Mein "Tag der Kriegsenkel" auf der Leipziger Buchmesse

Der erste Buchmessetag 2016 war mein „Tag der Kriegsenkel“. Am Nachmittag überreichte ich dem Acabus Verlag das Manuskript der Lebensbiografie meines Vaters, die zu weiten Teilen vom Thema Kriegsenkel durchzogen ist. Am Vormittag stellten die Autoren Raymond Unger („Die Heimat der Wölfe“) und Matthias Lohre („Das Erbe der Kriegsenkel. Was das Schweigen der Eltern mit uns macht“) ihre Bücher zum unverarbeiteten Kriegstraumata vor. Die Parallelen sind verblüffend.

Raymond Unger auf der Leipziger Buchmesse 2016. Foto Detlef M. Plaisier
Raymond Unger auf der Leipziger Buchmesse 2016. Foto Detlef M. Plaisier

Raymond Unger (Jahrgang 1963) legt ein „anderes“ Kriegsenkelbuch vor: kein Sachbuch, sondern eine in Anekdoten erzählte Familiengeschichte, die Persönliches seiner Vorfahrengenerationen aus Bessarabien (heute Moldawien) mit europäischer Geschichte verwirkt. Unger nutzt dafür eigene Erinnerungen, Tagebücher und Tonbandaufzeichnungen. „Vor fünf, sechs Jahren“, so der Autor, der auch als Kunstmaler, Coach und Psychotherapeut tätig ist, „hätte ich den Begriff Kriegsenkel noch gar verwendet. Ich hätte ein Buch über Familientraditionen, über Sucht und fundamentale Religionen geschrieben.“ Doch während der Arbeit sei ihm klar geworden, dass es tiefere Gründe gebe für akute Probleme in Familienstrukturen: „Die verkannten Kriegstraumata der Großeltern- und Elterngeneration, die Dämonen der 1940er Jahre, konnten weder durch Alkohol noch durch exzessive Hobbys gebändigt werden. Und ich, kinderloser Angehöriger der Babyboomer-Generation, beende jetzt den Reigen der Weitergabe und steche die giftigen Blasen auf.“

Ich habe erste Kapitel gelesen. Wie mein Vater, erzählt Unger nicht zeitlich chronologisch, sondern setzt im Erzählfluss zeitliche und örtliche Orientierungsmarken für den Leser. Seine Familienchronik, beginnend im Jahr 1924, drei Jahre vor der Geburt meines Vaters, zeichnet ebenso ein Sittengemälde der Zeit: hier Überleben und Anpassung im Dritten Reich, dort der allmähliche Verfall des deutschen Wirtschaftswunders. Die Wahl eines anekdotischen Familienromans erweist sich als richtig: So wird der Stoff prägnanter und zugleich unterhaltsamer.

Das Erbe der Kriegsenkel von Matthias Lohre
www.randomhouse.de

„Die Elterngeneration krempelte die Ärmel auf, um die äußeren Trümmer zu beseitigen. Die seelischen Trümmer zu beseitigen – das ist Aufgabe der Enkel.“

Dieses Zitat vom Kriegsenkel-Kongress in Göttingen umreißt klar die Aufgabe: Nicht verdrängen, sondern sich in den (Gegen-)Wind stellen, zuhören und kraftvoll bewältigen. Doch das geht nicht ohne Hilfe der Alten, ohne  Unterstützung derer, die nur selten ihr Schweigen über erlebtes Grauen brechen und ihre Traumata stumm weitergeben. Matthias Lohre (Jahrgang 1976) ist Politikjournalist in Berlin. Sein Ansatz: Nicht verarbeitete Traumata der Großelterngeneration erzeugen bei Kriegsenkeln mangelndes Selbstwertgefühl, Schuldgefühle und diffuse Ängste. Sie leiden unter einer Katastrophe, die sie selbst nicht erlebt haben. Lohre beginnt seine Nachforschungen nach dem Tod seines Vaters Ende 2012, geht die Wege seiner Eltern (Jahrgänge 1931 und 1937) nach, spricht mit noch lebenden Verwandten und zieht Therapeuten hinzu. Er muss „mitten hinein springen ins tiefe Dunkle, was uns trennt.“ Die mögliche Lösung ist Versöhnung.

Videointerview mit dem Autor hier
Lesungstipp: Matthias Lohre liest am Freitag, 22. April 2016, ab 19:00 zum „Elbe Day“ in der Stadtbibliothek Torgau.

www.kriegsenkel.de

Der Epilog ist fertig

Einer der vielen bedenkenswerten Sätze:

„… ein großes Danke an die Familie Plaisier für ein ehrliches Antikriegs- und Antifanatismusbuch, welches aber seine Stärke nicht im Heroischen, sondern in entwaffnender Ehrlichkeit herüberbringt.“

Danke. Erst nach und nach erkenne ich, was hinter einer Biografie Großes stecken kann.

Alles begann 2006 und ist doch wie gestern

„Als mein Vater im März 2006 in Hannover starb, lebte ich gerade einige Monate in Leipzig. Wenige Tage später fuhr ich in meine Geburtsstadt. Ich wusste, es würde eine unangenehme Reise werden. Die zweite Frau meines Vaters hatte ich nie akzeptiert. Sie gehörte für mich nicht zur Familie.

