Rezension: Anne Enright, Rosaleens Fest

Dass ein klassischer Familienroman unter die Haut geht und gleichzeitig locker erzählt wird, beweist Anne Enright mit „Rosaleens Fest“. Die irische Autorin präsentiert ihre Geschichte aus dem Blickwinkel von zwei Jahrzehnten und gibt dabei einen intensiven Einblick in das oft schwierige Verhältnis zwischen Müttern und ihren Kindern.

www.randomhouse.de
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Die Mutter? Funktioniert!
Hauptfigur des Romans ist die Mutter Rosaleen. Der Vater spielt keine allzu große Rolle. Rosaleen hat vier Kinder geboren, zwei Mädchen und zwei Jungen, entwickelt aber zu keinem der Kinder eine wirklich intime Beziehung. Vielmehr bleibt sie bis ins hohe Alter unnahbar.

Der Roman beginnt 1980, als die jüngste Tochter Hanna zwölf Jahre alt ist. Sie muss des Öfteren Schmerzmittel für die Mutter besorgen. Der Grund: Dan, der älteste Bruder, will Priester werden. Diesen Plan verwirklicht er dann nicht – noch schlimmer: Er erlebt in der Schwulenszene New Yorks sein Coming-out. Den schwierigen Weg bis zur Offenbarung zeichnet Anne Enright gnadenlos nach. Beispielsweise schafft Dan es nicht, das Krankenhaus zu besuchen, in dem seine große Liebe im Sterben liegt: Klischee AIDS. Und auch die anderen Kinder Rosaleens kommen nicht problemlos durchs Leben. So entwickelt Hanna ein massives Alkoholproblem, nachdem sie es geschafft hat, Schauspielerin zu werden. Emmet, der als Entwicklungshelfer arbeitet, endet emotional völlig abgestumpft. Einzig der Schwester Constanze scheint eine glückliche Familie vergönnt zu sein.

Die Eskalation zum Weihnachtsfest
Unaufhaltsam und gezielt steuert Anne Enright die Geschichte auf das Weihnachtsfest 2005 zu. Rosaleen offenbart der Familie, dass sie das Haus verkaufen will. Sie fühlt sich einsam und von den Kindern verlassen, sodass der Verkauf aus ihrer Sicht eher ein Akt der Rache ist. Die Autorin führt die verschiedenen Figuren des Romans zunächst geschickt durch das Leben, bevor es zur letzten weihnachtlichen Zusammenkunft kommt. Zum Fest haben alle die Chance, ein zweites Mal ins Leben aufzubrechen. Damit zeichnet sich gegen Ende von Rosaleens Fest ein zarter Hoffnungsschimmer vor der düsteren Atmosphäre ab.

Mein Fazit
Rosaleens Fest ist ein gelungener und unterhaltsamer Familienroman, pointiert und mitfühlend – auch wenn mir einige Szenen zu sehr zu Herzen gehen.

Anne Enright, Rosaleens Fest
DVA, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Rosaleens-Fest-9783421047007
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezension zu Falk Stirkat: Ich kam, sah und intubierte

Der Beruf des Notarztes zählt nicht zu den Top 10 der Wunschberufe junger Menschen. Der Alltag ist stressig, und im Einsatz können Bruchteile von Sekunden über Leben und Tod entscheiden. Jeder Handgriff muss sitzen, auch wenn der Notarzt im Vorfeld oft nicht weiß, unter welchen Bedingungen er arbeiten muss. Einblicke in den Alltag eines Notarztes gibt Falk Stirkat in seinem Buch „Ich kam, sah und intubierte“.

Quelle: www.schwarzkopf-verlag.net
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Zwischen Irrsinn und Wahnsinn
Falk Stirkat, selbst Mediziner und Leiter einer Notfallstation, schildert die Einsätze thematisch geordnet. Dadurch kann er auf medizinische Details verzichten und die Situationen in den Vordergrund stellen. Diese sind oft komisch, oft hektisch und manchmal auch tragisch. Beispielsweise das Schicksal eines jungen Paares, das in seinem Auto verbrennt, weil der Motor plötzlich Feuer fängt. Oder das Drama der jungen Mutter, die zusammen mit ihrem Kind bei einem Verkehrsunfall stirbt, was der zugedröhnte Unfallverursacher sogar noch komisch findet. In allen Fällen verzichtet der Autor auf unnötigen Voyeurismus oder übertriebenes Fachchinesisch, was das Buch auch für den medizinischen Laien sehr gut lesbar macht.

