Rezension: Denker. Henker. Helfer. Jünger. Die Philosophen und der Nationalsozialismus | Sonderausgabe 03 des „Philosophie Magazin“

Dass die Bandbreite an philosophischen Fachzeitschriften eine große ist, dürfte nicht wirklich überraschen. Schließlich soll es ja ziemlich exakt so viele Philosophien wie Philosophen unter der Sonne geben. Entsprechend „exklusiv“ beziffert sich dann auch die Auflage der meisten dieser Organe. Anders, nämlich eher überschaubar, zeigt sich das Angebot für populärphilosophische Magazine. Einer der Platzhirsche auf diesem Markt ist der französische Verleger Fabrice Gerschel. 2006 gründete er in Paris das heute vor allem in Frankreich sehr erfolgreiche Philosophie Magazin – die Idee dazu kam ihm übrigens am „sonnigen Strand auf Korsika“. Seit 2011 scheint und erscheint dieser Lichtblick für Weisheitsfreunde auch sechs Mal pro Jahr auf Deutsch: unter der Ägide von Chefredakteur Wolfram Eilenberger im Berliner Philomagazin Verlag und mit einer Auflage von rund 100.000 Exemplaren pro Heft. Zudem erscheinen regelmäßig Sonderausgaben zu speziellen Themen. Die seit Januar 2015, und damit synchron zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, erhältliche Nummer 3 dieser Sonderhefte widmet sich dem Thema „Die Philosophen und der Nationalsozialismus“.

pmdesa3nazis2coverChefredakteurin dieser Extra-Edition ist die Berliner Autorin, Journalistin und Philosophin Catherine Newmark. Sie bzw. ihr Team hat bei diesem Themenkreis nicht zuletzt auch formal eine Zäsur zu den laufenden Ausgaben des „Philomag“ gesetzt. Statt „bunt und angenehm locker gestaltet“ die „Philosophie in unseren Alltag“ zu bringen (so der Anspruch des Verlags), herrscht hier nun schwarz-weiß Ästhetik vor – und ein an den Konstruktivismus erinnernder Einsatz von zumeist roten „Störern“. Das Farbklima der Nazis selbst bildet somit quasi das optische Grundrauschen des ganzen Hefts.

Entscheidend freilich sind die Inhalte. Diese spannen über knapp 100 Seiten den ganz großen Bogen: von den philosophischen Ursprüngen der Grundbegriffe des nationalsozialistischen Denkens (z.B. der gründlich missverstandene Ausdruck „Arier“ von Joseph Arthur de Gobineau aus der Mitte des 19. Jahrhunderts) über Betrachtungen zur „Idee der Volksgemeinschaft“ bis hin zu Fragen der Jüdischen Theologie nach der Shoah oder „Ausschwitz als Metapher der Moderne“. Selbstverständlich werden auch Nietzsche und ganz besonders Heidegger einer umfassenden Analyse unterzogen. Und weder Paul Celan, Hannah Arendt oder Adorno dürfen mit ihren oft zitierten Maximen und Werken fehlen (wie u.a. die „Todesfuge“ in voller Länge).

Erfährt man also wirklich Neues? Ja und nein… und vielleicht. Natürlich hängt die Höhe des Erkenntnisgewinns wie immer so auch hier vom Ausgangslevel des jeweiligen Lesers ab. Sehr gut recherchiert und aufbereitet sind eine ganze Reihe von historischen Quellen, wie etwa Karl Jaspers‘ Publikation zur „Schuldfrage“ oder die Rede von Thomas Mann „Deutsche Ansprache“ aus dem Jahr 1930. Und generell wird schnell klar, dass etwa Heidegger und Konsorten nur die Spitze eines Eisbergs an Wegbereitern oder -begleitern der Nazi-Ideologie waren. Viele Aspekte werden auch durch teils hochkarätige Interviews eingehend betrachtet. Unter anderem wäre hier das wirklich in die Tiefe gehende Gespräch mit Volker Gerhard (bis 2012 Mitglied des Deutschen Ethikrats) zum Thema „Der Wille zur Macht“ zu erwähnen. Vom Aufbau her naheliegend, aber letztlich eben auch sehr komfortabel fürs einordnende Verständnis: der Großteil aller Artikel und Dokumente ist in einen historisch-chronologischen Rapport eingebettet; mit den Kapiteln „Aufstieg der NSDAP“, „Machtergreifung“, „Kriegsjahre“ und – höchst interessant – „Unheimliche Kontinuität: NS-Philosophen in der BRD“. Es gab eben neben dem unsicheren Kantonisten und „antisemitischen Dauerläufer“ Heidegger auch nach dem Krieg weitere fragwürdige Sportsfreunde im Geiste – und in Amt und Würden. Etwa Hans-Georg Gadamer, Arnold Gehlen oder Hans Freyer, um nur einige zu nennen.

