Rezension: Paula Bomer, Baby

Bereits vor einiger Zeit erschien im Leipziger Open House Verlag Paula Bomers Erzählungsband „Baby“. Bevor sich die Autorin im Herbst dieses Jahres mit ihrem neuen Werk „Neun Monate“ auf Lesereise begibt, lohnt es sich, einen kurzen Blick auf ihre erste Veröffentlichung in deutscher Übersetzung zu werfen.

Zur Autorin
Paula Bomer, geboren in Indiana, ist ein kleines Mysterium, was ihre Vita betrifft. Denn obwohl sie bereits eine Vielzahl von Essays und Geschichten veröffentlicht hat, bleiben doch die klassischen Angaben zum Werdegang im Verborgenen. Auf ihr Debüt „Baby and Other Stories“ folgten bisher zwei gefeierte Romane. Heute lebt Paula Bomer in New York.

Quelle: openhouse-verlag.de
Quelle: openhouse-verlag.de

Kindergeschrei und Beziehungsbrei
„Baby“ vereint zehn kurze Erzählungen. Alle beschreiben die Schattenseiten des Alltagslebens und zwischenmenschlicher Beziehungen – und alle haben eines gemein: Die Protagonisten stehen nach einem Einschnitt in ihrem Leben vor einer großen Ungewissheit, werden mit dem Ergebnis einer falschen Entscheidung konfrontiert. Sei es die Krankheit der ungeliebten Ehefrau zu ignorieren oder ein Baby zu bekommen in der Hoffnung, das süße kleine Zauberwesen könnte eher Spaß als Anstrengung sein. Der Leser folgt den Figuren in ihre tiefsten Gedanken und erhascht so einen Blick hinter die Zuckergussfassade der weißgetünchten Gartenhäuser.

Der Funke Wahrheit im Abgrund
So niedlich der Titel auch anmutet: „Baby“ ist etwas härtere Kost und nicht als spaßige Lektüre am Baggersee gedacht. Bomers Protagonisten sind aggressiv, wütend und zum Teil schon so verbittert, dass sie die Welt nur noch zynisch und verächtlich betrachten können. Dabei bedient sich die Autorin einer sehr klaren Bildsprache, etwa wenn sie in „Die Mutter seiner Kinder“ den spießigen Ted davon fantasieren lässt, wie er seinen Chef vergewaltigt. Nicht alle Figuren sind sympathisch und das ist gut so! Gerade die Schwächen und Abgründe machen Bomers Figuren so lebensecht. Mancher Leser mag sich ertappt fühlen, dass auch er schon solche Gedanken hegte, sie dann aber doch wieder vergrub, so wie Karen, die während eines Treffens der Anonymen Alkoholiker offen sagt, sie vermisse das Trinken.

Mein Fazit
Die krassen und am Ende immer offenen Erzählungen haben mich zu Beginn überrannt. Doch mit jedem Kapitel haben mich Bommers Figuren und deren Sichtweise der Welt mehr gefesselt. Allerdings empfehle ich, das Buch in kleinen Happen zu genießen, denn die teilweise bitterböse Kost liegt schwerer im Magen, als es das Cover vermuten lässt.

Paula Bomer, Baby. Erzählungen.
Open House Verlag, Leipzig 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Paula-Bomer-BABY-9783944122083
Autorin der Rezension: Jasmin Beer

Rezension: Stephanie Jana & Ursula Kollritsch, Das Jahr des Rehs

Romane in Form von E-Mails sind mittlerweile nichts Neues mehr. In „Das Jahr des Rehs“ stammen diese aber nicht nur aus einer Feder: Zwei Protagonistinnen und zwei Autorinnen treffen in diesem Buch aufeinander.

Zu den Autorinnen
Ursula Kollritsch, geboren 1972, und Stephanie Jana, Jahrgang 1975, tauschen wie ihre Romanfiguren fast jeden Tag E-Mails aus. Die freiberufliche Lektorin und die Texterin reden dabei sowohl über Berufliches als auch über Privates. Beide leben mit ihren Familien in Bad Honnef.

Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de
Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de

Nach langer Zeit wieder vereint
Seit 17 Jahren haben sich die Freundinnen Bella und Bine aus den Augen verloren, bis plötzlich bei der Architektin Bine eine E-Mail ihrer ehemals besten Freundin eintrifft. Schnell ist die lange Funkstille zwischen beiden vergessen: Gemeinsam erinnern sie sich an alte Schulfreunde und Liebhaber, lesen gespannt von den Lebenspfaden der anderen. Während Bine mit Mann und Kindern in der hessischen Heimatprovinz lebt, hat es die aufgeweckte Journalistin Bella mit ihrem Sohn nach Berlin verschlagen. Ihre große Liebe, Lebenspartner Andrej, schaut dort nur selten und gerne unangekündigt vorbei. Die Freundinnen schreiben einander über ein ganzes Jahr hinweg von kleinen Anekdoten des Alltags bis hin zu den großen Dramen des Lebens, teilen wie alte Freundinnen Freud und Leid.