Ein gutes Buch mit Schwächen
Weil Falk Stirkat den erzählerischen Aspekt in den Vordergrund stellt, lässt sich das Buch zügig lesen. Durch den Verzicht auf unnötige Details lässt sich erahnen, welche Einsätze auch das Rettungsteam emotional berührten. Schwächen offenbaren sich jedoch in einzelnen Details, die über weite Strecken nicht stören. So wirkt der handelnde Notarzt gelegentlich etwas arrogant, was unter dem psychischen Druck eines Notfalleinsatzes aber durchaus verzeihlich ist und bis zu einem gewissen Grad auch erwartet wird. Lediglich das letzte Kapitel, in dem Stirkat die Erfahrungen als Reisearzt schildert, der Patienten zurück nach Deutschland begleitet, wirkt im Vergleich zu den vorhergehenden Kapiteln etwas lieblos.

Was mich ernsthaft stört, ist der mehrfache Hinweis auf die Gefahren des Rauchens, verbunden mit einem Appell an den Leser, das Rauchen aufzugeben. Die Art der Darstellung lässt vermuten, dass der Autor – wenngleich er vielleicht ein hervorragender Notfallmediziner sein mag – wenig bis keine Erfahrung mit Suchterkrankungen hat. Die Schilderung eines Einsatzes mit Lungenmaschine, verbunden mit dem Hinweis, dass dies das offensichtliche Schicksal eines jeden Rauchers ist, wird Nikotinsüchtige ebenso wenig vom Rauchen abhalten können wie die plakativen Warnhinweise auf Zigarettenschachteln.

Mein Fazit
Insgesamt ist „Ich kam, sah und intubierte“ ein empfehlenswertes und spannend geschriebenes Buch. Der Unterhaltungswert ist allerdings eher zwiespältig zu betrachten. Schließlich geht es um menschliche Tragödien, die nur allzu oft tödlich enden.

Falk Stirkat: Ich kam, sah und intubierte
Schwarzkopf & Schwarzkopf 2015
Verlagsvideo zum Buch: https://vimeo.com/130856690
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Ich-kam-sah-und-intubierte-9783862654963
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezension: Sabine Rennefanz, Die Mutter meiner Mutter

Mit dem Satz „Ich habe etwas über deinen Großvater herausgefunden…“ leitet die Journalistin Sabine Rennefanz eine autobiographisch angehauchte Reise in eine persönliche Vergangenheit ein. Die Geschichte einer Familie hat sich bereits kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zugetragen. Jedoch sind die Folgen bis ins 21. Jahrhundert hinein zu spüren, wenngleich sie sich oft nicht artikulieren lassen.

Quelle: www.randomhouse.de
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Der Vergangenheit auf der Spur
Die Hauptfigur des Romans ist Großmutter Anna. Sie musste im Alter von 14 Jahren mit ihrer ungeliebten Stiefmutter und drei Brüdern aus der polnischen Heimat in den Westen flüchten. Die historische Patchworkfamilie nahm in Kosakendorf, einem Flecken in der späteren DDR, Zuflucht. Anna fand eine Anstellung als Magd auf einem Bauernhof. Ihr Leben änderte sich schlagartig, als 1949 der 20 Jahre ältere Friedrich Stein aus der sowjetischen Gefangenschaft zurückkehrt. Er hatte zuvor auf dem Hof gearbeitet. Anna jedoch meidet den Mann, weil sie Angst vor seinen traurig wirkenden Augen hat. Trotzdem wird sie gezwungen, ihr Leben an seiner Seite zu verbringen: Er überfällt sie eines Nachts und vergewaltigt Anna, woraufhin diese schwanger wird. Die Dorfbevölkerung, die Anna Zeit ihres Lebens fremd sein wird, zwingt sie zur Heirat. Sie fügt sich und gebiert drei Töchter, vor denen sie ihr düsteres Geheimnis in jedem Fall verbergen möchte.