Fazit: Wer sich im Zusammenhang mit den anstehenden Gedenktagen die Frage stellt, ob und wie es sein kann, dass die „Liebe zur Weisheit“ auch zum Apologeten von Rassenwahn oder Kriegstreiberei werden kann, findet hier erste Antworten. Und eine Menge Tipps für weitere Nachforschungen in eigener Regie. Wer denkt, dass die Zeit der Nazis ein Zwischenspuk war und eigentlich „zum Vergessen“ ist, der kann nach der Lektüre dieses Sonderhefts zumindest für unsere Gegenwart eines gewinnen: nämlich den geschärften Blick auf die historische Kontinuität und den katastrophalen Impetus eines Denkens im radikalen Rahmen. Denn Intelligenz ohne Empathie war, ist und bleibt nun mal eine der verheerendsten Konstellationen, die das menschliche Gehirn zu bieten hat.

Rezension: Harald Wurst | ph1.de

Rezensionsreihe Israel zur Leipziger Buchmesse 2015, Teil 1: Agnes Christofferson, Elsas Stern. Oder: Shoah-Schatten in Manhattan.

Auschwitz, Holocaust, bestialischer Völkermord, traumatisierte Überlebende und selbstvergessene Verbrecher, die sich in einem neuen Leben einzurichten versuchen… das ist alles in allem extrem harter Stoff. Wer sich diesem Thema als Autor stellt, verdient zunächst einmal großen Respekt, denn die Fallhöhe kann hier sehr hoch sein. Die gebürtige Polin Agnes Christofferson hat sich der Herausforderung gestellt. Und – abgesehen von wenigen Abstrichen – legt die Autorin mit ihrem Roman „Elsas Stern“ eine beeindruckende Geschichte vor: über miteinander verwobene Schicksale und die grenzenlose Grausamkeit, zu der Menschen fähig sind.

Quelle: www.acabus-verlag.de
Quelle: www.acabus-verlag.de

Die Handlung beginnt 1979 in New York. Elsa, Jüdin und Auschwitz-Überlebende, trifft sich mit ihrer Tochter Leni in einem italienischen Restaurant. Als ein älterer Mann die Gaststätte betritt, bricht Elsa offensichtlich geschockt zusammen. Im Krankenhaus kümmern sich Elsas Töchter Leni und Salome besorgt um ihre Mutter – diese benimmt sich allerdings zusehends immer seltsamer. Schließlich übergibt Salome das alte Tagebuch von Elsa an Leni. Und damit startet der zentrale Plot des Romans. Sie erfährt aus den Aufzeichnungen der Mutter nicht nur, wie ihre ganze Familie von den Nazis fast ausgelöscht wurde und dass Elsa in Auschwitz als Opfer brutalster Menschenexperimente leiden musste – auch ihre Schwester Salome ist nicht wirklich mit ihr verwandt… und es gibt einen skrupellosen Arzt namens Erich Hauser, der mit dem Schicksal ihrer Mutter auf verschiedenste Weise verknüpft ist.

