Rezensieren ist so einfach: Lesen. Wirken lassen. Strukturieren und schreiben. Bis jemand kommt, der diesen Ablauf in Frage stellt, der mich gar zweifeln lässt, in welcher Realität ich mich befinde, ähnlich wie auf einem Holodeck. Geschafft hat dies auf der Frankfurter Buchmesse der Autor Marc Buhl. Dabei sind Titel und Story seines Buches zunächst Nebensache.
Eines ist sicher: Der Autor ist real, sitzt in Fleisch und Blut vor mir. Und auch seine angeblich bisher veröffentlichten fünf Romane, davon die letzten vier bei Eichborn, sind nachprüfbar. Für Kenner: Ich fand „Das Billardzimmer“ sehr lesenswert, auch wenn die FAZ-Kritik den Text nahe politischem Kitsch ansiedelte. Nun promotet Marc Buhl seinen Thriller „Die Auslöschung der Mary Shelley“ und hinterlässt Verwirrung. Nicht wegen des Textes, der existiert tatsächlich und ist nach Appetithappen aus den drei ersten Kapiteln auch handwerklich anständig gestrickt. Und genau da liegt der Stolperstein: Wer hat ihn geschrieben? Ins Spiel kommt eine Schreibsoftware namens iWright. Marc Buhl und sein Verleger Uwe Wilhelm vom Berliner eBook-Startup Blink Books deuten an, die Story rund um die bekannte Frankenstein-Geschichte, angesiedelt in der Gegenwart mit NSA, dem Monster Victor und reichlich Blut, könnte maschinell erstellt worden sein. Könnte. Es bleibt der Mantel des Geheimnisses.
Nun gut, dann schreiben jetzt eben auch Computer schon Bücher. War ja irgendwie zu erwarten. Soll ich mich darüber aufregen? Andere tun es. Im Netz bricht ein Sturm der Entrüstung los ob des Geschäftsmodells von iWright: Aushebelung des Urheberrechts und Anstiftung zu Straftaten stehen im Raum, selbst der Tod von Literatur, Autoren und Büchern wird vorhergesagt. Eine „Sektion Buchmesse Frankfurt“ von Anonymus protestiert mit Flugblättern vor dem Stand und verfolgt Marc Buhl in den Frankfurter Straßen, so ein Facebook-Posting. Ich lese nach, wie einfach iWright Autoren zu potentiellem Erfolg verhelfen will, und stimme zu: Empörend. Ich lasse mich vereinnahmen.
Dann kommt der Virenschleuderpreis. Ich will nachlesen, wer es von der Shortlist aufs Treppchen geschafft hat. Ach, da taucht ja unter den Nominierten der Kategorie „Ansteckendste Idee“ auch iWright auf. Ganz hinten zwar, auf Platz 29 von 30 mit nur drei Stimmen, aber warum? 15 Minuten Recherche, und es ist klar: Ich bin der Trottel. Ich bin einem genialen Konzept von Guerilla-Marketing voll auf den Leim gegangen. Glückwunsch.
Das Zauberwort ist „Transmedia Storytelling“. Heißt: Die Story wird über den Roman selber hinaus weiter erzählt, bevorzugt auf Social Media Kanälen wie Instagram, Twitter, WhatsApp, YouTube und anderen, auf denen junge Leser abgeholt werden können. „Hierzu benutzen wir Fake-Accounts, erfinden Figuren, Firmen und Konflikte, die im Roman angelegt sind…“. Die vermeintlich empörten Verteidiger des Urheberrechts sind genauso Teil der Guerilla-Kampagne wie iWright selbst und die Anonymus-Aktivistinnen. Auch das „Aktionsbündnis Stop iWright“ wird von Blink Books lanciert (erkennbar an den übereinstimmenden Adressen im Impressum).
„Im Zentrum steht immer die Geschichte“, betont Uwe Wilhelm. „Unser Konzept bringt den second und third Screen in die Literatur. Es entsteht ein interaktiver Livingroom, den jeder nach seinen Vorlieben nutzen kann. “ Blink Books kündigt sechs bis acht Publikationen pro Jahr an. „Auf keinen Fall“, so Uwe Wilhelm, „wollen wir Self Publisher-Autoren unter unserem Dach sammeln.“ Mit Marc Buhl habe man einen Autor gefunden, der das Konzept unterstützt und mit entwickelt.
Wir werden Mary Shelley und Victor also sehr bald nach der Buchmesse im Netz begegnen, wo sie die Geschichte von NSA und Quantencomputer weiter erzählen und auf den dritten Band neugierig machen. Als nächste Veröffentlichungen bei Blink Books sind „Jimmy & Aladina“ von Ralph Caspers (voraussichtlich im Dezember 2014) und „Svynx“ als Coproduktion von Gerlinde Unverzagt und Uwe Wilhelm (Februar 2015) angekündigt.
Ich bin jetzt ein Stück erleichtert. Morgen schreibe ich an iWright und frage an, ob meine Familienbiographie dort umgesetzt werden kann. 50 Euro für die Basisversion mit bis zu drei Rewrites ist doch ein faires Angebot…