Von Rehen und Hühnern
Jana und Kollrisch behalten die typischen Elemente des Mail-Romans bei, verzichten auf alles Geschnörkel außerhalb des Webs. So bleiben für den Leser aber auch die Inhalte der Telefonate und der beiden Treffen zwischen Bine und Bella verborgen. Es entstehen Handlungslücken, die auf die Dauer den Leser von den Protagonistinnen entfremden. Die Verteilung der Figuren auf zwei Autorinnen funktioniert erstaunlich gut, denn die Freundschaft der beiden 40-jährigen Frauen und ihr „Wiedersehen“ nach vielen Jahren wirkt sehr glaubhaft, sowohl in der Charakterisierung als auch in ihrem Sprachgebrauch. Bella ist die scheinbar etwas aufgeschlossenere und mutigere. Allerdings vergisst sie auch nicht, ihre beste Freundin in mindestens jeder fünften E-Mail darauf hinzuweisen, dass sie in Berlin lebt. Bine ist etwas ruhiger und lernt erst mit der Zeit aus sich herauszugehen. Als Gegenstück muss sie zunächst aber regelmäßig betonen, wie normal ihr Leben doch sei – fast schon langweilig.

Die Handlung des Romans verläuft trotz der guten Idee erstaunlich banal und einige der Schicksalsschläge wirken arg konstruiert. Bevor sich etwas Lesevergnügen einstellt, müssen einige Seiten gackernder „Bist du es wirklich?!“ überwunden werden.

Fazit
Am Ende fehlt dem Buch Schwung. Auch den großen Dramen des Lebens geht spätestens nach der Hälfte des Buches die Puste aus, bis die E-Mails schließlich nur noch so dahinplätschern. Wer Glattauers „Gut gegen Nordwind“ mochte, ist hier gut aufgehoben.

Stephanie Jana & Ursula Kollritsch, Das Jahr des Rehs
List Taschenbuch, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Das-Jahr-des-Rehs-9783548612867
Autorin der Rezension: Jasmin Beer

Rezension: Nina Blazon, Liebten wir

Nachdem Nina Blazon bereits großen Erfolg in der Fantasy-Literatur feierte, stellt sie nun ihren ersten Roman für ein erwachsenes Publikum vor, der beinahe ohne mythologische Gestalten auskommt.

Zur Autorin
1969 in Slowenien geboren, wuchs Nina Blazon in Bayern auf und studierte in Würzburg Germanistik und Slawistik. Nachdem sie bereits als Journalistin und Werbetexterin arbeitete, veröffentlichte sie 2003 ihren ersten Fantasy-Roman, den sie zu einer Reihe ausbaute. Knapp 30 Bücher hat sie bis heute geschrieben und erhielt unter anderem 2003 den Wolfgang-Hohlbein-Preis für fantastische Literatur sowie 2013 die „Kalbacher Klapperschlange“, ein Literaturpreis, der von einer Kinderjury vergeben wird. Nina Blazon lebt mit ihrer Familie in Baden-Württemberg.

Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de
Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de

Familien und andere Katastrophen
Was kann alles schief gehen, wenn man das erste Mal der Familie des neuen Freundes vorgestellt wird? Gäbe es in dieser Rubrik eine Katastrophenskala, Mo hätte eine volle 10 erreicht. Erst wird sie von ihrer eigenen Schwester vorgeführt, dann tötet sie den Kanarienvogel ihrer Schwiegereltern in spe. Und das sind nur zwei der traurigen Höhepunkte eines Nachmittags. Am Ende flieht die junge Fotografin vor dem Chaos mit dem Wagen ihres nun Ex-Freundes Leon und hat dessen eigensinnige Großmutter Aino gleich mit im Gepäck. Die beiden haben eines gemeinsam: Sie wollen weg und Aino hat auch schon einen Plan. Mit einigen Schwierigkeiten und vielen Streitereien begeben sich die ungleichen Frauen in auf die Spuren von Ainos Vergangenheit. Immer dabei: Ein mysteriöser Karton, der die Geheimnisse um Mos Kindheit birgt.

Durch die Linse
Wem vertrauen wir unsere Geheimnisse an und welche behalten wir ganz für uns? Diese Frage zieht sich durch das ganze Buch und Nina Blazon achtet sehr darauf, keine ihrer Figuren zu schnell zu entblättern. Im Mittelpunkt stehen die beiden auf ihre jeweils eigene Art und Weise eigenwilligen Frauen Mo und Aino. Die besondere Fähigkeit der jungen Mo besteht darin, hinter die zurechtgemachte Fassade von Familienbildern zu blicken. So wird der gesamte Roman aus ihrem Blickwinkel erzählt, während sie sich bemüht, hinter die Vergangenheit Ainos zu kommen. Dabei deckt sie aber ihre eigene Geschichte nur häppchenweise für den Leser auf, ebenso wie die alte Finnin ihre Beweggründe und die Geschehnisse in Helsinki während des Zweiten Weltkriegs nur ungern preisgibt.

Mein Fazit
Nina Blazon verwebt mit viel Feingefühl Familiendrama mit finnischer Geschichte und hat immer wieder ein Ass im Ärmel, wenn der Leser alle Geheimnisse entschlüsselt zu haben glaubt. Zugegeben: Der etwas kitschige Einband des Romans hat mich zu Beginn doch etwas abgeschreckt. Doch zwischen den Buchdeckeln steckt ein fesselnder Roman mit vielschichtigen Figuren und spannenden Wendungen. Nina Blazon zeigt, dass sie mehr als Fantasy kann.

Nina Blazon, Liebten wir
Ullstein, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Liebten-wir-9783548285771
Autorin der Rezension: Jasmin Beer

Rezension: Dagmara Dominczyk, Wir träumten jeden Sommer

Mit Schauspielern, die sich als Autoren ausprobieren, ist es ja oft so wie mit Sängern, die plötzlich große Kinohits produzieren wollen: Viel heiße Luft und jede Menge Selbstbeweihräucherung. Nun hat Dagmara Dominiczyk ihren Debütroman vorgelegt.