Klar, der unbekannte Mann in der Pizzeria ist natürlich dieser grausame KZ-Arzt. Und die, übrigens recht knappe und literarisch wie dramaturgisch eher mittelmäßige, Rahmenhandlung, dreht sich um die Enttarnung des Mannes, der im New York der späten 1970er Jahre als Kinderarzt Peter Miller praktiziert. Zu großer Form läuft der Roman bei den Tagebuch-Sequenzen aus der Perspektive von Elsa auf. Dieser Strang macht rund 80 Prozent des Buches aus. Und keine Seite davon ist zu viel. Von der ersten Begegnung und sogar einem Flirt Elsas mit dem jungen „Erik“ Hauser in der Obhut eines versteckten Landsitzes bis zu den fürchterlichsten Beschreibungen des KZ-Alltags und schmerzhaft detaillierten Schilderungen medizinischer „Experimente“ des perversen Arztes in Auschwitz schont die Sprache dieses Buches den Leser nicht. Die realistische Härte der Prosa ist schlichtweg gewaltig. Und die Ambivalenz der Charaktere , ob SS-Männer, Kapos oder KZ-Insassen, gnadenlos in der Schilderung.

Autorin Agnes Christofferson, geboren 1976 in Polen und seit ihrem 12. Lebensjahr in Deutschland lebend, hat mit „Elsas Stern“ ein tatsächlich ergreifendes Buch geschrieben. Die Geschichte ist rein fiktiv – die Szenerie nicht. Und wer glaubt, zum Holocaust sei eigentlich alles schon gesagt, kann sich hier beim Lesen getrost selber fragen: Ist so ein Verbrechen je vergessen – oder heute wieder möglich? In diesem Buch findet der Leser die Antwort zwar nicht, aber es wird nach der Lektüre womöglich schwer sein, nicht danach zu suchen.

Agnes Christofferson, Elsas Stern
Acabus Verlag, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Elsas-Stern-Ein-Holocaust-Drama-9783862823109
Autor: Harald Wurst | ph1.de

Rezension: Shreyas Rajagopal, Scar City. Oder: Incredible India

Sex, Drogen, Reichtum, Psychosen… hier kommt das selektiv aus der Perspektive einer jugendlichen Oberschicht betrachtete Indien der Gegenwart. Lakonisch, kosmopolitisch, zynisch und entsprechend des Handlungstempos im hastigen Präsens beschrieben.

Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de
www.ullsteinbuchverlage.de

Willkommen im Debütroman von Shreyas Rajagopal! Der Autor ist Jahrgang 1986 und lebt in Bombay, wo er – wie passend – im Finanzsektor arbeitet. Studiert hat er unter anderem am Indian Institute of Management, was sich aber, außer einer offensichtlichen Kenntnis der indischen Sozialstruktur, nicht wirklich in seinem Roman bemerkbar macht. Freilich aber zeigt dieses 2013 geschriebene Buch alle Merkmale eines literarischen Erstlingswerks: rasches Wechselspiel von Nähe und Distanz, unbekümmertes Experimentieren mit unterschiedlichen Stilen, die eitle Lust am Dokumentieren der eigenen Genialität und des Wissens „um die Dinge“ sowie das generelle Grundrauschen einer expressionistischen Wucht.

Worum geht’s? Student Rish kommt nach „Schwierigkeiten“ in New York für eine Auszeit nach Bombay zurück. Und er landet quasi unmittelbar in einem dämonischen Pantheon aus Freunden, Eltern, Drogendealern, ehemaligen und zukünftigen Sex- und Partygefährten… kurz: es startet eine Tour de Force für Körper und Geist. Und der Strudel aus Rausch und Hass auf die Gesellschaft dreht munter seine Runden. Ja, auch Bret Easton Ellis (American Psycho) lässt hier grüßen. Nicht nur durch die fast obsessive Erwähnung von Markenprodukten, sondern auch durch die gnadenlose Kälte der Eigen- und Fremdbeobachtung des Helden. Das Indien der Milliarden Menschen mit weniger als mindestens Millionärsstatus kommt dabei übrigens gerade noch als Staffage vor.

Wer nun aber glaubt: Aha, wieder so eine überdrehte Schnösel-Story aus dem Milieu der globalen Nichtsnutze mit „goldenem Löffel“ Syndrom… nun, der springt hier eindeutig zu kurz! Rajagopal schreibt hier aus der auktorialen Perspektive – und offeriert Rückblenden mit beeindruckenden Blicken in eine gequälte Psyche. Seine Sprache ist dabei so intensiv wie bildstark – und er trifft den Ton jeder Situation ausgesprochen stimmig. Ein Lob auch der deutschen Übersetzung. Auf so ein kongeniales Wort wie Durschnitten für eine Versammlung mittelmäßiger Fickangebote weiblicher Art muss man erst einmal kommen.

