Rezensionsreihe Finnland zur Frankfurter Buchmesse 2014, Teil 6: Riikka Pulkkinnen, Die Ruhelose. Oder: Das Leichte im Schweren

Der Erstlingsroman der Finnin Riikka Pulkkinnen hat es in sich. Sie spricht Themen an, mit denen ich mich als Leserin nicht gerne beschäftige, wenn ich auf der Suche nach einem unterhaltsamen Roman bin: Tod und Sterben, Sterbehilfe und die herrschende Sexualmoral.

Entscheiden oder zerbrechen

Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de
Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de

Da ist Anja, Universitätsprofessorin und eine Frau, die mit beiden Beinen im Leben steht. Ihr Mann ist schwer an Demenz erkrankt und hat ihr bereits vor Jahren das Versprechen abgenommen, ihm eines Tages Sterbehilfe zu leisten. Ein Versprechen, das Anja mehr und mehr belastet und an dem sie zu zerbrechen droht.

Da ist Marie, Schülerin der Oberstufe, die ein Verhältnis mit ihrem Literaturlehrer hat und nicht von ihm lassen kann, obwohl sie ahnt, dass dieses Verhältnis ihr nicht gut tut. Anni, die kleine Tochter des Lehrers, sieht und hört viel mehr, als sie in ihrem Alter eigentlich sollte und Julian, der Lehrer, findet aus dem, was anfänglich eigentlich nur als harmloses Spiel gemeint war, nicht mehr heraus. Immer wieder sucht er nach neuen Rechtfertigungen dafür, warum das Verhältnis mit Marie weitergehen sollte.

Die Figuren im Roman von Riikka Pulkkinnen stehen vor einer schweren Entscheidung oder einer Lebenskrise, und erst ein ungewöhnliches oder dramatisches Ereignis führt zu einer Entscheidung. Fast wähnt man sich als Leserin in einer klassischen Tragödie, in der es ja auch erst zu einer Katastrophe kommt, bevor die Figuren sich weiterentwickeln können oder die Handlungsstränge zusammengeführt werden.

Zusammenfügen, was zusammen gehört

Besonders fasziniert hat mich an diesem Roman, dass die Figuren zunächst nebeneinander her zu laufen scheinen. Erst nach und nach verzahnen sich die Geschichten und Personen miteinander und es entsteht ein großes Bild. Anja, die heimliche Hauptfigur des Romans, ist Maries Tante. Anja begegnet der Tochter Julians begegnet und begräbt mit ihr einen toten Igel in einem kleinen Wäldchen. Das berührt mich.

Mein Fazit

Auch wenn Riikka Pulkkinnen in ihrem Roman also schwere Kost serviert, die man als Leserin erst einmal verdauen muss: Es lohnt sich unbedingt, sich auf diesen finnischen Roman einzulassen. Trotz der angesprochenen Themen kommt die Leichtigkeit in diesem Roman nicht zu kurz und zwischendurch ist Schmunzeln durchaus erlaubt. Dass man sich ganz nebenbei mit ethisch-moralischen Fragen beschäftigt, die auch für die deutsche Gesellschaft relevant sind, ist ein durchaus gewollter Nebeneffekt.

Riikka Pulkkinnen, Die Ruhelose
List Hardcover, 2014
Autorenseite (Finnisch und Englisch): http://riikkapulkkinen.com/teokset
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Die-Ruhelose-9783471350720
Autorin: Yvonne Giebels

Rezensionsreihe Finnland zur Frankfurter Buchmesse 2014, Teil 4: Ulla-Lena Lundberg, Eis – ein Drama voller Hoffnung

Wer den Klappentext des Romans „Eis“ der schwedisch-finnischen Autorin Ulla-Lena Lundberg liest, dürfte im ersten Moment eher abgeschreckt sein. Der deutet eher auf ein Heimatmelodram in bester Konsalik-Manier oder eine blutrünstige Story hin, welche Horror-B-Movies aus den 1970er Jahren zum Vorbild haben könnte. Was den Leser tatsächlich erwartet, wird jedoch nicht angedeutet: Ein einfühlsames Drama voller Hoffnung, das in einer Zeit angesiedelt ist, als ganz Europa in Trümmern lag.