Zur Autorin
1976 in Polen geboren, emigrierte die Autorin im Alter von sieben mit ihrer Familie nach New York. Später studierte sie am renommierten Carnegie Mellon University Dramaturgie, spielte unter anderem am Broadway, bis sie schließlich 2001 eine kleinere Rolle in Rock Star erhielt. Es folgten weitere Auftritte in Kinsey und Running with Scissors. Heute lebt Dagmara Dominczyk mit ihrem Mann und zwei Kindern in New Jersey.

Quelle: www.suhrkamp.de
Quelle: www.suhrkamp.de

Die Sommer einer Jugend
Für Anna ist es wie ein Traum, als sie nach vielen Jahren endlich wieder ihren Heimatort wiedersehen kann. Nachdem ihre Familie aus politischen Gründen in die USA geflüchtet war, sieht sie 1989 endlich ihre Großeltern wieder und findet mit ihrem Exotenstatus als Mädchen aus Amerika sofort auch viele Freunde unter den Kindern in ihrem Ort. Sie kehrt im nächsten Jahr zurück und verbringt von nun an die Sommer gemeinsam mit ihren zwei besten Freundinnen, der schüchternen Kamila und der schönen Justyna, am See und in den Hügeln der Umgebung. Typische Mädchenthemen und Eifersucht adoleszente Eifersüchteleien kreisen stetig zwischen ihnen, bis der Sommer kommt, in dem Anna ihre Unschuld verliert. Sie wird von einem der Jungen aus der Gruppe vergewaltigt, traut sich aber nicht darüber zu reden. Daraufhin wendet Anna ihrer Heimat den Rücken zu.

Viele Jahre später steht das Leben der drei Freundinnen, die sich schon lange aus den Augen verloren haben, am Scheideweg: Anna ist eine berühmte Schauspielerin geworden. Sie versteckt sich vor ihrem Manager und vor allem dem Ende ihrer Beziehung. Nach dem schockierenden Geständnis ihres Ehemannes flüchtet Kamila zu ihren Eltern in die USA und Justyna sitzt mitten in der Nacht mit ihrem kleinen Sohn in dem Haus, in dem soeben ihr Mann von ihrem Schwager ermordet wurde. Können diese Schicksalsschläge die Freundinnen nach so langer Zeit wieder zusammenführen…

Frauenroman oder Entwicklungsroman?
Dagmara Dominczyk schreibt sicher und nüchtern sowohl über die Jugendepisoden der drei Protagonistinnen als auch über die Ereignisse in folgenden Jahren. Durch den stetigen Sprung zwischen den vergangenen Sommern in Polen und den aktuellen Geschehnissen schaffst sie es, die Handlung interessant und spannend zu halten. Sofort fallen die Verbindungen zur eigenen Biographie der Autorin ins Auge, womit besonders die Figur Anna sehr plastisch und lebensecht wirkt. Ihre beiden Freundinnen hingegen erstarren in ihren Stereotypen: Justyna als gefallene Schönheit, Kamilla als die pummelige und ewig graue Maus. Genau wie diese beiden Gegensätze steckt der Roman zwischen leichter Sommerlektüre und Coming of Age-Drama fest. Für ersteres ist der Roman zu ernst und für letzteres streift er die wichtigen Themen zu oberflächlich.

Mein Fazit
Ein sehr gelungenes Debüt, das meine Erwartungen übertroffen, aber leider zu viele interessante Aspekte der Geschichte übergangen hat. Der Roman hat bei mir kein wirkliches Echo hinterlassen, nachdem er wieder im Regal stand.

Dagmara Dominczyk, Wir träumten jeden Sommer
Insel Verlag, 2014
Dagmara Dominczyk in der Darian Library 2013 (englisches Original): https://www.youtube.com/watch?v=RxxKqrJ66ZU
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Wir-traeumten-jeden-Sommer-9783458175940
Autorin der Rezension: Jasmin Beer

André Herzberg bei Lehmanns. Oder: Was passiert, wenn Autoren auch noch singen können

Endlich wieder Dienstag, endlich wieder Leseabend bei Lehmanns. Auf diesen Abend hatte ich mich schon sehr gefreut, denn bereits einige Wochen zuvor hörte ich in vielen Gesprächen, dass André Herzberg auf der Bühne ein wahres Erlebnis sei – als Musiker wie Autor.

Bereits eine halbe Stunde vor Beginn der Veranstaltung, während Kunden noch plaudernd durch die Bücherreihen schlendern, keimt in mir das Gefühl: Dieser Abend wird anders. Der Tisch auf der kleinen Bühne ist beiseitegeschoben worden und André Herzberg ist mit der Technik beschäftigt. Seine Gitarre will gestimmt und korrekt an den Verstärker angeschlossen sein. Routine für den Musiker, den die meisten Gäste an diesem Abend vor allem als Sänger der Berliner Rockband Pankow kennen. Nur ich nicht. Ich musste das in Vorbereitung auf die Lesung recherchieren, weil ich einfach zu jung bin und meine Mutter eben mehr Interesse für Marianne Rosenberg an den Tag gelegt hatte.

