Rezension: Alina Bronsky, Baba Dunjas letzte Liebe

Alte Leute im radioaktiv-verseuchten Dorf Tschernowo – das Thema von Alina Bronskys jüngstem Roman reizt mich nicht wirklich. Doch immerhin ist das Buch ansprechend schlank. 154 Seiten, das sollte machbar sein. Kurze Zeit später bedaure ich, dass es nur 154 Seiten sind…

Quelle: www.kiwi-verlag.de
Quelle: www.kiwi-verlag.de

Strahlend schönes Leben
Die über achtzigjährige Baba Dunja ist die erste, die Jahre nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl in ihr altes Heimatdorf Tschernowo zurückkehrt. Ihrem Beispiel folgen bald andere alte Leute, die nichts mehr zu verlieren haben. Unverwüstlich fristen die Greise dort einen beschaulichen Lebensabend, trinken Wasser aus dem Brunnen, naschen verstrahlte Früchte aus ihrem Garten und verarbeiten ihre dahingeschiedenen Hühner zu kräftigenden Suppen. Alle paar Wochen unternimmt einer der Alten den langen Fußmarsch zur kilometerweit entfernten Haltestelle, hofft auf gut Glück, dass der Bus in die nächstgelegene Stadt noch immer fährt und kauft dann dort für alle ein, was man nicht selbst anbauen kann. Ansonsten bleiben die Dorfbewohner von der Welt und dem 21. Jahrhundert so abgeschottet und unbehelligt wie nur irgend möglich – ohne Flachbildfernseher, Internet, Telefon. Das einzige Handy, das jemals nach Tschernowo mitgebracht wurde, fand dort keinen Empfang. Was kein allzu großes Unglück darstellt: Schließlich gehe von den Dingern Strahlung aus, wie Baba Dunjas Nachbarin Marja zu berichten weiß.

Idyllisch erzählt
Die erfahrene Autorin Alina Bronsky erzählt sehr liebevoll und mit leisem Witz. Ohne mich auch nur ansatzweise mit den Romanfiguren zu identifizieren, kann ich mich doch in alle einfühlen. So anschaulich malt Bronsky ihre Geschichte. Die „Todeszone“ Tschernowo erscheint – durch die Augen Baba Dunjas betrachtet – wie die letzte Idylle, wo alles seinen Platz und seine Richtigkeit hat, die heißen trockenen Sommer, ebenso wie die kalten Winter, die Kranken und die Gesunden, die Lebenden und die Toten. Der Titel „Baba Dunjas letzte Liebe“ meint sicherlich mehreres: Den Geist ihres verstorbenen Mannes Jegor, der sie stets begleitet, auch ihre Enkelin Laura, der sie beständig Briefe schreibt, obgleich sie ihr nie begegnet ist, maßgeblich aber spricht er wohl ihre Heimat an, der sie selbst um den Preis der Trennung von ihrer Familie treu bleibt.

Mein Fazit
Ich konnte dem Roman keine explizite Moral oder tiefere Botschaft entnehmen und war auch nicht gewillt, danach zu suchen. Die Geschichte ist einfach wunderschön geschrieben, weder traurig, noch fröhlich, und hat bei mir, ohne dass ich es erklären könnte, ein gutes Gefühl hinterlassen. Wer also gerade ohne Lesestoff ist, sollte hier getrost zugreifen.

Alina Bronsky, Baba Dunjas letzte Liebe
Kiepenheuer & Witsch, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Baba-Dunjas-letzte-Liebe-9783462048025
Autorin der Rezension: Katja Weber

Rezension: Brooke Davis, Noch so eine Tatsache über die Welt

„Ihr werdet alle sterben. Alles ist gut.“ Das ist die Botschaft der siebenjährigen Millie Bird, die mit den beiden Greisen Agatha und Karl sowie der einbeinigen Schaufensterpuppe Manny durch Australien stolpert. Eine Reisegemeinschaft, die auch Jonas Jonasson zur Ehre gereicht hätte.

Quelle: www.kunstmann.de
Quelle: www.kunstmann.de

Verlassene und Hinterbliebene
Die Australierin Brooke Davis wählt eine ungewöhnliche Geschichte für ihr Debüt: Als ihr Hund Rambo stirbt, beginnt das kleine Mädchen Millie tote Dinge zu „sammeln“. In ihre Liste all dessen, was sie sterben sieht – Spinnen, Vögel, Weihnachtsbäume, Zugfahrten, Kerzen – reiht sich plötzlich auch ihr Vater ein. Zu diesem Zeitpunkt hat Millie durch ihre Sammlung den Tod bereits als eine natürliche Tatsache der Welt erkannt und verkraftet den Verlust verhältnismäßig gut. Nicht so ihre Mutter. Diese lässt Millie eines Tages im Kaufhaus stehen, heißt sie zu warten und verschwindet.

