Rezension: Helle Helle, Färseninsel

Quelle: www.doerlemann.com
Quelle: www.doerlemann.com

Die Handlung
Die Ich-Erzählerin strandet in einem kleinen Kaff an der dänischen Küste. An einer Bushaltestelle trifft sie auf John und Putte, ein Ehepaar, das in der Nähe der Bushaltestelle wohnt, und wird von ihnen kurzerhand aufgenommen. Die beiden machen keinen großen Aufwand um ihren Gast und schon bald gehört Bente, wie sie von Putte spontan getauft wird, einfach dazu, als sei das schon immer so gewesen.

Poesie von Handlung und Worten
Was in der Zusammenfassung vielleicht etwas langweilig klingt, ist alles andere als monoton. Die Handlung des Buches zieht mich als Leserin sofort in ihren Bann, ohne dass ich so recht beschreiben könnte, warum das so ist. Denn nüchtern betrachtet ist die Geschichte gar nicht besonders aufregend oder spannend. Aber das ist vielleicht genau das Geheimnis. Denn die Autorin Helle Helle schildert ihre einfache Geschichte in einfachen Worten und Sätzen, die dennoch wie Poesie sind. Ich muss mich nicht durch Wortungetüme kämpfen oder durch undurchsichtige Handlungsstränge, um zum wahren Kern des Buches vorzudringen. Es ist einfach alles schon da und wird so leichtfüßig erzählt, dass ich schon zusammen mit Putte, John und Bente in ihrem Haus lebe.

Kurze Irritation durch Rückblicke
Was mich als Leserin in den ersten Kapiteln zunächst etwas irritiert, sind die Rückblicke. In diesen erzählt Bente, wie und warum sie an die dänische Küste gekommen kam, warum sie ihren Mann verließ und welche psychischen Probleme sie in der Vergangenheit plagten. Beim ersten Mal ist für mich nicht sofort erkennbar, dass es sich um ein „Rückblickkapitel“ handelt und so bin ich kurz verwirrt, weil die Handlung nicht nahtlos an das vorher Geschilderte anschließt. Sobald aber klar wird, dass es sich um einen Rückblick handelt, bin ich wieder im Lesefluss. Auch in den Rückblenden bleibt Helle Helle ihrem Stil treu. Sie erzählt auch hier leichtfüßig mit viel Poesie und ohne große Dramatik. Manches ahne ich mehr als dass es ausgesprochen wird.

Mein Fazit: Sehr lesenswert
„Färseninsel“ von Helle Helle kann ich uneingeschränkt zur Lektüre empfehlen. Es ist ein Buch in einer wunderbaren Sprache, mit echten Menschen, mancher Tragik und einigen skurrilen Aktionen, die ich selbst aus meinem Alltag kenne. Schon nach ein paar Seiten ist dieses Buch wie ein guter Freund, an dessen Seite ich mich wohlfühle.

Helle Helle, Färseninsel
Dörlemann Verlag AG, Zürich 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Faerseninsel-9783038200147
Website der Autorin: http://www.hellehelle.net/english/
Autorin der Rezension: Yvonne Giebels

Rezension: Jens Steiner, Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit

Hauptpersonen des neuen Buches von Jens Steiner sind die beiden Philosophiestudenten Paul und Magnus. Und die beiden sind genauso, wie man sich Philosophiestudenten so vorstellt. Magnus betrachtet die Welt theoretisch und tut nicht viel. Paul wiederum betrachtet das Leben und sein Studium mit zynischer Distanz, tut ansonsten auch nicht viel, trauert seiner alten Flamme hinterher und interessiert sich für die neue Mieterin im Stockwerk über ihm. So gut, so langweilig.