Lesung André Herzberg bei Lehmanns 09. Juni 2015. Foto Detlef M. Plaisier (55)André Herzberg steht selbstverständlich nicht das erste Mal in Leipzig auf einer Bühne. Erst vor wenigen Wochen hatte er sein Buch „Alle Nähe fern“ im Rahmen der Buchmesse präsentiert und auch an diesem Dienstag wird er nach Ladenschluss von den drei Generationen einer Familie lesen, die ihren Platz und ihre Zugehörigkeit suchen und sich dabei immer mehr voneinander entfernen. „Je näher das Buch in die Gegenwart kommt, umso autobiographischer wird es“, lächelt Herzberg gleich zu Beginn der Lesung die meist gestellte Frage souverän weg.

Vom Kaiserreich bis heute zieht sich der Roman, folgt der männlichen Linie vom Ablegen des jüdischen Glaubens durch den Vater zu Gunsten des Kommunismus bis zur Wiederentdeckung durch den Sohn. Die Parallelen zwischen Buch und Herzbergs eigener Familiengeschichte sind offensichtlich. Auch der Lesung verleiht er diese Persönlichkeit, denn zu Beginn singt er mit seiner klaren und doch etwas rauchigen Stimme ein Lied über das Märchen der Freiheit, spricht frei mit dem Publikum. Er gibt jedem im Raum das Gefühl, man sitze mit ihm bei einem Bier in einer urigen Kneipe. In seinem sympathischen Berliner Dialekt erzählt Herzberg, wie Heinrich Zimmermann aus dem ersten Weltkrieg nach Hause kommt oder wie dessen Enkel Jakob aus einem wirren Traum seiner Beschneidung erwacht, die sein kommunistischer Vater jedoch nie zuließ. Zwischendurch greift er wieder zur Gitarre, steht beim Applaus auf, gibt gern den Rufen nach Zugabe nach.

www.ullsteinbuchverlage.de
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Er plane das auch ein, erzählt Herzberg, je nachdem wie das Publikum in Stimmung sei und auch, um die Aufmerksamkeit der Zuhörer rund um die ernsten Themen wie Nationalsozialismus, Nachkriegszeit und Existenzangst aufrecht zu halten. Herzberg sucht für jeden neuen Auftritt die passenden Passagen im Roman und Lieder aus. Jeder Auftritt ist anders. Man kann ihm förmlich dabei zusehen, wie er zwischen der Rolle des Autors und der des Musikers hin- und herspringt, in seiner Körperhaltung, seiner Stimme. Er liest, wie es nur wenige Autoren können, und gerade das hat dem Abend eine ganz besondere Note verliehen.

Ich habe André Herzberg sowohl als Autor als auch als Musiker kennen lernen dürfen. Aber zwei Dinge sind in jeder seiner Rollen gleich geblieben: Sein Hut und seine roten Turnschuhe – er möchte ja auch wiedererkannt werden. Mein Buch signiert André Herzberg schlicht mit dem Vornamen. Ein Überbleibsel aus der Musikerzeit, sagt er. Es ginge einfach schneller.

Autorin Jasmin Beer hat inzwischen einen festen Platz bei den Leseabenden von Lehmanns. Eine Rezension zum Buch gibt es hier. Rezensentin Carina Tietz schreibt: „André Herzberg baut mit nur wenigen, aber intensiven Worten eine Dramatik auf, die mich fesselt.“

Alle Fotos: Detlef M. Plaisier

Verlagsperlen bei Lehmanns: Der Open House Verlag reist mit Nicola Nürnberger von West nach Ost

Buchhandel lebt von der Liebe zum Buch und vom unermüdlichen Engagement Einzelner. Und so darf es auch mal gesagt werden, dass sich Lehmanns Media durch die Leselust und die Kontakte von Buchhändlerin Franka Schloddarick zum Indie-Flagschiff der Leipziger Buchhandlungen gemausert hat. Das findet Ausdruck durch Extratische, engagierte Beratung und im Veranstaltungsprogramm. Jeden letzten Dienstag im Monat heißt es in der Grimmaischen Straße: Vorhang auf für Verlagsperlen aus dem Indiebereich! Zur Programm-Sneak Preview im Mai hatte Verleger Rainer Höltschl vom Leipziger Open House Verlag die Hausautorin Nicola Nürnberger mitgebracht. Blogautoren Jasmin Beer und Detlef Plaisier waren dabei.

Open House LogoEin österreichischer Literaturwissenschaftler und eine niedersächsische Philosophin mit Visionen in Leipzig – das war vor dreieinhalb Jahren der Startschuss von Rainer Höltschl und Christiane Lang zu einem ungewöhnlichen, mutigen Verlagsprojekt. Schon die Namenswahl setzte Zeichen: „Open House“ sollte in eine verlegerische Lücke stoßen und in der Messestadt die Nähe zu Buchmesse, zum Deutschen Literaturinstitut DLL sowie zu den Hochschulen HTWK und HGB nutzen.

Bei Lehmanns plauderte Rainer Höltschl offen aus dem Nähkästchen und skizzierte die schwierige Anfangszeit, die Liebe zur Gestaltung und die determinierenden unternehmerischen Komponenten: Besaß das erste Buch aus dem Open House Verlag noch einen aufwendig gestalteten Schutzumschlag, Fadenbindung und eine eigene Typographie, so wird bei den Neuerscheinungen des Herbstprogrammes auf einen Schutzumschlag verzichtet – schließlich nehme den ja auch jeder ab, damit der Umschlag unversehrt bliebe (verstohlener Seitenblick beider Autoren: schuldig im Sinne der Anklage).

