Der irisch-deutsche Autor Hugo Hamilton wurde 1953 in Dublin geboren. Hamilton feierte als Autor international Erfolge und arbeitet inzwischen auch als Dramatiker.
„Jede einzelne Minute“ erzählt die Geschichte einer Reise von Úna und Liam, zwei irischen Schriftstellern. Ùna ist schwer krank und wünscht sich kurz vor ihrem Tod mit ihrem jüngeren Freund Liam, nach Berlin zu fahren. Die Geschichte ist angelehnt an eine Reise, die der Autor Hugo Hamilton 2008 mit der irischen Schriftstellerin Nuala O’Faolain unternahm, die damals an Krebs erkrankt war.
Der Leser begleitet Ùna und Liam auf ihrem Sightseeing Trip durch Berlin. Dabei geht es weniger um ihre Erlebnisse in der Stadt, sondern vielmehr um ihre Lebensgeschichten, die sie sich einander im Laufe der Tage erzählen. Hugo Hamilton schafft es, diese Anekdoten kurzweilig zu gestalten. Die Sätze stecken voller Weisheit und ohne jeden belehrenden Zeigefinger. Hamilton verpackt die Anekdoten vielmehr in poetische Sätze und Dialoge. Auch die Freundschaft der beiden Protagonisten wird berührend erzählt. Ùna ist eine sehr bestimmte alte Dame, um die sich Liam sehr fürsorglich kümmert und sie gleichzeitig bewundert. Eine einprägsame Szene spielt sich im Taxi ab, in dem Liam Ùnas Zehnnägel schneidet. Die beiden Protagonisten schätzen einander als Schriftsteller und sind genau deswegen gnadenlos ehrlich zueinander. Sehr respektvoll kommentieren sie das Leben des anderen und teilen ihre Gedanken über Ùnas baldigen Tod.
Die einzige Schwachstelle des Buches ist die Rolle von Berlin. Die Stadt wirkt im Buch auf mich wie eine lieblose Kulisse, sehr oberflächlich dargestellt. Das will so gar nicht zur sonstigen Tiefe der Geschichte passen. Sehr passend wiederum ist das einfühlsame Nachwort von Elke Heidenreich. Sie beleuchtet noch einmal die Beziehung zwischen Hugo Hamilton und Nuala O’Faolain als Hintergrund des Romans, was mir als Leserin sehr geholfen hat, das Buch besser zu verstehen.
Ein sehr berührendes Buch voll Weisheit und menschlicher Wärme.
Hugo Hamilton, Jede einzelne Minute
In der Übersetzung von Henning Ahrens
Luchterhand, 2014 Autorin der Rezension: Franziska Schmidt
Buchhandel lebt von der Liebe zum Buch und vom unermüdlichen Engagement Einzelner. Und so darf es auch mal gesagt werden, dass sich Lehmanns Media durch die Leselust und die Kontakte von Buchhändlerin Franka Schloddarick zum Indie-Flagschiff der Leipziger Buchhandlungen gemausert hat. Das findet Ausdruck durch Extratische, engagierte Beratung und im Veranstaltungsprogramm. Jeden letzten Dienstag im Monat heißt es in der Grimmaischen Straße: Vorhang auf für Verlagsperlen aus dem Indiebereich! Zur Programm-Sneak Preview im Mai hatte Verleger Rainer Höltschl vom Leipziger Open House Verlag die Hausautorin Nicola Nürnberger mitgebracht. Blogautoren Jasmin Beer und Detlef Plaisier waren dabei.
Ein österreichischer Literaturwissenschaftler und eine niedersächsische Philosophin mit Visionen in Leipzig – das war vor dreieinhalb Jahren der Startschuss von Rainer Höltschl und Christiane Lang zu einem ungewöhnlichen, mutigen Verlagsprojekt. Schon die Namenswahl setzte Zeichen: „Open House“ sollte in eine verlegerische Lücke stoßen und in der Messestadt die Nähe zu Buchmesse, zum Deutschen Literaturinstitut DLL sowie zu den Hochschulen HTWK und HGB nutzen.
Bei Lehmanns plauderte Rainer Höltschl offen aus dem Nähkästchen und skizzierte die schwierige Anfangszeit, die Liebe zur Gestaltung und die determinierenden unternehmerischen Komponenten: Besaß das erste Buch aus dem Open House Verlag noch einen aufwendig gestalteten Schutzumschlag, Fadenbindung und eine eigene Typographie, so wird bei den Neuerscheinungen des Herbstprogrammes auf einen Schutzumschlag verzichtet – schließlich nehme den ja auch jeder ab, damit der Umschlag unversehrt bliebe (verstohlener Seitenblick beider Autoren: schuldig im Sinne der Anklage).
