sich auch sehr stark als zu Herzen gehend, poetisch, vielstimmig und lebendig erleben. Ich empfand es in großen Teilen halt einfach bloß als nationalistischen Kitsch – bin aber eben auch weder Este, noch Russe oder habe jemals in irgendeiner Armee gedient. Und zumindest Letzteres war meine eigene Entscheidung.

Sofi Oksanen, Als die Tauben verschwanden
Kiepenheuer & Witsch, August 2014
Online bestellen:  https://www.buchhandel.de/buch/Als-die-Tauben-verschwanden-9783462046618

Autor: Harald Wurst | ph1.de

Rezension: Ted Thompson, Land der Gewohnheit. Oder: Die Demaskierung des American Dream

Anders und Helene führen nach außen ein typisch amerikanisches Leben: Haus mit Garten, zwei erwachsene Söhne, ein seit Jahren befreundetes Ehepaar, Erfolg im Beruf (Anders) und ehrenamtliches Engagement (Helene). Trotzdem bricht Anders aus dieser scheinbaren Idylle aus, reicht die Scheidung ein, sorgt bei der jährlichen Weihnachtsparty der Freunde für einen Eklat und arrangiert sich in seinem neuen Leben als Single. Bald registriert er allerdings, was er aufgegeben hat und will reumütig zurückkehren. Warum das nicht möglich ist und was überhaupt zu Anders‘ Ausbruch führte, deckt Ted Thompson nach und nach auf und sorgt wie ein Chirurg, präzise und schmerzhaft, für eine Demaskierung des American Dream.

Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de

Der Schmerz des Aufwachsens

„Erwachsensein bedeutete genau das, oder? Eine Welt zu schaffen, die ein klein bisschen besser war als die, in die man selbst hineingeboren worden war.“

Wäre das möglich, lebten wir alle in einer perfekten Welt. Doch selbst, wenn wir die scheinbaren Fehler unserer Eltern nicht wiederholen, machen wir doch andere – eine Erkenntnis, der auch Anders sich stellen muss.

Sein Leben lang versucht Anders, aus dem mächtigen Schatten seines erfolgreichen und unnahbaren Vaters herauszutreten, sein spießiges und distanziertes Elternhaus abzustreifen, und schafft doch, auf seine eigene Weise, eine ebenso spießige Vorort-Idylle mit entfremdeten Söhnen. Der ältere Sohn, Tommy, wiederholt genau dieses Muster und lebt zielstrebig und erfolgreich mit Frau und Kindern in einem hübschen Haus, während der jüngere Sohn, Preston, sein Leben scheinbar überhaupt nicht im Griff hat und sich in der Welt von Drogen und Kleinkriminalität bewegt.

Welche Beziehung und welches Lebensmodell Ted Thompson auch beleuchtet, es bröckelt überall und auch unter der Fassade der reichen Freunde lauern Abgründe. Schicht für Schicht trägt der Autor die dicke Farbe auf den Fassaden ab, beleuchtet schonungslos alle Verhinderungsstrategien, Ausflüchte, Rebellionsversuche und gescheiterten Pläne. Am Ende bleiben hilflose und verwirrte Gestalten auf der Suche nach dem eigentlichen Selbst, der Wahrheit und bedingungsloser Liebe. Gefangen in ihren Rollen und hinter ihren Masken können sie nicht aus ihrer Haut und sind so gefangen im Land der Gewohnheit. So spitzt sich alles zu und liegt nach dem Finale in Trümmern. Liegt hier vielleicht die Chance, doch noch so zu leben, dass man sich selbst im Spiegel in die Augen schauen kann, ohne Verachtung zu spüren?

Mitreißender Gedankenstrudel

In einigen Rezensionen wird Thompsons Schreibstil angeprangert, mich hingegen hat er absolut in seinen Bann gezogen. Die langen und teilweise verschachtelten Sätze haben – zusammen mit Sprüngen zwischen Gegenwart und Rückblenden – laut Rezensionen viele Leser abgeschreckt. Für mich untermauert diese Schreibweise absolut das, was Thompson inhaltlich beschreibt: Rasende und springende Gedanken, die kaum richtig zu fassen sind. Eine Unruhe, von denen die Protagonisten getrieben werden, die aber nicht konkret festzumachen ist. Den Versuch, Muster in der Vergangenheit zu erkennen und zu durchbrechen, und das Scheitern am hektischen Fluss des Alltags.