Verleger Rainer Höltschl mit Autorin Nicola Nürnberger bei Lehmanns. Foto: Detlef M. Plaisier
Verleger Rainer Höltschl mit Autorin Nicola Nürnberger bei Lehmanns. Foto: Detlef M. Plaisier

Dafür ist das Programm inzwischen breiter geworden. Vor zwei Jahren kündigten die Verleger drei Reihen an: „Reihe 1“ mit moderner und junger Literatur, dazu „Backup“ als Sammelbecken vergessener und verkannter Klassiker und „Seismograph“ für Sachbücher. Der Vorsatz, im Programm der „Reihe 1“ ausschließlich deutsche Schriftsteller sowie Übersetzungen aus dem Englischen und Norwegischen zu bündeln, bröckelt aktuell: Es laufen vielversprechende Gespräche mit einem Autor aus dem ehemaligen Jugoslawien. Da ist ein handfester Schuss Politik zu erwarten, was Verleger Höltschl durchaus begrüßt.

„Autoren wollen einen guten Vertrieb, jeder Vertrieb will gute Autoren“. Rainer Höltschl ist stolz, dass Open House den Sprung in den exklusiven Zirkel geschafft hat. Wie, das bleibt ebenso ein Geheimnis wie die genaue Auflagenhöhe der Publikationen. Bleibt die Frage, wie Open House neue Autoren rekrutiert. Talente sind schon früh umkämpft: Längst schöpfen auch Suhrkamp und Co. bei Veranstaltungen des DLL mögliche Hausautoren ab. Höltschl bleibt dran, geht zu Lesungen ins DLL und in Hausprojekte. Kleine Enttäuschung: Im gestalterischen Bereich ist die erhoffte Zusammenarbeit mit der HGB noch in den Kinderschuhen.

Quelle: www.openhouse-verlag.de
Quelle: www.openhouse-verlag.de

Manchmal hilft einfach auch der Zufall (oder für den, der nicht daran glaubt, die Vorsehung). So trafen sich auch Höltschl und der Hauptakt der Mai-Präsentation bei Lehmanns. Bei einer Preisverleihung trug Nicola Nürnberger einen Teil ihres späteren Romans „Westschrippe“ vor. Höltschl war sofort begeistert von diesem Blick auf die BRD vor der Wende. So viele Werke gab es schon über die DDR, aber kaum Berichte über den Westen in dieser Zeit. Nun liest Nicola Nürnberger aus ihrem zweiten Roman unter dem Titel „Berlin wird Festland“, in dem es die junge Protagonistin Christine Anfang der 1990er Jahre – ähnlich wie die Autorin selbst – nach dem Abitur von der hessischen Provinz nach Berlin verschlägt. Sie steht verloren in einer Großstadt, deren zwei Teile noch immer damit beschäftigt sind, sich zusammenzufinden. Natürlich gibt es eine kleine Liebesgeschichte, um die Handlung in Gang zu halten, sowie eine große Portion Berlinhype mit jeder Menge Anspielungen auf Kneipenlandschaft und teilweise noch heute touristenferne Orte. Die ausgesuchten Lesehappen vermitteln den Eindruck einer Jonglage aus Berliner Stereotypen und Spezifika wie den Durchsteckschlüssel, deren Beschreibungen sich vor allem auf Adjektive stützen.

Der Verlag hat Nicole Nürnberger in ihrem Schreibprozess durch ein intensives Lektorat unterstützt. Auch hier lobt Verleger Rainer Höltschl den leicht politischen Einschlag, denn im Verlagskonzept ist dies ebenso eine Facette wie der besondere Blick auf die Genderfrage. Frauen und Männer, so Höltschl, sollen gleichermaßen zu Wort kommen.

Open House hat sich viel vorgenommen: Aufwendig gestaltete Klassiker, neue deutsche und internationale Literatur, dazu Sachbücher, die sich mit Kunst, Medien und Zeitgeschichte auseinandersetzen sollen, und das alles am besten noch mit einer leicht politischen Note von Gender bis Ost-West-Problematik. Für einen jungen Verlag große Ansprüche. Höltschl komprimiert es ganz einfach: Schöne Bücher, die man auch liest.

www.openhouse-verlag.de
Nicola Nürnberger liest: https://www.youtube.com/watch?v=018KthpWSjM
Buch online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Berlin-wird-Festland-9783944122113

Rezension: Marina Keegan, Das Gegenteil von Einsamkeit

Neun Geschichten, ein bewegender Aufsatz, acht Essays und eine derartig respektvolle Einleitung, dass man sie gleich zweimal lesen sollte: Daraus besteht Marina Keegans erstes Buch – es wird ihr einziges bleiben.

Zur Autorin
Marina Keegan, geboren in Boston 1989, starb mit 22 Jahren nur fünf Tage nach ihrer Abschlussfeier an der renommierten Yale University, so dass an der Stelle, an der auf das Leben des Autors zurückgeblickt wird, stattdessen gefragt werden muss: Was hätte Sie noch vorgehabt? Was erreicht? Als Studentin erhielt sie bereits mehrere Preise für ihre Texte, sie schauspielerte, war politisch engagiert. Ihre Stelle beim Magazin „The New Yorker“ konnte sie jedoch nie antreten.

