Rezension: Jan-Philipp Sendker, Herzenstimmen

Der Titel des Romans von Jan-Philipp Sendker klingt zunächst nach einem schnulzigen Liebesroman. Doch schon nach den ersten Seiten wird klar: „Herzenstimmen“ ist alles andere als das.

Hauptperson des Buches ist Julia Win, Anwältin in New York und bestens durchorganisiert. Spontan ist bei Julia nichts, noch nicht einmal ein Treffen mit ihrer besten Freundin. Doch dann erhält Julia unerwartet einen Brief von ihrem Halbbruder U Ban aus Burma, den sie zehn Jahre zuvor kennengelernt hatte. Von dieser Reise erzählt der Vorgängertext „Herzenhören“. Und doch ist „Herzenstimmen“ mehr als eine bloße Fortsetzung, denn auch wer das erste Buch nicht gelesen hat, ist von Julias Geschichte gefesselt.

Nachdem Julia den Brief ihres Bruders gelesen hat, hört sie plötzlich die Stimme einer Frau in ihrem Kopf, die offensichtlich sehr verängstigt ist. Wie jeder „normale“ Mensch geht Julia zu einem Psychotherapeuten, doch der kann ihr nicht helfen. Erst durch die Intervention ihrer besten Freundin wird Julia klar, dass sie zurückkehren muss nach Burma, in das Land ihres Vaters, um herauszufinden, was es mit dieser geheimnisvollen Stimme auf sich hat – und das, obwohl die Stimme versucht, sie mit allen Mitteln von dieser Reise abzuhalten.

Julia fliegt nach Burma. Hier sieht sie nicht nur ihren Bruder wieder, sondern findet auch ein völlig verändertes Land vor, das auch mich als Leser fasziniert. Jan-Philipp Sendker gelingt es, in seinem zweiten Roman nicht nur eine spannende Geschichte zu erzählen, sondern dem Leser auch die Geschichte Burmas näherzubringen. Das geschieht nicht mit dem Holzhammer, sondern ist so geschickt in die Geschichte eingebettet, dass man es als Leser kaum bemerkt. Besonders deutlich empfindet der Leser dabei die allgegenwärtige Macht des Militärs und die Ohnmacht der Bevölkerung, sich gegen das Militär zu wehren. Romantisch-verklärende Blicke auf die ostasiatische Lebensweise, wie sie im Westen vielerorts bis heute Konjunktur haben, haben hier keinen Platz. Und trotzdem ist der Roman keine Generalabrechnung oder Anklage – im Gegenteil: Er beschreibt sehr behutsam die Verhältnisse in Burma und entfaltet gerade dadurch eine ungeheure Wucht.

In Burma angekommen, wird Julia mit Hilfe ihres Bruders schnell klar, dass auch die Stimme in ihrem Kopf unmittelbar mit der brutalen Militärherrschaft über Burma zu tun hat. Für Julia beginnt eine gefährliche Spurensuche, an deren Ende sie durch ihre Beharrlichkeit die berührende Geschichte von Nu Nu (der Stimme in ihrem Kopf), ihrem Mann Maung Sein und den gemeinsamen Söhnen Ko Gyi und Thar Thar kennt. Vor allem aber weiß sie, was im Leben wirklich zählt.

„Herzenstimmen“ ist ein tief-bewegender Roman über die Geschichte Burmas und darüber, dass das Leben oft vielschichtiger ist, als es auf den ersten Blick scheint. Es lohnt sich, diese Vielschichtigkeit aus der Sicht von Jan-Philipp Sendker zu erforschen.

Jan-Philipp Sendker, Herzenstimmen
Karl Blessing Verlag (2012)

Autorin: Yvonne Giebels

Rezension: Robin Sloan, Die sonderbare Buchhandlung des Mr. Penumbra. Oder: Typen, Typo und Türen in Parallelwelten.

