Rezensionsreihe Indonesien zur Frankfurter Buchmesse 2015, Teil 2: Andrea Hirata, Der Träumer

Dass der amerikanische Traum selbst in den entlegensten Winkeln der Welt umsetzbar ist, zeigt der indonesische Autor Andrea Hirata im zweiten Teil seiner Autobiographie „Der Träumer“. Denn trotz aller Widerstände gelingt es ihm, eine gute schulische Ausbildung zu erhalten und im Ausland zu studieren. Selbst seine große Liebe aus Kindertagen scheint nicht unwiderbringlich verloren.

Der Autor
Andrea Hirata wurde auf der Insel Belitung, Indonesien, geboren, wo er auch heute lebt. An der University of Indonesia schloss er ein Wirtschaftsstudium ab. Mit einem EU-Stipendium setzte er seine Ausbildung in Paris und Sheffield fort. Sein Debüt „Die Regenbogentruppe“ (in 25 Sprachen übersetzt) machte ihn zum meistgelesenen Schriftsteller Indonesiens. Wie „Die Regenbogentruppe“ wurde auch „Der Träumer“ in Indonesien verfilmt.

Quelle: www.hanser-literaturverlage.de
Quelle: www.hanser-literaturverlage.de

Der Inhalt
Eigentlich wäre der kleine Ikal mit seinen zwölf Jahren alt genug, um zu arbeiten und seine Familie mit zu ernähren. Grundkenntnisse im Schreiben und Rechnen hat er ja auf der Regenbogenschule erworben. Doch die Arbeit im Zinnbergwerk, die sein verkrüppelter Vater Tag für Tag verrichtet, ist schlecht bezahlt, beschwerlich und bietet keine Perspektiven.

So darf Ikal mit seinem Cousin Arai, der seit dem Tod seiner Eltern in Ikals Familie lebt, die Oberschule in der Bezirkshauptstadt besuchen. Die beiden jungen Männer können sich jedoch nicht voll auf die Schule konzentrieren, sondern müssen für ihren Unterhalt schwer arbeiten. Trotzdem gelingt es ihnen, so gut abzuschließen, dass sie anschließend ein Studium in Jakarta beginnen können. Dank eines EU-Stipendiums können sie an der renommierten Sorbonne in Paris studieren. Seinen Abschluss macht Ikal, der sich für Wirtschaftswissenschaften entschieden hat, schließlich an der Sheffield Hallam University.

Nach der Rückkehr in die Heimat landet Ikal in einem tristen, von der Wirtschaftskrise gezeichneten Land. Statt eines Jobs, der seinen Fähigkeiten entspricht, arbeitet er im Kaffeehaus seines Onkels. Dieser verschwindet eines Tages und kehrt mit A Ling zurück, einer jungen Frau, in die sich Ikal schon als Schüler verliebt und die er immer wieder verzweifelt gesucht hatte.

Ein einfühlsamer Autor
Andrea Hirata erzählt die Geschichte seiner Jugend plastisch, sodass im Kopf des Lesers fast zwangsläufig die Bilder vom Leben und Alltag einfacher Menschen auf einer kleinen indonesischen Insel entstehen. Aus jeder Zeile spricht die Liebe zu Kultur, Land und Leuten, die sich auch über kleine Dinge im tristen Alltag freuen können – und sei es nur das Thema einer Radioübertragung. Die Hintergründe zu den gesellschaftlichen Umwälzungen in Indonesien während des ausgehenden 20. Jahrhunderts reißt er nur insoweit an, als diese Details wichtig für die Geschichte sind und diese abrunden.