Quelle: www.fischerverlage.de
Quelle: www.fischerverlage.de

Von Coming of Age zu großen Gedanken
In vielen der Kurzgeschichten und letztendlich dem namensgebenden Aufsatz, „ Das Gegenteil von Einsamkeit“ hat Marina Keegan das Gefühl des langsamen Erwachsenwerdens und der damit verbundenen Probleme eingefangen. Auf ein Plädoyer für Lebensfreude, die Bewahrung des „Geistes der Möglichkeiten“, folgt eine Geschichte über junge Liebe, lose Bande und die Konfrontation mit plötzlichem Tod. Ohne Pathos, aber dafür mit einer klaren, frischen Sprache erschafft die Autorin lebendige Figuren mit Tiefe, die immer wieder an Scheidewege gelangen, plötzlich aus ihrer Welt, ihrem Alltag herauskatapultiert werden. Schnell verlassen die Geschichten den Kosmos der jugendlichen und leicht abgeschotteten Campus-Welt, widmen sich alternden Tänzerinnen, die nackt aus Gebrauchsanweisungen vorlesen und schildern das Grauen vom Gefangensein in den Tiefen des Ozeans. In ihren Essays erzählt Marina Keegan humorvoll über ihre besorgte Mutter, die ihre Kindheit mit Gluten freien Eiswaffeln und Fürsorge beschwerte, und betrachtet das Phänomen, warum so viele Yale-Absolventen im Consulting oder Finanzsektor landen. Keegan probiert sich mutig in jedem Text an einer neuen Erzählweise aus.

Interessante Sachen
An eine ihrer Dozenten schrieb Marina Keegan einmal, sie würde in einem Notizbuch „interessante Sachen“ sammeln: Beschreibungen und Formulierungen, die sie akribisch niederschrieb und für ihre Geschichten und Essays verwendete. Diese Neigung zur Sprache und zur aufmerksamen Beobachtung durchzieht jede ihrer Geschichten und so schafft sie es mit wenigen – eigenen – Worten, ihren Figuren Authentizität und einen ganz besonderen Charakter zu verleihen. Dabei liegt der Fokus insbesondre auf dem Zwischenmenschlichen, ohne dass die Texte in theatralische Phrasen abrutschen. Marina Keegan besaß ein besonderes Gespür für aktuelle Themen, betrachtete die Zukunft ihrer Generation ohne rosarote Brille. Sie bleibt dennoch nicht an diesem Punkt stehen, sondern geht thematisch von ihrer eigenen Vergangenheit bis zur Überlegung, wie die Zukunft der Menschheit aussehen könnte. Das ganze Buch liest sich wunderbar frisch und gleichzeitig schwebt darüber stetig die Tragik eines viel zu frühen Todes.

Mein Fazit
Ich habe mich immer wieder gefragt, ob Marina Keegan später einen der großen Romane unserer Zeit geschrieben hätte, obwohl die Antwort immer offen bleiben wird. Ich empfehle das Buch weiter, denn es lebt nicht von einem schockierten Flüstern über den Tod eines jungen Menschen, sondern von Keegans origineller Erzählweise, die noch keine feste Schiene gefunden hat, von Ehrlichkeit und dem persönlichen Charme, der in jeder Geschichte mitschwingt.

Marina Keegan, Das Gegenteil von Einsamkeit
S. Fischer, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Das-Gegenteil-von-Einsamkeit-9783100022769
Autorin der Rezension: Jasmin Beer

Rezension: Jana Beňová, Abhauen!

Was bedeutet die Flucht vor dem eigenen Leben? Was bleibt zurück? Ist es Mut oder Feigheit? Die Protagonistin Rosa träumt schon lange davon, aus ihrem Leben auszubrechen, die Welt zu entdecken. Was in ihrer Schulzeit ein kindlicher Wunsch blieb, sieht sie am Ende ihrer Ehe als einzigen Ausweg. Eine gedankenvolle Reise beginnt.

Poetin & Prosaistin
Jana Beňová, geboren 1974, studierte Dramaturgie an der Akademie der darstellenden Künste in Bratislava. Nach ihrem Abschluss 1998 schrieb sie zunächst unter Pseudonym für verschiedene slowakische Zeitungen und arbeitet heute als Dramaturgin am Theater Institut in Bratislava. Bereits zu Beginn ihres Studiums veröffentlichte Beňova ihren ersten Gedichtband, auf den bald ein zweiter und schließlich auch eine Sammlung von Kurzgeschichten erschienen. Für ihren Roman „Plán odprevádzania“ erhielt sie 2012 den EU Prize for Literature.

Quelle: www.residenzverlag.com
Quelle: www.residenzverlag.com

Aus Bratislava in die Welt
Rosa wächst nahe dem Bahnhof auf, überquert in den vierzig Jahren ihres Lebens jeden Tag die Gleise. Ihren Mann Son lernte sie zu Schulzeiten kennen, als sie mit dem Schwänzen begann, weil sie der Unfreiheit der Schulpflicht ein wildes Herumstreifen entgegensetzen wollte. Bis heute hat Rosa diese Angewohnheit beibehalten. So hält sie Abstand zu ihrer hinterlistigen Chefin und ihren oberflächlichen Kolleginnen, den Kukulas. Das graue Leben und die bröckelnde Ehe mit dem Poeten Son zernagen die Protagonistin und schließlich rennt sie mit einem neuen Mann davon. Das Ziel ist noch nicht klar, vielleicht das Meer, vielleicht Paris. Während der Stationen ihrer Reise reflektiert Rosa über ihr Leben und ihre Beziehungen zu dem alten und dem neuen Mann.