Und wo bleibt in dieser Geschichte nun die Moral? Erfreulicherweise gibt es die hier nicht! Es handelt nämlich keineswegs um einen klassischen „Coming of Age“ Plot, sondern die mitleidslose Schilderung einer Reise in den kontrollierten Wahnsinn. Wobei Rajagopal keinen Zweifel daran lässt, dass dieses Indien der abgehobenen Oberschicht demnächst ganz gewaltig um die Ohren fliegen wird. Bis dahin gilt ein typischer Satz aus der Gedankenwelt des Protagonisten Rish: Du bist wie Plastik – du wirst alles hier überdauern.

Shreyas Rajagopal, Scar City
Ullstein Hardcover, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Scar-City-9783550080647
Autor: Harald Wurst | ph1.de

Rezensionsreihe Finnland zur Frankfurter Buchmesse 2014, Teil 5: Sofi Oksanen, Als die Tauben verschwanden. Oder: Volksseelenwanderung

Liebe Leserinnen und Leser: wohl selten war es so wertvoll, auf meine Meinung einen Dreck zu geben. Denn was jetzt kommt, könnt ihr glauben oder auch nicht. Mit diesem Buch tue ich mich nämlich sehr sehr schwer. Und mit der Besprechung dazu fast noch mehr.

Quelle: www.kiwi-verlag.de
Quelle: www.kiwi-verlag.de

Normalerweise startet man als Rezensent ja vorurteilslos frei ins Lesen eines Romans, oder sollte es zumindest versuchen. Das hier in der Kritik stehende Werk von Sofi Oksanen wurde mir allerdings schon vorab in mehreren TV-Kritikerrunden und noch mehr Feuilletons dermaßen wortgewaltig und tiefschürfend um die Ohren gehauen, dass eine objektive Beschäftigung mit Form oder Inhalt keine realistische Option war. Warum? Weil ich den schärfsten Lästereien über diese Prosa fast uneingeschränkt zustimmen muss. Vom Start weg und in allen Punkten.

Aber Vorsicht! Dieses Buch ist auch ausgesprochen konsequent! In seiner Diktion. In seinem Impetus. Und ja, auch in seiner ganz eigenen Wahrhaftigkeit. Und eben das kann vielen Lesern ausgesprochen gut gefallen. Anderen dagegen ganz und gar nicht.Zu den Letzteren gehöre ich.

Die Fakten: 1941 wird Estland von der Wehrmacht okkupiert. Die Soldaten fangen reichlich Tauben, um sie zu essen. Der Titel ist damit geboren. Der Plot behandelt den Lebensweg von drei zentralen Protagonisten: Edgar mit seiner unausgelebten Homosexualität ist opportunistisch bis zur Skrupellosigkeit; Juudith, seine Frau verliebt sich in den SS-Hauptsturmbannführer Hertz; und Roland, Vetter von Edgar, gibt den aufrechten Freiheitskämpfer. Stoff für Verwicklungen ist damit reichlich gewoben. Diese werden aus wechselnden Perspektiven beschrieben. Und nach den Nazis kommen die Sowjets. Deren Besatzungszeit bereitet die Bühne für die zweite Erzählebene und neuerliche “Charakterprüfungen“ der Figuren, angesiedelt in den Neunzehhundertsechzigerjahren in der Baltischen Sowjetrepublik. Wobei generell, ob 1944 oder 1966, die tiefere Gestaltung der Charaktere zugunsten der Handlungsstränge leider auf der Strecke bleibt.

Zum Erzählstil: hier muss ich den meisten Kritikern beipflichten. Insbesondere die Tonalität aus Perspektive von Juudith spielt schon fast ins Unerträgliche. Schwülstige Schöpfungsschilderungen treffen auf völkische Fantasien. Blut und Boden Symbolik feiert fröhliche Urständ. Nation und Natur werden zur Legitimation einer nordischen Identität, die sich dem Spielball der Geschichte so gut es eben geht zu erwehren versucht. Kann man ja machen. Und ich weiß aus eigenen Besuchen in Estland, dass die Angst dieses Landes vor einer erneuten Fremdherrschaft, ganz gleich von welcher Ideologie befeuert, einen Grundton des Alltagsbewusstseins vieler Menschen dort bildet. Ich persönlich mag es allerdings nicht so „allegorisch überdeutlich und melodramatisch süß“ – um hier mal den Kritiker der Süddeutschen Zeitung zu zitieren.