Ich wusste von einem gemeinsamen Testament. So galt es für mich nur, Erinnerungsstücke zu sichern. Und dann war da dieses Manuskript. Ich hatte nichts davon gewusst, mein Vater hatte es nie erwähnt. Vielleicht wollte er mir so erzählen, was in den Jahren vor seinem Tod ungesagt geblieben war. Ich nahm den Text mit, ohne große Worte. Ich sah ihn viele Jahre nicht mehr an. Mit einem Psychologen arbeitete ich die Beziehung zu meinem Vater auf.

2013 entschloss ich mich, ohne es zuvor wieder geöffnet zu haben, zu einer Bearbeitung. Was ich dann las, war wie ein Faustschlag…“

Rezensionsreihe Israel zur Leipziger Buchmesse 2015, Teil 1: Agnes Christofferson, Elsas Stern. Oder: Shoah-Schatten in Manhattan.

Auschwitz, Holocaust, bestialischer Völkermord, traumatisierte Überlebende und selbstvergessene Verbrecher, die sich in einem neuen Leben einzurichten versuchen… das ist alles in allem extrem harter Stoff. Wer sich diesem Thema als Autor stellt, verdient zunächst einmal großen Respekt, denn die Fallhöhe kann hier sehr hoch sein. Die gebürtige Polin Agnes Christofferson hat sich der Herausforderung gestellt. Und – abgesehen von wenigen Abstrichen – legt die Autorin mit ihrem Roman „Elsas Stern“ eine beeindruckende Geschichte vor: über miteinander verwobene Schicksale und die grenzenlose Grausamkeit, zu der Menschen fähig sind.

Quelle: www.acabus-verlag.de
Quelle: www.acabus-verlag.de

Die Handlung beginnt 1979 in New York. Elsa, Jüdin und Auschwitz-Überlebende, trifft sich mit ihrer Tochter Leni in einem italienischen Restaurant. Als ein älterer Mann die Gaststätte betritt, bricht Elsa offensichtlich geschockt zusammen. Im Krankenhaus kümmern sich Elsas Töchter Leni und Salome besorgt um ihre Mutter – diese benimmt sich allerdings zusehends immer seltsamer. Schließlich übergibt Salome das alte Tagebuch von Elsa an Leni. Und damit startet der zentrale Plot des Romans. Sie erfährt aus den Aufzeichnungen der Mutter nicht nur, wie ihre ganze Familie von den Nazis fast ausgelöscht wurde und dass Elsa in Auschwitz als Opfer brutalster Menschenexperimente leiden musste – auch ihre Schwester Salome ist nicht wirklich mit ihr verwandt… und es gibt einen skrupellosen Arzt namens Erich Hauser, der mit dem Schicksal ihrer Mutter auf verschiedenste Weise verknüpft ist.

Klar, der unbekannte Mann in der Pizzeria ist natürlich dieser grausame KZ-Arzt. Und die, übrigens recht knappe und literarisch wie dramaturgisch eher mittelmäßige, Rahmenhandlung, dreht sich um die Enttarnung des Mannes, der im New York der späten 1970er Jahre als Kinderarzt Peter Miller praktiziert. Zu großer Form läuft der Roman bei den Tagebuch-Sequenzen aus der Perspektive von Elsa auf. Dieser Strang macht rund 80 Prozent des Buches aus. Und keine Seite davon ist zu viel. Von der ersten Begegnung und sogar einem Flirt Elsas mit dem jungen „Erik“ Hauser in der Obhut eines versteckten Landsitzes bis zu den fürchterlichsten Beschreibungen des KZ-Alltags und schmerzhaft detaillierten Schilderungen medizinischer „Experimente“ des perversen Arztes in Auschwitz schont die Sprache dieses Buches den Leser nicht. Die realistische Härte der Prosa ist schlichtweg gewaltig. Und die Ambivalenz der Charaktere , ob SS-Männer, Kapos oder KZ-Insassen, gnadenlos in der Schilderung.

Autorin Agnes Christofferson, geboren 1976 in Polen und seit ihrem 12. Lebensjahr in Deutschland lebend, hat mit „Elsas Stern“ ein tatsächlich ergreifendes Buch geschrieben. Die Geschichte ist rein fiktiv – die Szenerie nicht. Und wer glaubt, zum Holocaust sei eigentlich alles schon gesagt, kann sich hier beim Lesen getrost selber fragen: Ist so ein Verbrechen je vergessen – oder heute wieder möglich? In diesem Buch findet der Leser die Antwort zwar nicht, aber es wird nach der Lektüre womöglich schwer sein, nicht danach zu suchen.