Das Knäuel wird entwirrt
Sabine Rennefanz erzählt die Familiengeschichte in der Ich-Perspektive aus der Sicht der Enkelin. Das wirkt in einigen Passagen etwas verwirrend, weil die Geschehnisse aus unterschiedlichen Zeiten oft parallel und in einer Rückblende geschildert werden. Die Autorin bedient sich in ihrer Erzählung jedoch eines sachlich neutralen, fast schon emotionsbefreiten Stils. Das wiederum bewirkt, dass die eigentliche Tragödie und deren Folgen umso eindrucksvoller erscheinen.

Fazit
Sabine Rennefanz ist ein grandioses Werk über die Folgen des verheerenden Krieges in Europa gelungen, die vermutlich in allzu vielen Familien bis in die Gegenwart hinein totgeschwiegen werden. Für manchen Leser kann das Werk Anregung sein, sich auf die Suche nach der eigenen Vergangenheit zu machen. Wer jedoch einige Bruchstücke aus der Kriegsgeschichte der Großeltern kennt, die schreckliche Ereignisse vermuten lassen, entscheidet sich vielleicht eher dazu, endgültig mit der Vergangenheit abzuschließen. Wer Mut gefasst hat, dem sei die Trilogie zu Kriegskindern und Kriegsenkeln von Sabine Bode als Einstieg empfohlen.

Sabine Rennefanz, Die Mutter meiner Mutter
Luchterhand, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Die-Mutter-meiner-Mutter-9783630874548
Autoren der Rezension: Harry Pfliegl / Detlef M. Plaisier

Rezension zu Oliver Kuhn: Alles, was man wissen muss in 140 Zeichen

Die Bemühungen, das aktuelle Wissen der Menschheit kurz und prägnant zu präsentieren, sind vermutlich noch älter als die schriftliche Form der Wissensübermittlung. Und die Gier nach Allgemeinbildung scheint im Zuge von Erfolgssendungen wie „Wer wird Millionär?“ sogar noch gestiegen zu sein. Diesen Anspruch überträgt Oliver Kuhn mit seinem Werk „Alles, was man wissen muss in 140 Zeichen“ auf eine erfrischende Weise in die Gegenwart. Darauf weist auch der Untertitel „Umfassende Allgemeinbildung in Twitter-Länge“ hin, weil in diesem Kurznachrichtendienst maximal Posts mit einer Länge von 140 Zeichen verschickt werden können.

Quelle: www.m-vg.de
Quelle: www.m-vg.de

Von Pontius bis Pilatus und noch viel weiter
Oliver Kuhn präsentiert in seinem Buch kurze Informationshäppchen über die Geschichte der Menschheit, die hellen und dunklen Kapitel der vergangenen 2.000 Jahre und kulturelle Errungenschaften des Menschen. Dabei erhebt der Autor nicht den Anspruch, den Leser selbst umfassend informieren zu wollen. Vielmehr will er seinem Gegenüber Anregungen geben, den persönlichen Wissensschatz in Eigenregie zu erweitern. Dabei fällt wohltuend auf, dass Oliver Kuhn sich vom Kanon der europäischen Geschichtsschreibung entfernt und beispielsweise auch die Wiege der Menschheit oder die Neue Welt mit ihrer Vorgeschichte in eigenen Kapiteln würdigt.

Der Stil: Kurz und prägnant
Der Autor präsentiert seine Informationshäppchen gemäß der Absicht, Wissen in 140 Zeichen präsentieren zu wollen, eher im Stil von Schlagzeilen. Das mag zwar zunächst etwas gewöhnungsbedürftig erscheinen, regt den Leser aber dennoch dazu an, sich tiefergehend mit dem einen oder anderen Thema des Buches auseinanderzusetzen. Kuhn ergänzt seine Häppchen durch einführende Vorworte zu den einzelnen Kapiteln. Dadurch wird es dem Leser erleichtert, den Inhalt in einen größeren Zusammenhang einzuordnen, sich weitergehend zu informieren oder – bei Desinteresse – das jeweilige Kapitel zu ignorieren.

Mein Fazit
Mit „Alles, was man wissen muss in 140 Zeichen“ ist Oliver Kuhn eine amüsante Parodie auf die angeblich notwendige, breit gefächerte Allgemeinbildung gelungen. Es macht Spaß, immer wieder in dem Werk zu schmökern und die eine oder andere Information weitergehend zu recherchieren. So entstand ein kurzweiliges Werk für Leser, die ihr Allgemeinwissen testen oder erweitern wollen.