Im ersten Teil werden Gegenwart und Rückblick aus Anders‘ Sicht geschildert, den Mittelteil und das Finale schildert Thompson aus Helens und Prestons Position. Dadurch und in diversen Rückblenden wird deutlich, wie unterschiedlich zwei oder mehr Personen dieselbe Situation erleben können. Während zum Beispiel Anders seiner Familie durch unermüdliche Arbeit seine Liebe zeigt, wünscht sich seine Frau Helen eher persönliche Zuwendung. Durch Sprachlosigkeit und oberflächliches „Uns-geht’s-gut“-Denken verfestigen sich Konflikte und eskalieren schließlich.

Land der Gewohnheit ist ein schonungsloses Buch, das fein beobachtet, detailliert das Skalpell ansetzt und durchaus humorig eine ganz normale amerikanische Familie demontiert. Teilweise habe ich mich wie ein Voyeur gefühlt, der mit wachsendem Unbehagen Zeuge eines Streits wird, bei dem mehr und mehr schmutzige Wäsche ans Licht kommt, der aber auch zu faszinierend ist, um nicht weiter zuzuhören. Dazu kommen auch die vielen schrägen und bösartig-witzigen Situationen, die den Leser oft zwischen Mitleid und Häme schwanken lassen. Für mich ein lesenswertes Buch, das den Blick auf die eigene Lebenssituation und die eigenen Träume und Familienmuster schärft.

Ted Thompson, Land der Gewohnheit
Ullstein, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Land-der-Gewohnheit-9783550080746

Autor: Dorothee Bluhm
www.wortparade.de

Rezensionsreihe Finnland zur Frankfurter Buchmesse 2014, Teil 4: Ulla-Lena Lundberg, Eis – ein Drama voller Hoffnung

Wer den Klappentext des Romans „Eis“ der schwedisch-finnischen Autorin Ulla-Lena Lundberg liest, dürfte im ersten Moment eher abgeschreckt sein. Der deutet eher auf ein Heimatmelodram in bester Konsalik-Manier oder eine blutrünstige Story hin, welche Horror-B-Movies aus den 1970er Jahren zum Vorbild haben könnte. Was den Leser tatsächlich erwartet, wird jedoch nicht angedeutet: Ein einfühlsames Drama voller Hoffnung, das in einer Zeit angesiedelt ist, als ganz Europa in Trümmern lag.

Cover Eis Mare-verlagDie Handlung

Die Autorin erzählt aus der Sicht des allwissenden Erzählers die Geschichte des Geistlichen Peter Kümmel und seiner Familie auf den Örar-Inseln kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Obwohl die Inseln irgendwo im Nirgendwo zwischen Schweden und Finnland liegen, hat der Krieg auch hier seine Spuren hinterlassen. Etwa in Form von Frau Doktor Gyllen, deren sowjetische Abschlüsse in Finnland nicht anerkannt werden, weshalb sie auf den Inseln als Hebamme arbeitet, bis sie einen regulären finnischen Abschluss erworben hat. Die Bevölkerung hat keine Ahnung, welches dunkle Geheimnis Frau Doktor mit sich trägt: Nachdem ihr Mann von Stalins Schergen verhaftet worden war, hatte sie ihren Sohn zurückgelassen und war aus der Sowjetunion geflüchtet. Sie vertraut sich lediglich Peter Kümmel an, nachdem dieser eine feste Autorität in der Kirchengemeinde geworden ist.

Aufgenommen wird der neue Pfarrer, der jedoch erst noch die Abschlussprüfung bestehen muss, bevor er als vollwertiger Pfarrer anerkannt ist, von der Gemeinde herzlich. Vor allem der Küster und der Kantor, die später zu den besten Freunden der Kümmels auf der Insel werden sollen, sind ihm anfangs eine wichtige Stütze. Schließlich ist die Gemeinde auf den Inseln trotz des scheinbaren Zusammenhalts tief in zwei Fraktionen gespalten, sodass der Pfarrer stets zu einem gerechten Ausgleich zwischen den Siedlungen im Westen und im Osten der Inseln bedacht sein muss.

