André Herzberg bei Lehmanns. Oder: Was passiert, wenn Autoren auch noch singen können

Endlich wieder Dienstag, endlich wieder Leseabend bei Lehmanns. Auf diesen Abend hatte ich mich schon sehr gefreut, denn bereits einige Wochen zuvor hörte ich in vielen Gesprächen, dass André Herzberg auf der Bühne ein wahres Erlebnis sei – als Musiker wie Autor.

Bereits eine halbe Stunde vor Beginn der Veranstaltung, während Kunden noch plaudernd durch die Bücherreihen schlendern, keimt in mir das Gefühl: Dieser Abend wird anders. Der Tisch auf der kleinen Bühne ist beiseitegeschoben worden und André Herzberg ist mit der Technik beschäftigt. Seine Gitarre will gestimmt und korrekt an den Verstärker angeschlossen sein. Routine für den Musiker, den die meisten Gäste an diesem Abend vor allem als Sänger der Berliner Rockband Pankow kennen. Nur ich nicht. Ich musste das in Vorbereitung auf die Lesung recherchieren, weil ich einfach zu jung bin und meine Mutter eben mehr Interesse für Marianne Rosenberg an den Tag gelegt hatte.

Lesung André Herzberg bei Lehmanns 09. Juni 2015. Foto Detlef M. Plaisier (55)André Herzberg steht selbstverständlich nicht das erste Mal in Leipzig auf einer Bühne. Erst vor wenigen Wochen hatte er sein Buch „Alle Nähe fern“ im Rahmen der Buchmesse präsentiert und auch an diesem Dienstag wird er nach Ladenschluss von den drei Generationen einer Familie lesen, die ihren Platz und ihre Zugehörigkeit suchen und sich dabei immer mehr voneinander entfernen. „Je näher das Buch in die Gegenwart kommt, umso autobiographischer wird es“, lächelt Herzberg gleich zu Beginn der Lesung die meist gestellte Frage souverän weg.

Vom Kaiserreich bis heute zieht sich der Roman, folgt der männlichen Linie vom Ablegen des jüdischen Glaubens durch den Vater zu Gunsten des Kommunismus bis zur Wiederentdeckung durch den Sohn. Die Parallelen zwischen Buch und Herzbergs eigener Familiengeschichte sind offensichtlich. Auch der Lesung verleiht er diese Persönlichkeit, denn zu Beginn singt er mit seiner klaren und doch etwas rauchigen Stimme ein Lied über das Märchen der Freiheit, spricht frei mit dem Publikum. Er gibt jedem im Raum das Gefühl, man sitze mit ihm bei einem Bier in einer urigen Kneipe. In seinem sympathischen Berliner Dialekt erzählt Herzberg, wie Heinrich Zimmermann aus dem ersten Weltkrieg nach Hause kommt oder wie dessen Enkel Jakob aus einem wirren Traum seiner Beschneidung erwacht, die sein kommunistischer Vater jedoch nie zuließ. Zwischendurch greift er wieder zur Gitarre, steht beim Applaus auf, gibt gern den Rufen nach Zugabe nach.

www.ullsteinbuchverlage.de
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Er plane das auch ein, erzählt Herzberg, je nachdem wie das Publikum in Stimmung sei und auch, um die Aufmerksamkeit der Zuhörer rund um die ernsten Themen wie Nationalsozialismus, Nachkriegszeit und Existenzangst aufrecht zu halten. Herzberg sucht für jeden neuen Auftritt die passenden Passagen im Roman und Lieder aus. Jeder Auftritt ist anders. Man kann ihm förmlich dabei zusehen, wie er zwischen der Rolle des Autors und der des Musikers hin- und herspringt, in seiner Körperhaltung, seiner Stimme. Er liest, wie es nur wenige Autoren können, und gerade das hat dem Abend eine ganz besondere Note verliehen.

Ich habe André Herzberg sowohl als Autor als auch als Musiker kennen lernen dürfen. Aber zwei Dinge sind in jeder seiner Rollen gleich geblieben: Sein Hut und seine roten Turnschuhe – er möchte ja auch wiedererkannt werden. Mein Buch signiert André Herzberg schlicht mit dem Vornamen. Ein Überbleibsel aus der Musikerzeit, sagt er. Es ginge einfach schneller.

Autorin Jasmin Beer hat inzwischen einen festen Platz bei den Leseabenden von Lehmanns. Eine Rezension zum Buch gibt es hier. Rezensentin Carina Tietz schreibt: „André Herzberg baut mit nur wenigen, aber intensiven Worten eine Dramatik auf, die mich fesselt.“

Alle Fotos: Detlef M. Plaisier

Hallo, André Herzberg: „Ich gehe als Jude dahin, wo ich Leute kenne“

André Herzberg Leipziger Buchmesse 11. März 2015. Foto Detlef M. Plaisier (11)Manchmal wird mir bewusst, dass ich kein Kind des Ostens bin. Viele der Zuhörer um mich herum kennen André Herzberg als Frontmann der Band „Pankow“, haben Platten zum Signieren mitgebracht. Ich bekomme heute einen ersten Eindruck von André Herzberg als Autor und Mensch. Man hatte mich vorgewarnt: Achte auf seinen Hut. Ohne ihn ist der Herzberg nackt. Und richtig, der schwarze Hut, ständiger Begleiter auf Konzerten und Lesungen, ist wieder dabei.

André Herzberg stellt sein Buch „Alle Nähe fern“ vor. Unschwer erkennbar ist es ein autobiographischer Roman über die Familie Herzberg, die im Text Zimmermann heißt. André Herzberg verknüpft einhundert Jahre deutsche Geschichte mit drei ganz unterschiedlich geprägten Generationen der eigenen Familie. Er beobachtet, erzählt, plaudert, träumt, wertet und geht hart ins Gericht mit dem Verrat der Väter an der Generation der Söhne, der sich vom Kaiserreich bis ins vereinigte Deutschland zieht.

Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de
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Über dieses Gift zu schreiben, bekennt André Herzberg im Gespräch, habe ihm ein Stück „Leichtigkeit und Abstand“ verschafft. Ein schwieriger Spagat, denn gleichzeitig sollte das Buch unterhaltsam sein und nach dem Wunsch des Verlages ein Jahrhundert auf 270 Seiten pressen. Herzberg wählte nach einigen Versuchen Präsens als durchgängige Zeitform. „Ich habe immer Angst, Leute zu langweilen. Deswegen fasse ich mich beim Schreiben kurz, und bei der Musik mache ich Krach“, kokettiert er.

Gibt es einen neuen Antisemitismus in Deutschland? André Herzberg zögert: „Ich weiß nicht, ob der so neu ist oder ob er nur ein anderes Gesicht hat. Würde ich Kinder religiös erziehen, überlegte ich schon, wo ich sie hingehen lasse und wie ich sie schützen kann.“ Den Schabbat begeht André Herzberg zuhause in der Familie, und wenn er sich zu seiner Religion bekennt und ausgeht, wählt er vertraute Pfade und Menschen. „Wir religiösen DDR-Juden sind in der Gemeinde nur noch eine Handvoll Leute“, sagt er nachdenklich. Über sein Jüdischsein konnte André Herzberg bis heute nicht mit seinem Vater sprechen…

Foto André Herzberg: Detlef M. Plaisier