Oliver Kuhn: Alles, was man wissen muss in 140 Zeichen
riva Verlag, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Alles-was-man-wissen-muss-in-140-Zeichen-9783868837049
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezension: Boris Fishman, Der Biograf von Brooklyn

Ist es ein Schelmenroman? Oder vielleicht ein Sittengemälde über das New York des 21. Jahrhunderts? Oder vielleicht doch eine Neuinterpretation des American Dream? All das mag man in Boris Fishmans Debüt auf der großen literarischen Bühne hineininterpretieren. Doch im Grunde macht er nur eines: eine mit Komik und skurrilen Situationen gespickte Geschichte mit einem Schuss Realität zu garnieren, sodass der Leser nur ungern das Wort ENDE am Schluss liest.

Quelle: www.randomhouse.de
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Wie aus einem Loser ein Betrüger wird
Eigentlich ist Slava Gelman ein kompletter Loser: Trotz aller Bemühungen schafft er es nicht, aus dem Nachwuchs-Pool der Zeitschrift Century in den erlesenen Kreis der Stammautoren aufzusteigen. Und auch der Kontakt zur Familie im jüdisch geprägten Teil Brooklyns beschränkt sich auf ein Minimum, sodass Slava Gelman auch keine allzu erfüllte Freizeit hat. Das ändert sich erst, als seine Großmutter Sofia stirbt. Bedauerlicherweise hat just ein paar Tage zuvor die Konferenz für jüdische Schadensersatzansprüche gegen Deutschland die Familie angeschrieben. Die Kommission will herausfinden, ob Sofia möglicherweise eine Entschädigung für die Zeit des Nationalsozialismus zusteht. Und weil der Enkel ja schließlich so etwas wie ein Schriftsteller ist, bittet Slavas Großvater ihn darum, die Geschichte der jüdischen Familie aufzuschreiben, um eine Entschädigung zu erhalten.

Slavas Brief ist zwar herzzerreißend und erregt Mitleid, entspricht aber in keiner Weise den Tatsachen. In den folgenden Tagen kann sich Slava vor Anfragen aus der Bekanntschaft – allesamt russische Juden – nicht mehr retten. Doch dann droht der Schwindel aufzufliegen. Slava entschließt sich zu einer Lüge, welche die vorherigen Unwahrheiten relativiert, jedoch sein Leben aus den Fugen geraten lässt.

Ein Feuerwerk an skurrilen Situationen
Boris Fishman gibt in seinem ersten Roman einen facettenreichen Einblick in den von russischstämmigen Juden geprägten New Yorker Stadtteil Brooklyn. Dabei bedient der Autor auch so manche klischeehafte Vorstellung, jedoch stets mit einem Augenzwinkern. Damit wird das Lesen über die kleinen Tricksereien, die das Leben etwas einfacher machen, zu einem Vergnügen. Der Leser erhält so einen heiter-leichten Zugang zu einem dunklen Kapitel der jüngeren Geschichte.

Fazit
Mit „Der Biograf von Brooklyn“ präsentiert der Autor das zentrale Thema, die Verfolgung der Juden durch Nazis und Stalinisten, aus einem gänzlich anderen Blickwinkel als die meisten Autoren. Dass er trotzdem authentisch bleibt, verdankt er der eigenen Biographie: Boris Fishman wurde in Minsk geboren und kam als Neunjähriger in die USA. Insgesamt ist das Werk eine der wohl interessantesten Neuerscheinungen zu diesem sensiblen Thema.

Boris Fishman: Der Biograf von Brooklyn
Karl Blessing Verlag, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Der-Biograf-von-Brooklyn-9783896675514
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezension: Darragh McKeon, Alles Stehende verdampft

Ein Tag im April 1986 veränderte alles: Im Atomkraftwerk Tschernobyl war es zu einem Super-GAU – einem für die fortschrittsgläubigen Sowjets unvorstellbaren Ereignis – gekommen. Die ausgetretene Strahlung führte zu Umweltkatastrophen und persönlichen Tragödien. Nachdem die Nachrichten den Eisernen Vorhang passiert hatten, bekam die grüne Bewegung Rückenwind und erstmals wurde ernsthaft über den Ausstieg aus der Atomenergie nachgedacht und gesprochen. Das Reaktorunglück und vor allem die Folgen sind das Thema von Darragh McKeons Debütroman.

Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de
Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de

Ein Kaleidoskop an Geschichten
Von einer Minute auf die andere ist nichts mehr wie es war: Nicht für den 13jährigen Artjom, der erstmals mit den Männern des Dorfes auf die Jagd gehen darf, und als einer der ersten eine erschreckende Entdeckung macht. Er bemerkt, dass das Vieh auf den Weiden aus den Ohren blutet und Vögel vom Himmel fallen. Nicht mehr für den Chirurgen Grigori. Nicht mehr für seine Exfrau Maria und ihren Neffen, das Klavierwunderkind Jewgeni.

Keine der Hauptfiguren und zahllosen Nebenfiguren, deren Geschichte Darragh McKeon erzählt, bleibt von dieser Katastrophe unberührt. Und langsam entsteht im Kopf des Lesers das Bild einer untergehenden Supermacht, die ihr eigenes Schicksal nicht begreifen will. Während die einen, darunter auch Grigori, unmittelbar mit dem Leid konfrontiert werden, bemerken andere die Veränderungen nicht oder nur schleichend. Und dennoch gibt der Autor seinem Werk mit einem Zeitsprung ins Jahr 2011 – Jewgeni ist inzwischen ein gefeierter Pianist – einen fast versöhnlichen Schluss.

Wenn das Grauen zur Realität wird
Darragh McKeon erzählt seine Geschichte ohne jegliche Wertung und mit viel Liebe zum Detail. So erwähnt er in einer Randnotiz etwa auch Mathias Rusts Flug nach Moskau und die Landung auf dem Roten Platz, die für großes internationales Aufsehen sorgte. Auch Grigoris verzweifelte Versuche, vor den Gefahren der atomaren Strahlung zu warnen, werden durchaus realistisch geschildert. Die Szenen, in welchen die Auswirkungen des Super-GAUS auf die Menschen geschildert werden, wirken hingegen fast lakonisch nüchtern. Beispielsweise, wenn der Autor von den riesigen Geschwülsten erzählt oder von dem Mädchen, das ohne Scheide geboren wird und deshalb notoperiert werden muss. Das Grauen dieser Szenen wird für den Leser umso greifbarer, als sich diese wohl tatsächlich so oder so ähnlich zugetragen haben könnten.

Mein Fazit
Darragh McKeon ist trotz einiger unnötiger Längen im Storytelling ein hervorragender Erstlingsroman zu einem anspruchsvollen Thema gelungen. „Alles Stehende verdampft“ dürfte vor allem so manchem Leser der Generation 40plus eine Gänsehaut bescheren, die sich an die Katastrophe von Tschernobyl als junge Zeitzeugen erinnern.

Darragh McKeon, Alles Stehende verdampft
Ullstein, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Alles-Stehende-verdampft-9783550080845
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezension: David Foenkinos, Charlotte

Bücher über Künstler gibt es viele. Biografien, Analysen, Erklärungen, alle haben ihre Berechtigung. Kaum einem Buch gelingt es aber, das Wesen eines Künstlers, seinen Antrieb bei der Schaffung seiner Werke und seine Kunst an sich zu erfassen. Kann dies überhaupt möglich sein? David Foenkinos versucht in „Charlotte“ das Unmögliche: von Charlotte Salomon nicht nur zu schreiben, sondern sie wieder lebendig werden lassen.