Quelle: www.doerlemann.com
Quelle: www.doerlemann.com

Der Anschlag, der keiner ist
Eines Tages beschließen Paul und Magnus, beim Vortrag des Medienzars Kudelka in der Uni eine Störaktion zu starten – der Klappentext nennt es überzogen einen Anschlag. Darunter stelle ich mir als Leserin mindestens eine Bombe vor, aber bestimmt keine eingespielte Tonbandaufnahme. Danach schmeißen die beiden ihr Studium und entwickeln wirre Philosophien, denen ich als Leserin nicht mal ansatzweise folgen kann. Okay, wenige gute Ansätze gibt es, etwa wenn der Autor seinen Helden darüber philosophieren lässt, ob wir Menschen wirklich so frei sind, wie wir immer glauben. Diese Ansätze sind leider nur ein kurzes Aufleuchten, das schnell wieder verglüht. Genauso wie Magnus, der irgendwann ohne Erklärung aus der Erzählung verschwindet.

Schwache Handlung
Im Verlauf der Handlung wird Kudelka schließlich entführt und Paul wird als Entführer gesucht. Was sich nun zu einem spannenden Kriminalstück entwickeln könnte, endet leider so, wie die Philosophien von Paul und Magnus – ziemlich wirr. Plötzlich taucht ein Homunkulus auf. Nach einer Philosophie von Magnus ist dies eine kleine Gestalt, die bei jedem von uns hinter der Stirn sitzt und darüber entscheidet, was wir sehen. Eigentlich eine witzige Idee. Als Leserin vergeht mir allerdings schnell die Lust, diese Idee weiterzuspinnen, denn der Homunkulus ist eine absolut lächerliche Figur mit Zwergenbart und Rotznase, der mindestens so wirr ist wie die Geschichte, in der er auftaucht. Genauso wenig kann ich den Mann auf dem Dach ernst nehmen, der sich bei der Flucht von Paul als Sphinx geriert und wirre Geschichten über seinen Sohn erzählt, die mit der Handlung so gar nichts zu tun haben.

Fazit: Nicht empfehlenswert
Eine Leseempfehlung für dieses Buch kann ich als Leserin nicht aussprechen. Ganz offen: Es ist so ziemlich das Fürchterlichste, was ich in den letzten Jahren gelesen habe. Spätestens nach Seite 10 habe ich mich gequält. Der Geschichte fehlt ein roter Faden, der Inhalt ist ein absolutes Durcheinander und das Ende ist noch weniger sinnvoll als die Handlung an sich. Wer unterhaltsam über philosophische Fragen nachdenken will, der sollte definitiv ein andres Buch wählen. Vielleicht fehlt mir einfach nur Schweizer Humor.

Jens Steiner, Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit
Dörlemann Verlag AG, Zürich, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Junger-Mann-mit-unauffaelliger-Vergangen-9783038200154
Link zum Autor: http://www.jenssteiner.ch/
Autorin der Rezension: Yvonne Giebels

Rezension: Jens Steiner, Carambole – ein Roman in zwölf Runden

Der Autor wurde 1975 in Zürich geboren und studierte Germanistik, Philosophie und Vergleichende Literaturwissenschaft. Der vorliegende Roman stand 2013 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises und erhielt ebenfalls 2013 den Schweizer Buchpreis.

Langeweile und Resignation
Jens Steiner schildert in Momentaufnahmen das Geschehen weniger Tage aus der Sicht mehrerer Personen einer Dorfgemeinschaft. Das erste Drittel des Buches atmet diese Ereignislosigkeit, die sich auch beim Lesen als Anflug von Langeweile bemerkbar macht, am deutlichsten. Minutiöse Schilderungen von ereignislosen Tagesabläufen, jeder beobachtet jeden, niemand findet einen Ausweg aus der Lethargie und seinem selbstverschuldeten Gefängnis – diese Monotonie überträgt sich auf den Leser, findet den Weg von den Buchseiten in das Hirn des Rezipienten und wird zu lähmender Langeweile. Die Unfähigkeit der Figuren, miteinander zu kommunizieren, könnte als ein durchgehender Topos bezeichnet werden. Manche Dialoge sind aberwitzig und völlig sinnfrei.

Quelle: www.doerlemann.com
Quelle: www.doerlemann.com

Die Figuren
Da sind drei pubertierende Jungen, die apathisch der bevorstehenden Sommerferien harren. In denen wieder nichts geschehen wird. Igor, der sich um seine, durch einen Schlaganfall der Sprache beraubten Mutter kümmern muss, Manu, der die Leidenschaft seiner Mutter für die Züchtung von Orchideenmantiden, einer Heuschreckenart, teilt und Fred, der für die unerreichbare Renate schwärmt.