Unbestritten freilich hat Frau Oksanen, Jahrgang 1977, mit ihrer Herkunft den richtigen Background für diesen literarischen Versuch: sie ist Tochter einer estnischen Mutter und eines finnischen Vaters. Und ganz bestimmt werden viele Leser den Stil des Romans für sich auch sehr stark als zu Herzen gehend, poetisch, vielstimmig und lebendig erleben. Ich empfand es in großen Teilen halt einfach bloß als nationalistischen Kitsch – bin aber eben auch weder Este, noch Russe oder habe jemals in irgendeiner Armee gedient. Und zumindest Letzteres war meine eigene Entscheidung.

Sofi Oksanen, Als die Tauben verschwanden
Kiepenheuer & Witsch, August 2014
Online bestellen:  https://www.buchhandel.de/buch/Als-die-Tauben-verschwanden-9783462046618

Autor: Harald Wurst | ph1.de

Rezension: Harald Gilbers, Germania. Oder: Ein Krimi erklärt den Krieg

Das Buch tanzt Pogo mit dem Leser. Zumindest ging’s mir so bei der Lektüre. Denn die Aufs und Abs inhaltlicher wie stilistischer Art haben hier eine hohe Frequenz. Da folgen Passagen von eindringlichster Intensität und Dichte auf leider oft arg schlichte Dialoge oder innere Monologe – da werden bestialische Grausamkeiten detailverliebt geschildert und ein paar Seiten später Sentenzen wie aus einer Seifenoper präsentiert – und da stehen teilweise brillant gezeichnete Charaktere im einer vollkommen durchschnittlichen „Whodunit-Handlung“, die vom Autor eben kurzerhand in eine Welt mit in jeder Hinsicht extremen Konditionen transferiert wurde. Die Gesellschaft ist nicht nur korrupt, es sind Nazis. Der Underdog ist nicht einfach ein Außenseiter, er ist Jude. Das tägliche Leben ist nicht nur eine Zumutung, es hagelt Bomben.

Quelle: Droemer Knaur
Quelle: Droemer Knaur

Worum handelt es sich konkret? Nun, den Plot kann man relativ kurz abhandeln. Und weil das Werk als „Thriller“ firmiert, will ich auch nicht allzu viel verraten. Die Handlung spielt im Berlin des Jahres 1944, zwischen dem 7. Mai und dem 25. Juni. Die Stadt zerbröselt zusehends unter den andauernden Angriffen alliierter Bomber. Ein Serienmörder geht um und verstümmelt und ermordet nicht nur junge Frauen – er legt die Leichen auch noch an Mahnmalen zum Gedenken an den 1. Weltkrieg ab. Die Behörden sind ratlos, erinnern sich dann aber an den Juden Richard Oppenheimer, der früher mal Kriminalkommissar war. Oppenheimer leidet zwar unter der Verfolgung durch die Nazis, sieht sich aber immer noch als pflichtbewusster preußischer Beamter und macht sich unter dem Schutz der SS auf die Tätersuche. Sein Problem dabei: wenn er den Täter hat, dürfte seine Gandenfrist abgelaufen sein.