Quelle: www.randomhouse.de
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Scheitern an der Realität
Über Charlotte Salomon hängt ein dunkler Schatten: in der Familie ihrer Mutter geht eine psychische Erkrankung um, die früher oder später die meisten der Betroffenen in den Selbstmord treibt. So auch Charlottes Mutter, als sie selbst noch ein kleines Kind ist. Der Vater, ein angesehener Arzt, ist untröstlich und verliebt sich doch wieder in die gefeierte Sängerin Paula. Damit zieht Leben in das Haus der Salomons ein: Künstler und Intellektuelle geben sich die Klinke in die Hand. Und Charlotte entdeckt ihr Talent und ihre Leidenschaft: sie möchte Malerin werden. Doch im Deutschland der 1930er Jahre, nach der Machtergreifung der Nazis, muss sich die jüdische Familie Salomon der Realität beugen. Charlottes Traum eines Kunststudiums scheint zu platzen. Als sich die Ereignisse immer mehr zuspitzen, flüchtet Charlotte schließlich zu den Großeltern nach Südfrankreich. Sie gewinnt damit ein paar Jahre Zeit, um zu leben, sich zu verlieben und auch, getrieben von der Angst vor den Nazis, um ihr Leben in einer gemalten Bildgeschichte für immer aufzuzeichnen.

Ungewöhnlicher Stil macht die Geschichte lebendig
David Foenkinos erzählt „Charlotte“ auf ganz eigene Art und Weise. Kurze Sätze, viele Absätze, kein fließender Text. Ein ungewöhnlicher Stil für eine ungewöhnliche Künstlerin und ihre Geschichte. Diese Art des Erzählens, von der Foenkinos im Buch selbst sagt, sie habe sich ihm aufgezwungen, schafft das, was eher unmöglich scheint: Charlotte und ihre Familie werden lebendig. Obwohl nicht sehr detailreich, habe ich als Leser doch das Gefühl, nicht aus der Ferne zu beobachten, sondern immer mitten im Geschehen zu sein. Exemplarisch am Beispiel von Charlotte Salomon lebt so das Grauen eines Zeitalters wieder auf.

Fazit
Künstler haben nicht umsonst den Ruf, ein wenig wirr, launisch und sprunghaft zu sein – und dennoch Großes schaffen zu können. In „Charlotte“ spiegelt das ganze Buch genau dieses Klischee wieder, das keines ist. Ich werde gefangen genommen – und hoffe bis zum Schluss, alles möge gut enden, obwohl ich es doch besser weiß.

David Foenkinos, Charlotte
DVA, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Charlotte-9783421047083
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezension: Yorck Kronenberg, Tage der Nacht

Fast alle Menschen haben diese Erinnerungen, die nur schemenhaft sind und im Hintergrund lauern. Erinnerungen, die prägen, und doch vergessen werden müssen, will man geistig gesund blieben. Nur in den langen Nächten, wenn der Schlaf fehlt, sind sie plötzlich wieder greifbar. Yorck Kronenberg begleitet in seinem Roman „Tage der Nacht“ seinen Protagonisten durch eben jene Nächte, auf der Suche nach Schlaf und Erlösung.

Quelle: www.dtv.de
Quelle: www.dtv.de

Vergessen, aber nicht vergeben
Anton ist Literaturwissenschaftler aus Frankfurt und zieht nach der Pensionierung mit seiner Frau in ein Haus in einem englischen Küstenstädtchen. Dort, fernab der Großstadt, wähnt er sich in Ruhe und Sicherheit, doch das täuscht. Eines Nachts brechen drei Personen in das Haus ein und rauben Anton aus. Obwohl er und seine Frau unverletzt bleiben, weckt das Erlebnis die Erinnerung an seine Kindheit in Berlin in den 1930er und 1940er Jahren. Längst wähnte Anton diese vergessen, doch sie sind plötzlich wieder präsent und rauben ihm den Schlaf. Als Kind war „Toni“ hin- und hergerissen zwischen dem Musiker-Vater, der das Hitler-Regime verachtete und vielleicht auch deswegen künstlerisch eher erfolglos war, sowie der Mutter und dem Großvater, in dessen Uhrenwerkstatt Hitler offen befürwortet wurde. Mit der Verständnislosigkeit des Kindes erlebt Toni die Beziehungskrisen der Eltern und muss schließlich mit ansehen, wie der Vater verhaftet und abgeführt wird. Getrieben von diesen Bildern, macht sich der alte Anton schließlich in einer schlaflosen Nacht auf eine Wanderung entlang der Küste, um sich den erlebten Traumata aus allen Zeiten zu stellen.