Mein Fazit
Der Autor erzählt auf eine zum Teil naiv wirkende und dennoch brillante Art die Geschichte eines jungen Mannes, der an sich und seine (bescheidenen) Träume glaubt und dann auch verwirklicht. Obwohl Andrea Hirata auf eine unmittelbare Sozial- oder Gesellschaftskritik verzichtet, erhält „Der Träumer“ angesichts der aktuellen Diskussion um syrische Flüchtlinge auch eine politische Dimension

Andrea Hirata, Der Träumer
Carl Hanser Verlag, München 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Der-Traeumer-9783446247918Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezension: Karen Köhler, Wir haben Raketen geangelt

Karen Köhler wurde 1974 in Hamburg geboren. Sie arbeitet als Schauspielerin, Illustratorin, Performance-Künstlerin, Theaterautorin und Schriftstellerin. Für den vorliegenden Erzählband erhält die Autorin 2015 den Schubart-Literaturförderpreis der Stadt Aalen.

Emotion pur

Quelle: hanser-literaturverlage.de
Quelle: hanser-literaturverlage.de

Schon auf Seite 23 schossen mir die Tränen in die Augen, verwandelte sich das anfängliche Lachen über einen Satz des Rollstuhlfahrers („You will die for sure, Baby. We all will… My name ist Cesar, and I am happy to have met you before you died.“) in ein Weinen; derselbe Vorgang, den die Autorin zuvor schon bei ihrer krebskranken Protagonistin beschrieben hatte.

Und das haben wir: Geschichten von tiefer Weisheit, zum Weinen schön. Geschichten, bei denen sich ein Verlust im Nachhinein oft als Gewinn darstellt. Geschichten, die von überwältigender Menschlichkeit durchdrungen sind. Und bei denen ich mich frage: Wie kann ein so junger Mensch über die ewigen Grundthemen des Lebens, über Tod, Verlust, Vergänglichkeit und Liebe und über das, was trotz allem bleibt, so schreiben?

Hatte ich mich gerade eingerichtet in einer Geschichte, die so vor sich hinmäandert, da kam plötzlich und unerwartet der Punkt, da ich durch einen Satz wie die Raketen aus dem Titel hinauskatapultiert wurde aus der Normalität. Und das geschieht völlig en passant, ohne großes Aufhebens. Der Tod ist immer präsent. Und es sind die ganz einfachen Worte, die so sehr zu Herzen gehen. „Könntest du nicht sein wie Jesus und bald wieder auferstehen? An einem Freitag, ja, ich fänd das nur anständig.“ So schreibt Karen Köhler in der Erzählung, die dem Buch seinen Titel gab (S. 135).

Die stärkste Geschichte ist für mich gleich die erste im Band – „Il Comandante“, weil sie ohne jegliche Larmoyanz beschreibt, wie eine junge Frau mit ihrer Krebserkrankung umgeht. Diese Geschichte hätte Karen Köhler im letzten Jahr bei den „Tagen der deutschsprachigen Literatur“ in Klagenfurt lesen sollen. Da sie krankheitsbedingt verhindert war, wurde diese Geschichte am Klagenfurter Lendhafen gelesen und im Internet per Livestream übertragen. Der ergreifendste der neun Texte ist „Wild ist scheu“. Er erinnert mich an den Siegertext in Klagenfurt 2006 von Kathrin Passig „Sie befinden sich hier“, in der die einzelnen Stationen des Erfrierens beschrieben werden.

Ton und Form
Der Erzählton von Karen Köhler ist lakonisch; sie kommt mit wenigen Worten der Alltagssprache aus. Da ist nichts Gekünsteltes oder Affektiertes, sondern allein das Vertrauen auf die Stärke dessen, was zu erzählen ist. Und das ist einiges. Karen Köhler schreibt im Präsens in der Ich-Form, was es dem Leser ermöglicht, sehr nah an ihre Figuren heranzutreten, mit ihren Augen zu sehen, mit ihrem Herzen zu fühlen.

Mein Fazit
Diese neun Kurzgeschichten sind unbedingt empfehlenswert. Uneingeschränkt.

Am 26. März, 20:15 Uhr liest Karen Köhler bei Lehmanns Leipzig in der Grimmaischen Straße. Karten gibt es hier.

Karen Köhler, Wir haben Raketen geangelt
Carl Hanser Verlag, 2014
Link zur Autorin: http://www.karenkoehler.de/
Autorin der Rezension: Cornelia Lotter
www.autorin-cornelia-lotter.de