Nun gut. Krimis, die ins Berlin der 20er, 30er und 40er Jahre verlegt werden, kennt man. Nicht zuletzt durch den Gereon-Rath-Zyklus von Volker Kutscher. Harald Gilbers geht allerdings härter zur Sache. Der Autor ist Jahrgang 1969, studierte Anglistik und Geschichte und arbeitete erst als Feuilleton-Redakteur, bevor er Theaterregisseur wurde. Das macht sich in der nicht immer gelungenen Dialogdichte des Romans bemerkbar – aber erfreulicherweise eben auch in seiner akribischen Recherche zu den Rahmenbedingungen des Lebens in Berlin zur Endzeit der Naziherrschaft. Sprachliche Wendungen, Witze, U-Bahnverbindungen, Wetter, Nachrichten… all das ist stimmig in die Handlung integriert. Und Gilbers kann durchaus ergreifend schreiben. Die Sequenz über einen Bombenangriff, den der Held Oppenheimer zusammen mit seinem SS-Partner Vogler im Bunker übersteht, gehört für mich zu den stärksten Stellen des ganzen Buchs. In seiner ganzen expressiven Wucht durchaus vergleichbar mit der Beschreibung des Bombardements von Dresden im Roman „Schlachthof 5“ von Kurt Vonnegut. Trotzdem: die Fallhöhe danach ist dann wieder entsprechend hoch. Und schmerzt.

„Germania“ ist der erste Roman von Harald Gilbers und für die Kenner der Szene offenbar ein ausgezeichneter Start in die Krimiautor-Karriere: nämlich prämiert mit dem Glauser-Preis 2014 für das beste Debüt. Mir hat’s im Ganzen nicht ganz so gut gefallen.

Harald Gilbers, Germania. Knaur TB, 2013.

Autor: Harald Wurst | ph1.de

Rezension: Robin Sloan, Die sonderbare Buchhandlung des Mr. Penumbra. Oder: Typen, Typo und Türen in Parallelwelten.

Die Besessenheit von Google, unsere ganze Welt zu quantifizieren und zu arrangieren. Die fixen Ideen von traditionellen Lesern, mit ihren Visionen aus alten oder neueren Texten verborgene Botschaften fürs eigene Leben herausdestillieren zu können. Die Geschichte vom Beginn der modernen Typografie im Venedig des frühen 16. Jahrhunderts unter besonderer Betrachtung deren akuten Auswirkungen auf die Apple-Politik, Word-Dokumente oder Firmen-Logos. Dazu ein etwas ranziger Fantasy-Autor aus den 80ern mit seinem Eigenleben auf alten Tonbändern, ein Ausflug in den Wahnwitz der digitalen Start-up Szene – garniert von einer kiffenden älteren Dame mit Erwerbsbiografie als Programmiererin – ein sich selbst organisierendes Lager für herrenlose Museums-Artefakte sowie eine Pizzeria, über die ein weltweit gesuchter Hacker konspirative Hardware in Umlauf bringt…

…das alles (und noch einiges mehr) muss man erst mal in ein Buch und eine spannende Handlung auf knapp 360 Seiten packen können. Der Mann, der das kann, heißt Robin Sloan, ist studierter Wirtschaftswissenschaftler und hat nicht nur viel Humor, sondern unter anderem auch in führender Position bei Twitter gearbeitet.

Die sonderbare Buchhandlung des Mr Penumbra von Robin Sloan
Quelle: Karl Blessing Verlag

Die an skurrilen Einfällen und kuriosen Szenen reiche Geschichte wird aus der Ich-Perspektive des einstigen Webdesigners und jetzigen Aushilfsbuchhändlers Clay Jannon erzählt. Klassisch linear, sprachlich sauber, mit Witz, Intelligenz und mit den heute oft üblichen Querversweisen auf die Populärkultur. Aber Achtung! Hier ist längst nicht alles so, wie es den Anschein hat. Wer sich etwa im Internet auf die Suche nach der Schriftart „Griffo Gerritszoon“ machen wird (und die ist für den Plot von zentraler Bedeutung), erfährt keine lexikalische Erklärung, sondern landet bei einer erstaunlichen Anzahl von Blogs und Websites von Lesern rund um dieses Buch. Denn natürlich arbeitet Robin Sloan in bester Tradition von Kollegen wie Robert Anton Wilson oder William Kotzwinkle mit dem Kunstgriff der Halb- und auch Desinformation. Und je eher man als Leser dieses Spiel durchschaut, umso länger hat man das Vergnügen mit diesem Roman. Vor allem: Als Autor Jahrgang 1979 ist Sloan mit den Fallen des Instant-Wissens der Wikipedia-Jünger bestens vertraut. Genau das macht er hier zur Zutat seiner schriftstellerischen Strategie. Generell ist der Tenor des Buches ohnehin von einer ironischen Distanz zu den vermeintlichen Segnungen der IT-Industrie bzw. zu den fanatischen Apologeten einer digitalen Wunderwelt geprägt. Nicht zu vergessen: der Mann ist Insider!