„the best of course is poetry“
Der Originaltitel „ Preč! Preč!“ beschreibt die Essenz des lediglich 132 Seiten umfassenden Romans am treffendsten: Fort! Fort! Rosa läuft davon – in jedem Sinne. Sie sucht ihre Freiheit fernab der Enge ihrer Ehe, in der Dichter Son doch immer wieder als der starke Teil propagiert wird. Er ist der gefeierte Poet und große Künstler, sie ist lediglich Prosaistin. Als Rosa den Hund ihrer Chefin aus dem Fenster wirft, knackt sie letztendlich alle Konventionen und legt jede Rücksicht auf andere ab. Die Reise mit Corman, dem neuen Mann an ihrer Seite, zwingt Rosa zur Auseinandersetzung mit dem Damals, denn eine Flucht schützt nicht vor dem Abschied von ihrem alten Leben. Ein Vergleich zwischen Son und Corman wird unvermeidlich, die Reise gerät zu einem Kraftakt. Langsam muss sich Rosa der Erkenntnis stellen, dass sie nur einen Alltag gegen einen anderen getauscht hat.

„Abhauen!“ liest sich wie eine szenische Lesung und die einzelnen Absätze halten wie die Strophen eines Liedes großen Abstand voneinander. Stetig wird zwischen Rosa als Protokollantin ihrer Ansichten und allgemeiner Schilderung gewechselt, ohne dass eine direkte Rede deutlich gemacht wird. Vielmehr ist es ein ewiges Sinnen um Vergangenheit und Zukunft, das von Rosas gefühlter Einsamkeit ummantelt scheint, die sie gerade durch ihren neuen Begleiter umso stärker spürt. In einer Mischung aus Prosa und Lyrik erzählt Jana Beňová eine Geschichte vom Weglaufen ohne Ziel, bei dem die Stationen der Reise so austauschbar sind wie die Gesprächsthemen der Kukulas. Jana Beňová verzichtet zum Glück auf eine „Eat, pray, love“-Mentalität zugunsten einer ernsthafteren Botschaft.

Mein Fazit
Die starken Lyrikelemente in einem Roman waren für mich recht ungewohnt. Aber die punktgenaue Sprache und die bildhaften Vergleiche, die durch die Übersetzung an nichts verloren haben, formen eine Erzählung über Alltagsflucht und rastloser Suche nach Sinn.

Jana Beňová, Abhauen
Residenz Verlag, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Abhauen–9783701716449
Autorin der Rezension: Jasmin Beer

Rezension: Anat Talshir, Über uns die Nacht

Im Herbst seines Lebens erinnert sich ein Mann noch einmal an seine große Liebe. Ein klassischer Einstieg für einen romantischen Debütroman, der auf große Momente und tragische Wendungen setzt. Ein Buch versucht mit Liebe zum Detail die Kategorie „ Literatur für Frauen“ zu rehabilitieren.

Zur Autorin
Anat Talshir hat sich mit „Über uns die Nacht“ an ihren ersten Roman gewagt. Als investigative Journalistin lag ihr Schwerpunkt bisher auf faktengestützter Berichterstattung, zum Beispiel über die Verbindung zwischen Militärtraining und Krebserkrankungen von Soldaten, wofür sie 2002 mit dem renommierten Sokolov-Preis ausgezeichnet wurde. Zusätzlich moderierte sie eine TV-Sendung und unterrichtete Kreatives Schreiben. Die Autorin wurde in Jerusalem geboren und lebt heute in Tel Aviv.

Quelle: www.randomhouse.de
Quelle: www.randomhouse.de

Die zwei Seiten Jerusalems
Jerusalem 1947: Die schöne und stille Lila lernt auf einer Feier der gehobenen Gesellschaft den distinguierten Teehändler Elias Rani kennen. Als sie sich kurze Zeit später durch einen Zufall wieder über den Weg laufen, keimt aus der anfänglichen Neugier eine innige Liebe zueinander, die jedoch verborgen bleiben muss. Denn Elias gehört einer alteingesessenen arabischen Familie an, Lila ist Jüdin. Die beiden versuchen gemeinsam vor dem konfliktaufgeladenen Jerusalem in eine romantische Traumwelt zu fliehen, doch unter dem Donnergroll der Teilung Palästinas wird ihre Liebe immer mehr zur Gefahr. Als der Bau der Mauer im Mamila-Viertel das Paar drei Jahre später endgültig zu trennen scheint – er im Osten der Stadt, sie im Westen –, trotzen beide noch dem Hass und Druck ihrer Umgebung. Sie nutzen jede Gelegenheit, um einander ein liebevolles Wort oder einen Kuss zu schenken. Aber wieviel kann die Liebe zweier Menschen ertragen? Und wie lange wird sie bestehen können?

Der Nahostkonflikt als Kulisse
Ganz unaufdringlich bettet Anat Talshir ihr Liebespaar in die Geschichte Israels und die Entwicklung des Nahostkonfliktes ein, schildert plastisch große wie kleine Geschehnisse, in deren Strudel Elias und Lila sich zu verlieren drohen. In den letzten Tagen vor der Ausrufung des Staates Israel lernt der Leser die beiden Hauptfiguren auf die gleiche Weise kennen, wie sie einander kennenlernen: Beruf, Familie, Interessen, Marotten und kleine Eigenarten. Beide greifen harmonisch ineinander, ergänzen sich. Talshir manövriert ihre Erzählung nahe am Kitsch, greift auf typische Elemente des „Frauenromans“ zurück, die mir ein seufzendes „Ach“ entlocken.