Dafür ist das Programm inzwischen breiter geworden. Vor zwei Jahren kündigten die Verleger drei Reihen an: „Reihe 1“ mit moderner und junger Literatur, dazu „Backup“ als Sammelbecken vergessener und verkannter Klassiker und „Seismograph“ für Sachbücher. Der Vorsatz, im Programm der „Reihe 1“ ausschließlich deutsche Schriftsteller sowie Übersetzungen aus dem Englischen und Norwegischen zu bündeln, bröckelt aktuell: Es laufen vielversprechende Gespräche mit einem Autor aus dem ehemaligen Jugoslawien. Da ist ein handfester Schuss Politik zu erwarten, was Verleger Höltschl durchaus begrüßt.
„Autoren wollen einen guten Vertrieb, jeder Vertrieb will gute Autoren“. Rainer Höltschl ist stolz, dass Open House den Sprung in den exklusiven Zirkel geschafft hat. Wie, das bleibt ebenso ein Geheimnis wie die genaue Auflagenhöhe der Publikationen. Bleibt die Frage, wie Open House neue Autoren rekrutiert. Talente sind schon früh umkämpft: Längst schöpfen auch Suhrkamp und Co. bei Veranstaltungen des DLL mögliche Hausautoren ab. Höltschl bleibt dran, geht zu Lesungen ins DLL und in Hausprojekte. Kleine Enttäuschung: Im gestalterischen Bereich ist die erhoffte Zusammenarbeit mit der HGB noch in den Kinderschuhen.
Manchmal hilft einfach auch der Zufall (oder für den, der nicht daran glaubt, die Vorsehung). So trafen sich auch Höltschl und der Hauptakt der Mai-Präsentation bei Lehmanns. Bei einer Preisverleihung trug Nicola Nürnberger einen Teil ihres späteren Romans „Westschrippe“ vor. Höltschl war sofort begeistert von diesem Blick auf die BRD vor der Wende. So viele Werke gab es schon über die DDR, aber kaum Berichte über den Westen in dieser Zeit. Nun liest Nicola Nürnberger aus ihrem zweiten Roman unter dem Titel „Berlin wird Festland“, in dem es die junge Protagonistin Christine Anfang der 1990er Jahre – ähnlich wie die Autorin selbst – nach dem Abitur von der hessischen Provinz nach Berlin verschlägt. Sie steht verloren in einer Großstadt, deren zwei Teile noch immer damit beschäftigt sind, sich zusammenzufinden. Natürlich gibt es eine kleine Liebesgeschichte, um die Handlung in Gang zu halten, sowie eine große Portion Berlinhype mit jeder Menge Anspielungen auf Kneipenlandschaft und teilweise noch heute touristenferne Orte. Die ausgesuchten Lesehappen vermitteln den Eindruck einer Jonglage aus Berliner Stereotypen und Spezifika wie den Durchsteckschlüssel, deren Beschreibungen sich vor allem auf Adjektive stützen.
Der Verlag hat Nicole Nürnberger in ihrem Schreibprozess durch ein intensives Lektorat unterstützt. Auch hier lobt Verleger Rainer Höltschl den leicht politischen Einschlag, denn im Verlagskonzept ist dies ebenso eine Facette wie der besondere Blick auf die Genderfrage. Frauen und Männer, so Höltschl, sollen gleichermaßen zu Wort kommen.
Open House hat sich viel vorgenommen: Aufwendig gestaltete Klassiker, neue deutsche und internationale Literatur, dazu Sachbücher, die sich mit Kunst, Medien und Zeitgeschichte auseinandersetzen sollen, und das alles am besten noch mit einer leicht politischen Note von Gender bis Ost-West-Problematik. Für einen jungen Verlag große Ansprüche. Höltschl komprimiert es ganz einfach: Schöne Bücher, die man auch liest.
Die Leipziger Buchmesse schwappt bis in die Hauptstadt. Die B.Z. hat Berliner Prominente besucht und sie nach ihren Leseorten und der Lieblingslektüre befragt. Entstanden ist ein spannender Mix von Comic über Thriller bis Autobiografie. Besonders schön: Das Foto eines entspannten Hellmuth Karasek ausgestreckt auf seinem Lesesofa.