Die Besessenheit von Google, unsere ganze Welt zu quantifizieren und zu arrangieren. Die fixen Ideen von traditionellen Lesern, mit ihren Visionen aus alten oder neueren Texten verborgene Botschaften fürs eigene Leben herausdestillieren zu können. Die Geschichte vom Beginn der modernen Typografie im Venedig des frühen 16. Jahrhunderts unter besonderer Betrachtung deren akuten Auswirkungen auf die Apple-Politik, Word-Dokumente oder Firmen-Logos. Dazu ein etwas ranziger Fantasy-Autor aus den 80ern mit seinem Eigenleben auf alten Tonbändern, ein Ausflug in den Wahnwitz der digitalen Start-up Szene – garniert von einer kiffenden älteren Dame mit Erwerbsbiografie als Programmiererin – ein sich selbst organisierendes Lager für herrenlose Museums-Artefakte sowie eine Pizzeria, über die ein weltweit gesuchter Hacker konspirative Hardware in Umlauf bringt…

…das alles (und noch einiges mehr) muss man erst mal in ein Buch und eine spannende Handlung auf knapp 360 Seiten packen können. Der Mann, der das kann, heißt Robin Sloan, ist studierter Wirtschaftswissenschaftler und hat nicht nur viel Humor, sondern unter anderem auch in führender Position bei Twitter gearbeitet.

Die sonderbare Buchhandlung des Mr Penumbra von Robin Sloan
Quelle: Karl Blessing Verlag

Die an skurrilen Einfällen und kuriosen Szenen reiche Geschichte wird aus der Ich-Perspektive des einstigen Webdesigners und jetzigen Aushilfsbuchhändlers Clay Jannon erzählt. Klassisch linear, sprachlich sauber, mit Witz, Intelligenz und mit den heute oft üblichen Querversweisen auf die Populärkultur. Aber Achtung! Hier ist längst nicht alles so, wie es den Anschein hat. Wer sich etwa im Internet auf die Suche nach der Schriftart „Griffo Gerritszoon“ machen wird (und die ist für den Plot von zentraler Bedeutung), erfährt keine lexikalische Erklärung, sondern landet bei einer erstaunlichen Anzahl von Blogs und Websites von Lesern rund um dieses Buch. Denn natürlich arbeitet Robin Sloan in bester Tradition von Kollegen wie Robert Anton Wilson oder William Kotzwinkle mit dem Kunstgriff der Halb- und auch Desinformation. Und je eher man als Leser dieses Spiel durchschaut, umso länger hat man das Vergnügen mit diesem Roman. Vor allem: Als Autor Jahrgang 1979 ist Sloan mit den Fallen des Instant-Wissens der Wikipedia-Jünger bestens vertraut. Genau das macht er hier zur Zutat seiner schriftstellerischen Strategie. Generell ist der Tenor des Buches ohnehin von einer ironischen Distanz zu den vermeintlichen Segnungen der IT-Industrie bzw. zu den fanatischen Apologeten einer digitalen Wunderwelt geprägt. Nicht zu vergessen: der Mann ist Insider!

Worum dreht sich aber eigentlich die Geschichte? Nun, viel werde ich hier nicht verraten. Und die Sentenzen zu Beginn dieser Rezension sollten auch nur die Bandbreite der Themen, Orte und Figuren ansatzweise skizzieren. Kurz gesagt: es geht ums Entdecken und Entschlüsseln des Mysteriums einer in vielfacher Hinsicht bizarren Buchhandlung in San Fransisco – die sich aber nur als eine Facette eines sehr alten weltumspannenden Geheimnisses entpuppt. Das Ganze wird spannend, geistreich und humorvoll erzählt. Neben den plastischen Situationsbeschreibungen überzeugt dabei insbesondere auch die Ausarbeitung der einzelnen Charaktere. Zwar nicht ganz auf dem Niveau von Umberto Eco – aber doch schon ganz nah dran.

Und das Ende? Natürlich eine Überraschung! Wer dann von der ganzen Thematik nicht so schnell wieder loslassen will, dem kann ebenfalls geholfen werden: Es gibt ein Prequel zum Roman, in dem die Vorgeschichte steht. Erschienen, genau wie das Hauptwerk, im März 2014 beim Blessing Verlag. „Die Unglaubliche Entdeckung des Mr. Penumbra“ ist eine ca. 80 Seiten umfassende Erzählung – und es gibt sie ausschließlich als eBook. Also noch so ein Trick von Mr. Sloan?

Robin Sloan, Die sonderbare Buchhandlung des Mr. Penumbra
Karl Blessing Verlag, 2014

Autor: Harald Wurst | ph1.de