Nach zwei Tagen des Wartens flieht Millie vor der Polizei und potentiellen Pflegeeltern. Kurze Zeit später begibt sie sich auf die Suche nach ihrer Mutter. Unterstützt und begleitet wird sie dabei von ihren neuen Freunden: der Schaufensterpuppe, in dessen stummer Gesellschaft Millie gewartet hat und die schließlich den Namen „Manny“ erhält; der 82jährigen Agatha Pantha, die in Millies Nachbarschaft wohnt, das Haus seit dem Tod ihres Mannes nicht mehr verlassen hat und ihre Tage damit fristet, sich selbst und andere anzuschreien und ihre Wangenelastizität, Faltenanzahl und Armschwabbelstärke zu dokumentieren; sowie dem 87jährigen Karl dem Tasttipper, der alles (auf unsichtbaren Tastaturen) mittippt, was er sagt und stets ein paar Tasten in der Hosentasche bei sich trägt. Auch er leidet unter dem Verlust seiner Frau und erwählt sich das Kaufhaus zu seinem Domizil, bis er dort Millie kennenlernt.

Heiteres Beileid
Brooke Davis erzählt ihre traurig-komische Geschichte angenehm kurzweilig. Die knappen Kapitel gestatten es mir, immer wieder zu pausieren, wenn es mir doch mal zu bunt wird – was nicht selten geschieht. Spannend und interessant finde ich, wie Brooke Davis ihre Protagonisten mit Trauer und Gram umgehen lässt; mitreißend ist es insofern, als ich mich immer wieder echauffiere über das ungeheuerliche Verhalten von Millies Eltern, die sich stets mehr für den Fernseher als für ihre Tochter interessierten und nun gar Millies Mutter, die ihr siebenjähriges (!) Kind sang- und klanglos zurücklässt. Amüsant sind die Eigenheiten der Charaktere, so etwa Millies beharrliche Annahme, dass ihre Rabenmutter sich nur verlaufen hat, weswegen sie kontinuierlich Schilder mit der Auskunft „Hier bin ich, Mum“ anfertigt. Nervig und unsympathisch dagegen ist das permanente Schreien der griesgrämigen Agatha Pantha, für die ich keinerlei Mitgefühl aufbringen und über deren absehbares Happy End ich mich dementsprechend auch nicht freuen kann.

Mein Fazit
Wer ein Faible für ungewöhnliche, kreativ verfasste Geschichten hat, ist mit diesem Buch gut beraten. Mich persönlich hat der Roman stilistisch und während des Lesens durchaus angesprochen, am Ende jedoch inhaltlich enttäuscht, da ich mich für die Figuren nur teilweise erwärmen konnte und mir einen aussagekräftigeren Epilog gewünscht hätte.

Brooke Davis, Noch so eine Tatsache über die Welt
Verlag Antje Kunstmann, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Noch-so-eine-Tatsache-ueber-die-Welt-9783956140532
Autorin der Rezension: Katja Weber

Rezension: Jacinta Nandi, nichts gegen blasen

Das satte Pink vor dem blassrosa Hintergrund macht es unmöglich, kein zweites Mal hinzugucken. Das ist doch wohl nicht…? Ist das etwa…? Nein, ist es nicht. Es ist keine Fotze, die mir hier entgegenspringt, sondern ein geöffnetes Geldtäschchen. Ich muss schmunzeln. Ein originelles und cleveres Cover, wenn man bedenkt, dass „Fotze“ ursprünglich „Tasche“ bedeutet.

Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de
Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de

Humorvoll und gleichmütig
So amüsant wie die Umschlaggestaltung liest sich auch das Buch mit dem vielsagenden Titel „nichts gegen blasen“. Jacinta Nandi hat nichts einzuwenden gegen blasen, ficken, Weintrinken, rauchen im Bett (wenn sie sturmfrei hat), viel und ungesundes Essen und Dokus über Lady Di. Das einzige, was ihr wirklich aufstößt, ist die Frage, warum sie nach Deutschland kam. Dann gibt sie ehrliche Antworten (wegen des Kindergeldes, um Gerhard Schröders Schwanz zu lutschen, um ihr Deutsch zu verbessern), die allesamt wahr sind oder komplett erfunden – wer weiß das schon.

Tatsache ist jedenfalls, dass die Halb-Inderin im Jahr 2000 von London nach Berlin zog, wo sie seither lebt und arbeitet. Sie ist Mitglied verschiedener Lesebühnen, schreibt eine Kolumne für das englischsprachige Magazin Exberliner und einen Blog für die taz. Dort wie auch hier in ihrem ersten Buch erzählt sie Episoden aus ihrem nicht ganz uninteressantem Leben: Von ihrer Mutter, die an MS erkrankte, ihrer Tante Trudie, die früher auf den Namen Bob hörte und als ihr Stiefvater ein richtiges Arschloch war, von ihren Fickterminen mit schönen Penissen und Muschis und ihrer Zeit im Frauenhaus, in das sie flüchtete als ihr Exmann sie kurz nach der Geburt ihres Sohnes erst anschrie und schließlich verprügelte, weil er mit ihrer Stilltechnik unzufrieden war. Selbst so schockierende Geschichten wie diese letzte erzählt die Autorin mit solcher Nonchalance, dass ich mir das Lachen nur schwer verkneifen kann:

