Normalerweise gelten bei der Wahl des Lesestoffs für mich zwei ziemlich rigorose Ausschlusskriterien: kein Buch aus den Top Ten der Bestsellerlisten – und, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, auch kein Autor (oder Autorin) mit Nobelpreis in seiner Biografie. Hier kommt also ein Sonderfall zur Besprechung, zumindest nach den Maßstäben meines zweiten Grundsatzes: ein über 20 Jahre alter Roman des aktuellen Literaturnobelpreisträgers Patrick Modiano.
Nun wird Modiano spätestens seit seinem eher plötzlichen Ruhm hierzulande gern unterstellt, er schreibe eigentlich immer das gleiche Buch bzw. behandele nur ein einziges Sujet in seinen Geschichten: Das Erinnern an eine Vergangenheit, die womöglich ganz andere oder weitere Untiefen beinhaltet, als bislang gedacht oder eingestanden. Ob das wirklich für sein ganzes Werk zutrifft, kann ich nicht beurteilen. Bei „Ein so junger Hund“ trifft diese Diagnose im Großen und Ganzen zu.
Die rund 100 Seiten starke Erzählung erschien 1993 und blickt aus der Perspektive dieses Jahres ins Paris von 1964 zurück. Der Erzähler saß damals mit seiner Freundin in einem Café und wurde von einem Fotografen mit der Bitte angesprochen, sich als Motiv für seine Reportage „Jugend von Paris“ ablichten zu lassen. Aus der Begegnung entwickelt sich rasch eine Bekanntschaft, die in ihrer Intensität allerdings recht einseitig verläuft. Über den Hintergrund des erzählenden Helden erfährt man sehr wenig – dafür wird der Fotograf Francis Jansen mit einer (komplett erfundenen) beeindruckenden Biografie versehen. Und zwar so detailliert und schillernd, dass ich den Namen sogar bei Google gesucht habe. Vergeblich natürlich. Jansen ist im Roman u.a. ein Weggefährte von Robert Capa, hat bedeutende Bildbände und Reportagen veröffentlicht… und der Leser erhält detaillierte Bildbeschreibungen von Fotos, die niemals gemacht wurden. Dazu erfährt man exakte Adressen und Telefonnummern von Personen, die nie gelebt haben. Auch der Erzähler wäre sicher froh gewesen, seinerzeit über eine Suchmaschine verfügt zu haben, begibt er sich doch im Lauf der Jahre immer wieder auf die Recherche nach Kontaktaktpersonen aus dem Umfeld des Fotografen. Denn der Held des Romans dient sich Jansen nicht nur als unbezahlter Archivar der großen Fotosammlung an – eines Tages verschwindet der Fotograf auch spurlos. Wobei mögliche Gründe dafür und ein geheimnisvoller Namensdoppelgänger eher eine Art von „Hintergrundstrahlung“ der Handlung abgeben.
In der Hauptsache behandelt der Roman nämlich die Befindlichkeiten des Erzählers. Seine Rückblicke auf die Jugend als „junger Hund“. Seine von Jansen wesentlich beeinflusste Entscheidung, Schriftsteller zu werden. Seine sentimentalen Erinnerungen an eine vergangene Zeit, die Fotos zwar evozieren, aber niemals ersetzen können. Das Ganze getragen vom melancholischen Ton des Ich-Erzählers, der aber durch die schriftstellerische Souveränität Modianos nie ins Peinliche abgleitet. Und ein in der Literaturkritik zu Modiano oft erwähntes Phänomen ist schon richtig: Er erschafft bereits mit dem ersten Satz eine zwar leichte, aber auch konsequente Atmosphäre, die den Leser in einen sehr speziellen Flow versetzt. Charaktere und Szenen erscheinen hier trotz sparsamer Beschreibung fast schon holografisch präsent. Womit das zentrale Thema „Foto“ auch um mindestens eine Dimension bereichert wäre.
Ob’s mir gefallen hat? Der Plot der Geschichte ist eher unbedeutend. Die Kunst des Schreibens an sich zeigt sich hier allerdings auf sehr hohem Niveau. Insofern: Ja.
Patrick Modiano, Ein so junger Hund
Aufbau Verlag, 2014
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Autor der Rezension: Harald Wurst | ph1.de