Worum dreht sich aber eigentlich die Geschichte? Nun, viel werde ich hier nicht verraten. Und die Sentenzen zu Beginn dieser Rezension sollten auch nur die Bandbreite der Themen, Orte und Figuren ansatzweise skizzieren. Kurz gesagt: es geht ums Entdecken und Entschlüsseln des Mysteriums einer in vielfacher Hinsicht bizarren Buchhandlung in San Fransisco – die sich aber nur als eine Facette eines sehr alten weltumspannenden Geheimnisses entpuppt. Das Ganze wird spannend, geistreich und humorvoll erzählt. Neben den plastischen Situationsbeschreibungen überzeugt dabei insbesondere auch die Ausarbeitung der einzelnen Charaktere. Zwar nicht ganz auf dem Niveau von Umberto Eco – aber doch schon ganz nah dran.

Und das Ende? Natürlich eine Überraschung! Wer dann von der ganzen Thematik nicht so schnell wieder loslassen will, dem kann ebenfalls geholfen werden: Es gibt ein Prequel zum Roman, in dem die Vorgeschichte steht. Erschienen, genau wie das Hauptwerk, im März 2014 beim Blessing Verlag. „Die Unglaubliche Entdeckung des Mr. Penumbra“ ist eine ca. 80 Seiten umfassende Erzählung – und es gibt sie ausschließlich als eBook. Also noch so ein Trick von Mr. Sloan?

Robin Sloan, Die sonderbare Buchhandlung des Mr. Penumbra
Karl Blessing Verlag, 2014

Autor: Harald Wurst | ph1.de

 

Rezension: Stefan Müller, 111 Gründe Bücher zu lieben. Oder: Ein Lese(r)buch.

Der Magdeburger Stefan Müller ist wohl das, was man im bildungssprachlichen Milieu gern als „Homme de lettres“ etikettiert. Geboren 1980, stellte er bereits als 17-jähriger seinen ersten Roman „Vertraute Fremde“ vor. Es folgten ein Studium der Germanistik und Anglistik, parallel dazu Engagements in den Redaktionen von Magdeburger General-Anzeiger bzw. Elbe Kurier und die Berufung zum Internetredakteur beim Landtag von Sachsen-Anhalt.

111 Gründe2013 erschien dann im Berliner Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf der Jugendroman „Tibor und ich“ vom mittlerweile promovierten Literaturwissenschaftler. Ach ja: als Sänger ist Stefan Müller auch unterwegs. Und nun stimmt er – ebenfalls bei Schwarzkopf & Schwarzkopf verlegt – ein vielseitiges Loblied aufs Lesen an. „Oha!“, denkt da womöglich mancher sofort: Schon wieder so ein subjektiver Kanon der empfehlenswerten Literatur.

Ja… teilweise durchaus. Aber „111 Gründe Bücher zu lieben“ ist weit mehr als eine Lese-Liste für mehr oder weniger bewanderte Literaturfreunde. Stefan Müller führt seine Leser hier in mehrfacher Hinsicht „listig“ ans Thema ran. Wie und wo kann die Liebe zu Büchern entstehen? Was sagt uns ein Gedankenstrich bei Kleist? Ist Anna Karenina ein Buch zum Film? Macht Büchersortieren eigentlich kreativ? Ist Hans Henny Jahnn ein sexuell getriebener Revoluzzer? In diesem Spektrum behandelt Müller seinen Themenkreis. Und in 111 Aspekten wird so bei dieser Hommage ans Lesen das Leben mit Büchern betrachtet, beschrieben und auch hinterfragt. Den Doktor der Literaturwissenschaft lässt Stefan Müller dabei eher selten aus dem Text herausdozieren. Erfreulicherweise. Denn der vorherrschende Stil in diesem Buch ist zwar von profundem Wissen geprägt – aber immer mit einer freundlichen Leichtigkeit präsentiert. Wobei mir persönlich manche Ausführungen fast etwas zu leise, zu betulich oder zu zutraulich hinsichtlich der beim Humor nach oben offenen Richterskala präsentiert werden. Insbesondere werden vor allem „Hardcore-Leser“ hier kaum auf bislang ungeahnte Literaturempfehlungen stoßen. Das dürfte allerdings auch nicht die Absicht von Stefan Müller beim Schreiben dieses Buches für die 111-Reihe des Verlags gewesen sein. Wer aber einfach mal eine feine Bestätigung für den sinnstiftenden Gehalt seiner Liebhaberei für Bücher und das Lesen an sich möchte oder an ein Geschenk für hoffnungsvolle Nachwuchsleseratten denkt, bekommt mit „111 Gründe“ von Stefan Müller schon reichlich gute Argumente an die Hand. Und hat womöglich – neben unterhaltsamer Nachttischlektüre – damit auch ein linguistisches Update für so manchen Smalltalk unter Gleichgesinnten genossen.