Cover Eis Mare-verlagDie Handlung

Die Autorin erzählt aus der Sicht des allwissenden Erzählers die Geschichte des Geistlichen Peter Kümmel und seiner Familie auf den Örar-Inseln kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Obwohl die Inseln irgendwo im Nirgendwo zwischen Schweden und Finnland liegen, hat der Krieg auch hier seine Spuren hinterlassen. Etwa in Form von Frau Doktor Gyllen, deren sowjetische Abschlüsse in Finnland nicht anerkannt werden, weshalb sie auf den Inseln als Hebamme arbeitet, bis sie einen regulären finnischen Abschluss erworben hat. Die Bevölkerung hat keine Ahnung, welches dunkle Geheimnis Frau Doktor mit sich trägt: Nachdem ihr Mann von Stalins Schergen verhaftet worden war, hatte sie ihren Sohn zurückgelassen und war aus der Sowjetunion geflüchtet. Sie vertraut sich lediglich Peter Kümmel an, nachdem dieser eine feste Autorität in der Kirchengemeinde geworden ist.

Aufgenommen wird der neue Pfarrer, der jedoch erst noch die Abschlussprüfung bestehen muss, bevor er als vollwertiger Pfarrer anerkannt ist, von der Gemeinde herzlich. Vor allem der Küster und der Kantor, die später zu den besten Freunden der Kümmels auf der Insel werden sollen, sind ihm anfangs eine wichtige Stütze. Schließlich ist die Gemeinde auf den Inseln trotz des scheinbaren Zusammenhalts tief in zwei Fraktionen gespalten, sodass der Pfarrer stets zu einem gerechten Ausgleich zwischen den Siedlungen im Westen und im Osten der Inseln bedacht sein muss.

Es gelingt der jungen Pfarrersfamilie schnell, sich auf den Inseln einzuleben und sich dank der landwirtschaftlichen Kenntnisse von Mona Kümmel die Grundlage für bescheidenen Wohlstand zu schaffen. Obwohl Mona bisweilen eifersüchtig auf die Gemeinde ist, die ihren Gatten allzu sehr in Beschlag nimmt, scheint dem Glück der Familie trotz einiger Schwierigkeiten und Rückschläge auf den Örar-Inseln nichts im Wege zu stehen. Ein einziger unbedachter Augenblick bereitet dem Glück der jungen Familie jedoch ein jähes Ende.

Ein Zeitsprung für den Leser

Mit „Eis“ gelingt es Ulla-Lena Lundberg, ein fulminantes und dennoch einfühlsames Stück jüngerer Vergangenheit anhand der Schicksale einzelner Personen zu erzählen. Sie beschreibt nüchtern in einem Stil, der dem gemächlichen Lebensrhythmus der Inselbewohner angepasst wird. Lundberg verzichtet auch in dramatischen Momenten auf jegliche Melodramatik, was ihre Figuren umso plastischer und lebendiger erscheinen lässt. Sie beschreibt Episoden aus dem Leben ihrer Figuren, die einfach nur ihr Leben leben wollen. Geschickt lässt sie einige historische Fakten einfließen, die den Leser nicht überfordern, aber einen Einblick in die alltäglichen Herausforderungen geben, denen sich die Menschen in den ersten Jahren unmittelbar nach der großen Katastrophe des 20. Jahrhunderts stellen mussten.

Mein Fazit

„Eis“ ist ein rundum gelungenes Werk, das den Leser von der ersten bis zur letzten Seite gemächlich in seinen Bann zieht. Ein ideales Buch also für warme Winterabende vor dem flackernden Kaminfeuer.

Ulla-Lena Lundberg, Eis
Mare Verlag, 1. Auflage August 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Eis-9783866482067

Autor: Harry Pfliegl