Rezension: Jens Steiner, Carambole – ein Roman in zwölf Runden

Der Autor wurde 1975 in Zürich geboren und studierte Germanistik, Philosophie und Vergleichende Literaturwissenschaft. Der vorliegende Roman stand 2013 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises und erhielt ebenfalls 2013 den Schweizer Buchpreis.

Langeweile und Resignation
Jens Steiner schildert in Momentaufnahmen das Geschehen weniger Tage aus der Sicht mehrerer Personen einer Dorfgemeinschaft. Das erste Drittel des Buches atmet diese Ereignislosigkeit, die sich auch beim Lesen als Anflug von Langeweile bemerkbar macht, am deutlichsten. Minutiöse Schilderungen von ereignislosen Tagesabläufen, jeder beobachtet jeden, niemand findet einen Ausweg aus der Lethargie und seinem selbstverschuldeten Gefängnis – diese Monotonie überträgt sich auf den Leser, findet den Weg von den Buchseiten in das Hirn des Rezipienten und wird zu lähmender Langeweile. Die Unfähigkeit der Figuren, miteinander zu kommunizieren, könnte als ein durchgehender Topos bezeichnet werden. Manche Dialoge sind aberwitzig und völlig sinnfrei.

Quelle: www.doerlemann.com
Quelle: www.doerlemann.com

Die Figuren
Da sind drei pubertierende Jungen, die apathisch der bevorstehenden Sommerferien harren. In denen wieder nichts geschehen wird. Igor, der sich um seine, durch einen Schlaganfall der Sprache beraubten Mutter kümmern muss, Manu, der die Leidenschaft seiner Mutter für die Züchtung von Orchideenmantiden, einer Heuschreckenart, teilt und Fred, der für die unerreichbare Renate schwärmt.

Da sind Ehepaare, die einander nichts mehr zu sagen haben. Männer, die sich einmal wöchentlich zum Heulen in ihren Schuppen zurückziehen oder Gruben im Garten ausheben, deren Sinn sich weder ihnen selbst noch dem Leser erschließt. Ein Vater, der nicht verhindern kann, dass seine Frau mit dem siebenjährigen Sohn einfach wegzieht.

Da ist eine Mutter, die nicht mehr an ihre pubertierende Tochter herankommt. Die wiederum spukt in den heimlichen Träume von drei Schulbuben. Einer von ihnen wird bei einer Flucht Ohrenzeuge der Vergewaltigung der Angebeteten, kann das Geschehen aber nicht einordnen, weil er schlicht unerfahren ist.

Da sind zwei Brüder, die nicht mehr miteinander reden, die ihre Eltern durch einen Verkehrsunfall verloren haben und deren Onkel mit ihrer Schwester und dem Erbe auf und davon ist.

Und da ist der Geschichtenerzähler Schorsch, von dem niemand so recht weiß, woher er gekommen ist und den niemand aus dem Dorf ernst nimmt. Schorsch, der von sich selbst sagt: „Ich war schon damals längst der Normalität abhandengekommen.“ Über das Dorf sagt Schorsch, und das klingt wie eine Zusammenfassung der erzählten Geschichten: „Dies ist kein Dorf. Sondern eine Prärie….Wir sind alle längst schon weg. Uns gibt es gar nicht mehr.“

Eigentlich alles ganz besondere und tragische Schicksale, die Jens Steiner jedoch quasi nebenbei erwähnt und denen er mit seiner Art, sie zu behandeln, nicht gestattet, Spannung aufkommen zu lassen. Auch das ist eine Kunst. Eine, die ich nicht mag.

Am besten gelungen waren für mich die Szenen, die aus der Sicht einer der drei Jungen erzählt wurden. Da hat der Autor mit viel Einfühlungsvermögen und poetischer Sprache die Unsicherheit und Zerrissenheit in der Pubertät wunderbar nahebringen können. Aus dieser Perspektive hätte ich gern einen ganzen Roman gelesen.

Form und Sprache
Manche Kapitel erinnern eher an Miniaturen als an Teile eines Romans. Einige Geschichten sind dabei durch die handelnden Personen untereinander verbunden. Die Perspektive der zwölf „Runden“ wechselt zwischen dem Ich-Erzähler und der dritten Person. Die einzelnen Abschnitte fügen sich für mich nicht zu einem Ganzen zusammen. Es sind lediglich Augenblicksbeschreibungen erstarrter oder gescheiterter Lebensentwürfe ohne Ausweg, ohne Rettung. Als ich bereit war, einer der Figuren zu folgen, stand dort bereits die nächste Schachfigur. So bleibt durch den abrupten Wechsel nur kühle Distanz.

Die Sprache von Jens Steiner ist bildhaft, poetisch und direkt. Manchmal schießt er mit seinen Bildern übers Ziel hinaus und wird unfreiwillig komisch. „Wütend warf die Sonne ihr Licht von sich, und das Dorf ließ einzelne Geräusche hören, spitz wie ein Fingerknacken…“ (S. 78)

Mein Fazit
So war für mich das Leseerlebnis ambivalent. Teilweise langatmige detailreiche Zustandsbeschreibungen behinderten oft die Lust am Weiterlesen. Den großen Bogen, in dem alle Personen zu einem Ganzen zusammengefügt werden, konnte ich nicht erkennen. Zu einer eindeutigen Empfehlung des Buches von Jens Steiner kann ich mich deshalb nicht durchringen. Wer gern literarische Experimente begleitet, dem wird dieser Roman sicher gefallen.

Jens Steiner, Carambole
Dörlemann Verlag AG Zürich, 2013
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Carambole-9783908777922
Autorin: Cornelia Lotter
www.autorin-cornelia-lotter.de