Autor: Harald Wurst | ph1.de

 

Rezension: Atle Næss, Die Riemannsche Vermutung. Oder: Eine Wurzelbehandlung der Liebe.

Vorab: Im norwegischen Original heißt dieser Roman „Wurzel aus minus eins“. Womit ich jetzt einfach mal eine kurze seitliche Arabeske aufs mathematische Terrain einleite – denn ein paar Grundlagen in Bezug auf die Gedankenwelt von Riemann und Konsorten helfen womöglich beim Verifizieren der kritischen Betrachtung dieses Buches.

Voilà: Im Raum der reellen Zahlen ist eine negative Wurzel nicht definiert; denn Minus mal Minus ergibt immer Plus. Anders aber bei der Erweiterung  hin zu den komplexen Zahlen. Und da wird dann die Wurzel aus (-1) ‚i‘ genannt. Damit ist, unter anderem nach Ansicht des Autors Atle Næss, die Welt ins Metaphysische hinein eröffnet. Und damit konnte Bernhard Riemann 1859 auch seine berühmte Vermutung aufstellen. In prosaischen Worten lautet diese: Man kann bei der Verteilung von Primzahlen im unendlichen Meer der natürlichen Zahlen gewisse versteckte Muster bei deren Auftauchen entschlüsseln. Auf diesem Fundament bastelt Næss nun seine Geschichte, die uns als Tagebuchaufzeichnungen des Mathematikdozenten Terje Huuse serviert wird.

Der primäre Plot selbst ist schnell erzählt: Mathematiker Huuse hat Frau und zwei Kinder im „schwierigen“ Teenageralter, natürlich ist er in der Midlife-Krise, sexuell läuft im Hause Huuse schon länger nichts mehr. Da lernt er im Rahmen seines Projekts einer geplanten Riemann Biografie bei einem Schreib-Workshop eine gleichaltrige Frau kennen, verliebt sich in diese, muss alles ganz geheim halten, fährt mit ihr sogar nach Berlin und Göttingen zu Recherchen in Sachen Riemann – und muss nach einer häuslichen Katastrophe schnell wieder heim nach Oslo.

Uff! Dass der Erzählstrang dieser Liebesgeschichte die etwas platte Anmutung einer ZDF-Schmonzette aufweist, trübt das Lesevergnügen, wird aber überraschenderweise dann aber – auch mit Bezug auf die offensichtlichen formalen Schwächen – am Ende des Buches aufgelöst. Das ist zwar in gewisser Weise clever vom Autor. Allerdings: beim Lesen der ersten 180 Seiten hilft das freilich nicht. Das Ganze ist leidlich ordentlich erzählt. Der subjektive Einblick in das sozial-emotionale Trauerspiel eines saturierten Mittelständlers jedoch recht ausufernd und nicht besonders originell geschildert. Daneben rauscht der Erzählfluss zur fragmentarisch sich entwickelnden Riemann Biographie. Und die Philosophie von einsamen Zahlenwerten und sich findenden Menschen wabert durch den Subtext. Aber wie gesagt, am Ende wird’s dann – auch durch plötzlichen Perspektivenwechsel – wenigstens in der Rückschau ein Stück weit geistreich.

Fazit in Summe: Primzahlen verstanden.
Prima geht aber anders.

Autor: Harald Wurst | ph1.de