Wenn Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen
Yorck Kronenberg spielt in „Tage der Nacht“ mit verschiedenen Zeitebenen: Das Kind Toni, Anton während des Überfalls und Anton im Jetzt wechseln sich ohne sichtbare Kennzeichen und logische Reihenfolge ab. Ganz so, wie es im Kopf von Anton vermutlich von einer Szene zur anderen springen würde. Damit gelingt Kronenberg ein aufwendiges Bild von Antons Psyche, ganz ohne Pathos, das dennoch vermittelt, wie sehr die einzelnen Ereignisse seine Persönlichkeit prägten.

Fazit
„Tage der Nacht“ ist ein eher stilles Buch, das ein sehr genaues Psychogramm eines Menschen zeichnet, der unter dem Nazi-Regime aufgewachsen ist. Durch den kindlichen Blick ist der Eindruck des Erlebten viel unverfälschter und stärker, als es eine Psychoanalyse je sein könnte. Wer sich auf die plötzlichen Sprünge in Antons Gedankenwelt einlässt und zuhört, wird begreifen, warum wir manches nie vergessen dürfen.

Yorck Kronenberg, Tage der Nacht
dtv, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Tage-der-Nacht-9783423280600
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezension zu Marie Moutier: Liebste Schwester, wir müssen hier sterben oder siegen. Briefe deutscher Wehrmachtssoldaten.

Muss ein weiteres Buch zum Thema Zweiter Weltkrieg wirklich noch sein, mag sich der Leser bei der ersten Betrachtung von „Liebste Schwester, wir müssen hier sterben oder siegen“ vielleicht fragen. Diese Frage erübrigt sich jedoch beim zweiten Blick auf das umfangreiche Buch. Es beleuchtet die Geschehnisse an den Kriegsschauplätzen in Europa, Russland und Afrika aus einer Perspektive, die in der offiziellen Geschichtsschreibung eher eine Randnotiz darstellt.

Quelle: www.randomhouse.de
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Briefe von der Front an die Heimatfront
In einer allgemeinen Einführung schildert die französische Historikerin und Germanistin Marie Moutier ihre Herangehensweise und so manche Problematik, die sich aus der Auswahl der Briefe ergab, als sie aus dem umfangreichen Fundus der Berliner Museumsstiftung Post und Telekommunikation ihre Auswahl an Feldpostbriefen deutscher Soldaten in die Heimat getroffen hatte. Wie die Autorin im Vorwort schreibt, hat sie diese Auswahl unter verschiedenen Gesichtspunkten getroffen. Einerseits sollten die Feldpostbriefe von allen Kriegsschauplätzen aus allen Phasen des Krieges stammen. Andererseits differenzierte sie auch nach den Adressaten der Briefe. Schließlich haben sich die Soldaten in Briefen an die Partnerin anders ausgedrückt als etwa in Briefen an die Eltern. Ergänzt wird das Werk durch ein Vorwort des Historikers Timothy Snyder.

Ein Blick in die Seele der Soldaten
Marie Moutier verzichtet komplett auf eine Wertung der Briefe. Sie schildert lediglich in kurzen Einführungen den Kriegsschauplatz und den zeitlichen Zusammenhang. Dies gibt dem Leser insofern eine Hilfestellung, als viele Soldaten an unterschiedlichen Fronten gekämpft haben und von einzelnen Soldaten mehrere Briefe aus verschiedenen Phasen des Krieges abgedruckt werden.

Durch die Auswahl der Briefe gelingt es der Autorin, ein menschliches Bild von Soldaten zu zeichnen, die allzu oft zu unmenschlichen Taten gezwungen wurden. In einzelnen Fällen lässt sich auch die persönliche Entwicklung der Soldaten nachverfolgen: Die anfängliche Begeisterung für den Krieg und das nationalsozialistische Regime weicht mit zunehmendem Kriegsverlauf der Skepsis über den Ausgang der Schlachten. Mitläufer wurden in vielen Fällen zu stummen Widerständlern, die an der Front einfach nur überleben wollten.

Mein Fazit
„Liebste Schwester, wir müssen hier sterben oder siegen“ gibt einen menschlichen Einblick in die schrecklichsten Jahre, die Europa während des 20. Jahrhunderts durchlebt hat. Das Werk hätte durchaus das Potenzial, im Rahmen des Geschichtsunterrichtes eingesetzt zu werden. Denn obwohl ihre Großeltern noch direkt oder indirekt vom Krieg betroffen waren, wirkt der Zweite Weltkrieg für die nach dem Mauerfall Geborenen als eine andere, ferne, ja fremde Epoche und ist oft zu abstrakt, um die Zusammenhänge wirklich begreifen zu können.