Da sind Ehepaare, die einander nichts mehr zu sagen haben. Männer, die sich einmal wöchentlich zum Heulen in ihren Schuppen zurückziehen oder Gruben im Garten ausheben, deren Sinn sich weder ihnen selbst noch dem Leser erschließt. Ein Vater, der nicht verhindern kann, dass seine Frau mit dem siebenjährigen Sohn einfach wegzieht.

Da ist eine Mutter, die nicht mehr an ihre pubertierende Tochter herankommt. Die wiederum spukt in den heimlichen Träume von drei Schulbuben. Einer von ihnen wird bei einer Flucht Ohrenzeuge der Vergewaltigung der Angebeteten, kann das Geschehen aber nicht einordnen, weil er schlicht unerfahren ist.

Da sind zwei Brüder, die nicht mehr miteinander reden, die ihre Eltern durch einen Verkehrsunfall verloren haben und deren Onkel mit ihrer Schwester und dem Erbe auf und davon ist.

Und da ist der Geschichtenerzähler Schorsch, von dem niemand so recht weiß, woher er gekommen ist und den niemand aus dem Dorf ernst nimmt. Schorsch, der von sich selbst sagt: „Ich war schon damals längst der Normalität abhandengekommen.“ Über das Dorf sagt Schorsch, und das klingt wie eine Zusammenfassung der erzählten Geschichten: „Dies ist kein Dorf. Sondern eine Prärie….Wir sind alle längst schon weg. Uns gibt es gar nicht mehr.“

Eigentlich alles ganz besondere und tragische Schicksale, die Jens Steiner jedoch quasi nebenbei erwähnt und denen er mit seiner Art, sie zu behandeln, nicht gestattet, Spannung aufkommen zu lassen. Auch das ist eine Kunst. Eine, die ich nicht mag.

Am besten gelungen waren für mich die Szenen, die aus der Sicht einer der drei Jungen erzählt wurden. Da hat der Autor mit viel Einfühlungsvermögen und poetischer Sprache die Unsicherheit und Zerrissenheit in der Pubertät wunderbar nahebringen können. Aus dieser Perspektive hätte ich gern einen ganzen Roman gelesen.

Form und Sprache
Manche Kapitel erinnern eher an Miniaturen als an Teile eines Romans. Einige Geschichten sind dabei durch die handelnden Personen untereinander verbunden. Die Perspektive der zwölf „Runden“ wechselt zwischen dem Ich-Erzähler und der dritten Person. Die einzelnen Abschnitte fügen sich für mich nicht zu einem Ganzen zusammen. Es sind lediglich Augenblicksbeschreibungen erstarrter oder gescheiterter Lebensentwürfe ohne Ausweg, ohne Rettung. Als ich bereit war, einer der Figuren zu folgen, stand dort bereits die nächste Schachfigur. So bleibt durch den abrupten Wechsel nur kühle Distanz.

Die Sprache von Jens Steiner ist bildhaft, poetisch und direkt. Manchmal schießt er mit seinen Bildern übers Ziel hinaus und wird unfreiwillig komisch. „Wütend warf die Sonne ihr Licht von sich, und das Dorf ließ einzelne Geräusche hören, spitz wie ein Fingerknacken…“ (S. 78)

Mein Fazit
So war für mich das Leseerlebnis ambivalent. Teilweise langatmige detailreiche Zustandsbeschreibungen behinderten oft die Lust am Weiterlesen. Den großen Bogen, in dem alle Personen zu einem Ganzen zusammengefügt werden, konnte ich nicht erkennen. Zu einer eindeutigen Empfehlung des Buches von Jens Steiner kann ich mich deshalb nicht durchringen. Wer gern literarische Experimente begleitet, dem wird dieser Roman sicher gefallen.

Jens Steiner, Carambole
Dörlemann Verlag AG Zürich, 2013
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Carambole-9783908777922
Autorin: Cornelia Lotter
www.autorin-cornelia-lotter.de