Nach der Teilung Jerusalems begleitet der Leser hauptsächlich Lila, die immer mehr ihrer Aura einbüßt. Ohne ihr männliches Ebenstück wirkt sie blass, kühl und entwickelt sich trotz der Zeitspanne nicht weiter. Sie ist einfach zu perfekt, gönnt sich keine Schwäche, erträgt stoisch Trennung und Ungewissheit. Ihre wenigen Vertrauten, die leicht verschlagene Margo und die liebenswerte Nomi, überschatten mit ihren eigenen Geschichten das Warten auf das Happy End. Was als Adaption der großen Shakespeare-Tragödie angedacht zu sein scheint, verliert auf den letzten Seiten stark an Tempo und Fokus.

Mein Fazit
Warum Anat Talshir eine Liebesgeschichte als Debüt wählen musste, bleibt mir unklar. Viel interessanter als die eigentliche Handlung sind die klaren Momentaufnahmen einer geteilten Gesellschaft. „Über uns die Nacht“ zählt dank seines stabilen Fundaments und der fesselnder Kulisse nicht zu den schlechtesten Liebesromanen, durch die blasse weibliche Hauptfigur allerdings auch nicht zu den besten.

Anat Talshir, Über uns die Nacht
Diana Verlag, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/-ber-uns-die-Nacht-9783453357778
Anat Talshir im Interview: http://www.herzenszeilen.de/anat_talshir/
Autorin der Rezension: Jasmin Beer

Rezensionsreihe Israel zur Leipziger Buchmesse 2015, Teil 8: Yali Sobol, Die Hände des Pianisten

Der Beginn einer Militärdiktatur wirft seine Schatten auf Tel Aviv. Am Beispiel eines jungen Paares entsteht eine Parabel von Machtmissbrauch und Menschlichkeit.

Zum Autor
Mit seiner Band „Monica Sex“ feierte Yali Sobol, geboren 1972 in Haifa als Sohn des Dramatikers Jehoschua Sobol, in Israel und später in New York große Erfolge. Nach einem Soloalbum sowie einer Kolumne in der Wochenzeitung Tel Aviv wandte er sich dann dem Schreiben von Romanen zu. Mit „Die Hände des Pianisten“ erscheint erstmals einer seiner Romane in deutscher Übersetzung.

Quelle: www.kunstmann.de
Quelle: www.kunstmann.de

Leben unter dem ÜOK
Der Krieg in Israel ist vorbei, ein großer Teil von Tel Aviv zerstört. Anstelle der alten Regierung hat das Übergangsoberkommando (ÜOK) unter der Leitung von General Meni Shamai den Notstand ausgerufen. In dieser Zeit der Ungewissheit versuchen die Bewohner Tel Avivs zu ihrem Alltag zurückzukehren. Unter ihnen sind der Pianist Joav Kirsch und seine Frau Chagit, die als Cutterin in einem lokalen Nachrichtensender arbeitet. Vor allem für Joav bedeuten die neuen Gesetze und die verstärkte Kontrolle ein Hindernis in seiner beruflichen wie künstlerischen Entfaltung. Für seine Tournee wird keine Ausreiseerlaubnis erteilt, er wird verhört und die wenigen Auftritte werden kaum bezahlt. Dann trifft er zufällig auf einen reichen Förderer, der ihm sogar anbietet, ihn außer Landes zu schmuggeln – aber ohne seine Frau.

Auch Chagit bekommt die strengen Auflagen des Regimes in ihrer Arbeit zu spüren. Im Nachrichtensender spiegelt sich die immer dichter werdende Atmosphäre von Überwachung und Verrat wider und auch die Beziehung zu Joav beginnt zu bröckeln. Als ein Kollege ihr einen USB-Stick mit brisantem Material anvertraut, kann sie die Konsequenzen ihrer Hilfe noch nicht erahnen.

Eine Frage der Prinzipien
Der Roman liest sich wie ein Prequel einer politischen Dystopie und nimmt sich viel Zeit, um die Figuren und Umstände zu beschreiben. Zu Beginn steht Joavs Kampf um seine Kunst, die durch die Beschränkungen des Militärregimes und später auch den Geschmack seines Mäzens immer stärker beeinflusst wird, bis er sich beinahe in zwei Persönlichkeiten splittet. Gleichzeitig zieht sich Chagit immer mehr in ihre kühle Berechnung zurück, versucht ihren Mann aus allem raus und ihre Prinzipen für sich zu erhalten. Sobol richtet den Blick auch auf die Seite der Machthaber und beschreibt, wie eine kleine Abteilung langsam zu einer straff organisierten Behörde gegen „politische Umtriebe“ ausgebaut wird, Polizisten langsam abstumpfen, korrumpieren.

Mein Fazit
Mit einer klaren Sprache malt Sobol ein dunkles Szenario, wie sich Menschen unter politischen Druck verhalten und verändern. Trotz eines recht ruhigen Einstiegs bleibt das Buch bis zur letzten Seite packend. Ich hoffe darauf, dass auch die anderen Bücher des Autors bald ins Deutsche übersetzt werden.

Yali Sobol, Die Hände des Pianisten
Verlag Antje Kunstmann, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Die-Haende-des-Pianisten-9783888979262
Autorin der Rezension: Jasmin Beer