Es gelingt der jungen Pfarrersfamilie schnell, sich auf den Inseln einzuleben und sich dank der landwirtschaftlichen Kenntnisse von Mona Kümmel die Grundlage für bescheidenen Wohlstand zu schaffen. Obwohl Mona bisweilen eifersüchtig auf die Gemeinde ist, die ihren Gatten allzu sehr in Beschlag nimmt, scheint dem Glück der Familie trotz einiger Schwierigkeiten und Rückschläge auf den Örar-Inseln nichts im Wege zu stehen. Ein einziger unbedachter Augenblick bereitet dem Glück der jungen Familie jedoch ein jähes Ende.

Ein Zeitsprung für den Leser

Mit „Eis“ gelingt es Ulla-Lena Lundberg, ein fulminantes und dennoch einfühlsames Stück jüngerer Vergangenheit anhand der Schicksale einzelner Personen zu erzählen. Sie beschreibt nüchtern in einem Stil, der dem gemächlichen Lebensrhythmus der Inselbewohner angepasst wird. Lundberg verzichtet auch in dramatischen Momenten auf jegliche Melodramatik, was ihre Figuren umso plastischer und lebendiger erscheinen lässt. Sie beschreibt Episoden aus dem Leben ihrer Figuren, die einfach nur ihr Leben leben wollen. Geschickt lässt sie einige historische Fakten einfließen, die den Leser nicht überfordern, aber einen Einblick in die alltäglichen Herausforderungen geben, denen sich die Menschen in den ersten Jahren unmittelbar nach der großen Katastrophe des 20. Jahrhunderts stellen mussten.

Mein Fazit

„Eis“ ist ein rundum gelungenes Werk, das den Leser von der ersten bis zur letzten Seite gemächlich in seinen Bann zieht. Ein ideales Buch also für warme Winterabende vor dem flackernden Kaminfeuer.

Ulla-Lena Lundberg, Eis
Mare Verlag, 1. Auflage August 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Eis-9783866482067

Autor: Harry Pfliegl

Einen Tag vor der Entscheidung: Wird es eine Burgenbloggerin?

Alle zehn Kandidaten mit feinem Proporz zwischen 5m und 5w sind bekannt. Nach verschiedenen kleinen Scharmützeln zwischen den Kandidaten ist es Zeit, Stellung zu beziehen. Ich habe eine klare Favoritin.

Quelle: wortwalz.de
Quelle: wortwalz.de

Das Projekt der Wortwalz von Jessica Schober hat mich von Beginn an begeistert. Erst durch sie ist mir bewusst geworden, wie sehr ich meinen Journalismus auch als Handwerk begreife und so nach außen vertrete. Aber ich hatte noch nie die wahnwitzige und doch so naheliegende Idee, das auch wörtlich zu nehmen und als handwerkender Journalist auf eine Walz zu gehen. Die Idee von Jessica Schober spricht für sich, erst recht das Ergebnis.

Jessica Schober ist vielseitig über den von ihr so verfochtenen Lokaljournalismus hinaus. Gerne habe ich ihre Reiseimpressionen aus Russland und ihr Engagement als Mentorin im Projekt „Rock your Life!“ verfolgt. Und was ich noch an ihr mag: Sie vertritt ihr Anliegen selbstbewusst, ohne dabei aufdringlich zu sein. Welch wohltuender Unterschied zu anderen Burgenblogger-Bewerbern, die überzeugt sind, gefühlte Hunderte Tweets brächten sie auf die Burgzinne.

Möge Journalismus als Handwerk nie aussterben.

Mögen sich noch viele Generationen Geschichten erzählen.

Und möge ab Mai nächsten Jahres eine Handwerkerin auf die Walz im Mittelrheintal gehen.

www.jessicaschober.de
www.wortwalz.de