Agnes Christofferson, Elsas Stern
Acabus Verlag, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Elsas-Stern-Ein-Holocaust-Drama-9783862823109
Autor: Harald Wurst | ph1.de

Rezension: Richard Surface, Das Vermächtnis – schlechte Thriller-Kost

Eigentlich hat „Das Vermächtnis“, der Erstling des US-amerikanischen Autors Richard Surface, alles, was einen guten Thriller ausmacht: Einen vielversprechenden Einstieg mit einem mysteriösen Mord und einen halbwegs sympathischen Protagonisten, der den Behörden nicht traut und den Mord an seinem Großvater selbst lösen will. Dazu kommen komplexe Handlungsstränge, die sich um verschollene Kunstwerke ranken. Doch nach einem gelungenen Beginn offenbaren sich zunehmend handwerkliche Schwächen, die „Das Vermächtnis“ zu einem Roman machen, den auch hartgesottene Fans des Genres nicht wirklich gelesen haben müssen.

Die Handlung

Gabriel träumt davon, eines Tages Brücken zu konstruieren. Da er an Dyslexie leidet, scheitert sein Ingenieursstudium. Unvermittelt wird er in die Welt des internationalen Kunst-Schwarzmarktes gestoßen: Sein Großvater wird brutal ermordet und hinterlässt seinem Enkel nebst einem Bungalow in Lech eine mysteriöse Statue, die er jedoch erst finden muss – zusammen mit weiteren verschollenen Kunstwerken. Diese sollten einem illustren Kreis von millionenschweren Sammlern gehören, deren Glanzstücke eben verschollene Kunstwerke darstellen.

Obwohl Schauplätze als auch Charaktere etwas platt gezeichnet sind, gelingt es Richard Surface im ersten Teil des Romans, Spannung aufzubauen. Von der literarischen Qualität eines Dan Brown oder anderen Verschwörungstheoretikern trennen Surface zwar noch Welten. Doch zumindest ist der Leser so gefesselt, dass er erfahren möchte, wie die Geschichte endet.

Ein Bruch in der Handlung

Das ändert sich etwa ab Kapitel 25: Surface versucht, die zahlreichen Handlungsstränge miteinander zu verflechten und präsentiert eine rasante Wendung nach der anderen, wobei er sich auf ein früheres Detail-Ereignis bezieht. Das mag stilistisch durchaus beabsichtigt gewesen sein, wirkt aber auf den Leser eher so, als habe der Autor beim Schreiben gedacht: „So komm ich nicht zum Schluss, na, dann probier ich’s mal so!“ Das ist umso auffälliger, als sich die Taktung der Wendungen zum Schluss hin massiv steigert.

Negativ fällt außerdem auf, dass Richard Surface nicht allzu viel Zeit auf die Recherche aufgewendet zu haben scheint und einige Szenen extrem unglaubhaft schildert. Da ist zum Beispiel ein Profikiller, der Gabriel auf einem Platz in Florenz mit einem Gewehr ins Jenseits befördern möchte, jedoch nicht trifft. Gabriel hingegen benötigt als ungeübter Schütze mit einer Handfeuerwaffe nur wenige Schüsse, um den Killer zu verwunden.

Platte Beschreibungen fragwürdig übersetzt

Surface gelingt es weder, den handelnden Personen Tiefe zu geben, noch die Schauplätze lebendig werden zu lassen. Ersteres ist schade, muss aber nicht negativ gewertet werden, weil das der Leser in diesem Genre nicht zwangsläufig erwartet. Schwerer wiegt, dass die Beschreibungen der verschollenen Kunstwerke und der Schauplätze äußerst dürftig ausfallen und bestenfalls schwammige Bilder im Kopf des Lesers erzeugen. In diesem Zusammenhang fällt auch die allenfalls oberflächliche Recherche auf. So stuft Surface den Nachlass von Gabriels Großvater bis auf die erwähnte Statue als eher dürftig ein. Teil des Vermächtnisses ist jedoch ein Bungalow in Lech. Nachdem es sich bei der 1.600-Einwohner-Gemeinde um einen der mondänsten Wintersportorte im gesamten Alpenraum handelt, dürfte allein schon diese Immobilie einen sechs- bis siebenstelligen Wert haben.

Die deutschsprachige Übersetzung dürfte die Qualität des Buches noch zusätzlich mindern. Es sind vor allem Kleinigkeiten, die hier sauer aufstoßen. Beispielsweise nennt Zoë Beck die Florentiner konsequent Florenzer und lässt einen Polizeibeamten im Rahmen einer offiziellen Vernehmung von der ermordeten Haushälterin als Christel sprechen. Dass ein Polizeibeamter in offizieller Funktion grundsätzlich den Taufnamen (im Falle Christel also Christine oder Christiane) benutzt, sollte eine preisgekrönte Krimiautorin wissen.

Als Fazit bleibt:

Schade um die gute Idee. Richard Surface hat zweifellos das Zeug, um gute Unterhaltungsliteratur zu schreiben. Vor weiteren Veröffentlichungen könnte aber die Teilnahme an einem Kurs in Creative Writing nicht schaden. Denn dass „Das Vermächtnis“ eher nicht empfehlenswert ist, liegt in erster Linie am unrunden Spannungsbogen und dem fehlenden Tiefgang.

Richard Surface, Das Vermächtnis
Acabus Verlag, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Das-Vermaechtnis-The-Legacy-9783862822263
Autor: Harry Pfliegl