Marie Moutier: Liebste Schwester, wir müssen hier sterben oder siegen
Originaltitel: Lettres de la Wehrmacht. Übersetzt von Michael von Killisch-Horn
Karl Blessing Verlag, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/-Liebste-Schwester-wir-muessen-hier-sterben-oder-siegen–9783896675521
Autor der Rezension: Harry Pfliegl

Rezension: Larry Tremblay, Der Name meines Bruders

Angesichts der jüngsten Terroranschläge des IS in Paris hat Larry Tremblays Roman „Der Name meines Bruders“ eine erschreckende Aktualität: Der Autor zeigt auf, wie leicht sich Menschen verführen lassen, um Rache zu nehmen für ein echtes oder vermeintlich geschehenes Unrecht. Zugleich dokumentiert er, wie die Mechanismen der Manipulation von Menschen auch im 21. Jahrhundert bestens funktionieren.

Quelle: www.chbeck.de
Quelle: www.chbeck.de

Die Handlung
Der Autor erzählt die Geschichte einer Familie, die sich an einem namenlosen Ort – die Beschreibungen lassen auf den Nahen oder Mittleren Osten schließen – im Krieg befindet. Die Großeltern der Zwillinge Amed und Aziz hatten ein Stück Wüste urbar gemacht und damit die Lebensgrundlage für die ganze Familie geschaffen. Eines Nachts zerstört eine Bombe den scheinbaren Frieden. Sie schlägt im Haus der Großeltern ein und tötet beide. Damit endet die Kindheit der Neunjährigen abrupt.

Einer der Zwillinge soll für den Tod seiner Großeltern Rache nehmen und – ausgestattet mit einem Sprengstoffgürtel – ein Selbstmordattentat im nahe gelegenen Munitionslager des Feindes verüben. Da Amed an einem Gehirntumor leidet und ohnehin sterben würde, wird Aziz ausgewählt, um Gott ein möglichst großes Opfer darzubringen. Weil die Mutter nicht beide Söhne verlieren möchte, heckt sie zusammen mit den Kindern einen Plan aus. Doch schließlich kommt alles ganz anders…

Wenn Menschen zu Werkzeugen werden
Larry Tremblay schildert in seinem einfühlsamen Werk, wie einfach es zu sein scheint, Menschen zu manipulieren und für falsche Zwecke zu missbrauchen. Damit gibt Tremblay wohl unvermutet auch einen Einblick in die Seelenwelt potenzieller Selbstmordattentäter und zeigt, dass diese auch nur Menschen mit Träumen und Ängsten sind und vielfach vielleicht einfach nur von falschen Propheten verführt wurden.

Der Autor verzichtet auf actionreiche Elemente und schildert eine Geschichte, wie sie sich in der Vergangenheit genauso zugetragen haben könnte und vermutlich auch zugetragen hat. Doch genau die Normalität im Angesicht des Terrors ist es auch, die mir als Leser zumindest Unbehagen bereitet. Erst recht, wenn sich die Geschichte zum Schluss auflöst und sich zeigt, dass ein geschickter Manipulator ausgereicht hat, um das Leben vieler Unschuldiger wegen einer Lüge zu zerstören.

Mein Fazit
Angesichts der Ereignisse in den vergangenen Jahren wurde „Der Name meines Bruders“ völlig zu Recht in Kanada zur Pflichtlektüre an den Schulen erhoben. Das Werk lässt in die Seele von Menschen blicken, die in der westlichen Welt schnell als Verbrecher abgestempelt werden, obwohl sie es vielleicht nicht sind. Angesichts der jüngsten Entwicklungen im Zuge der Flüchtlingsströme aus Syrien ist das zeitlos angelegte Werk erschreckend aktuell und bietet intellektuellen Zündstoff für Westeuropäer, die sich ernsthaft mit der Thematik auseinandersetzen wollen.

Larry Tremblay, Der Name meines Bruders. Aus dem Französischen von Angela Sanmann.
Verlag C.H. Beck, München 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Der-Name-meines-Bruders-9783406683411
Autor der Rezension: Harry Pfliegl