„Warum hat er dich denn angeschrien?“
„Wegen dem Winkel.“, sage ich.
„Wegen dem Winkel?“, fragt Jens, total überrascht.
„Wegen des Winkels“, sage ich.
„Ja“, sagt Jens. „Wegen des Winkels. Aber welchen Winkel meinst du?“
„Wegen dem Winkel meiner Brustwarze.“

Keine Feuchtgebiete
Nandis Stil ist Geschmackssache: Sie arbeitet mit systematischen Wiederholungen und einer derben, unverblümten Sprache. Unter anderem wohl letzterer wegen wird sie bisweilen mit Charlotte Roche verglichen. Den ersten Satz des Buches lesend („Ich habe einen ganz schlimmen Pilz […]“) fürchte auch ich kurzfristig hier einer weiteren Helen zu begegnen. Aber Nandi kennt Grenzen. Bei aller Offenheit verschont sie uns doch mit feuchten Details. Der größte Unterschied zwischen ihr und Roche aber ist, dass sie nicht schockieren oder provozieren, sondern zum Lachen bringen will: „I would say anything: I’d admit to having raped a baby bunny for the fun of it, murdered my granny for a bet or wanked off a homeless guy for a fiver, IF there was a laugh in it.“ So bleibt immer ein letzter Zweifel, ob Nandis ehrliche Erzählungen auch wahr sind oder nur lustig sein sollen.

Mein Fazit
Jacinta Nandi hat mich mehrmals zum Lachen gebracht, genauso oft aber auch mit ihrem eigenwilligen Stil und einer gewissen Bedeutungsarmut ermüdet. Insgesamt ist das Buch ein großes Kann, definitiv aber kein Muss.

Jacinta Nandi, nichts gegen blasen
Ullstein, 2015
Homepage der Autorin: www.jacinta-nandi.de
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Nichts-gegen-blasen-9783864930294
Autorin der Rezension: Katja Weber

Rezension: Nina Sedano, Happy End – Die stillen Örtchen dieser Welt

In ihrem neuen Buch ist die „Ländersammlerin“ Nina Sedano nicht nur Globetrotterin, sondern vor allem „Klobetrotterin“. Ein Muss für jeden, der mal muss.

Quelle: www.edel.com
Quelle: www.edel.com

Nach dem ersten harten Brocken wird es fluffig
Nina Sedano startet ihr „Happy End“ etwas unglücklich: In dem 30seitigen Kapitel über die Kulturgeschichte der Toilette bringt sie so viele Daten und Zahlen unter, dass – effektiv wie bei einer Klospülung – jede Information sofort durchgespült und weggeschwemmt wird. Hier hätte ich mir einen knackigeren, aufs Wesentliche beschränkten Abriss gewünscht, ergänzt durch numerische Details im Anhang. Zum Glück aber raubt mir schon das nächste Kapitel die Furcht, dass es in diesem Stile weitergehen könnte. Die Autorin durchmischt sehr geschickt und abwechslungsreich eigene kurze Erlebnisberichte sowie zahlreiche griffige Anekdoten rund um die Toilette. Ihre persönlichen Erzählungen umfassen dabei zwischen drei und sechs Seiten, die Anekdoten und Fakten gar nur wenige Zeilen. Vom ersten Kapitel abgesehen ist der Rest des Buches also im wahrsten Sinne des Wortes die perfekte Klolektüre – wobei ich selbst Bücher lieber auf dem Sofa lese und davon auch hier nicht abgerückt bin.

Unnützes und Witziges über äußerst Nützliches
Von überraschenden Geburten auf dem Örtchen, verlustig gegangenen Wertgegenständen, blinden WC-Passagieren, festgesogenen Hinterteilen auf Flugzeugtoiletten, Klosprüchen und -witzen bis hin zu makabren Todesfällen auf dem Abort ist alles dabei, was man sich an Klo-Wissen wünschen kann. Ein wenig erinnern mich die skurrilen Kurzzeiler, die Nina Sedano sorgfältig nach Ländern und Städten ordnet, an die Kategorie „Unnützes Wissen“ der NEON. Obwohl ich nur selten schallend lache, muss ich doch häufig schmunzeln und den einen oder anderen Satz auch ungläubig kopfschüttelnd mehrmals lesen. Als besonders angenehm empfinde ich den Schreibstil der „Klobetrotterin“, der durch und durch wort(witz)gewandt daher kommt – bisweilen aber auch etwas zu „klolossal“ üppig. Leider hat die Autorin bei aller Wortgewalt auf jegliche anderweitige Bebilderung verzichtet. Ohne die Unterstützung durch Photo oder Skizze hinterlassen die Beschreibungen der vielen bemerkenswerten Örtchen daher nur einen diffusen Eindruck.

Ansonsten aber lässt diese sympathische Klogeschichte nichts vermissen, nicht einmal die Moral: Nina Sedano will nicht nur erheitern, während wir uns erleichtern, sondern das Thema der Notdurft und deren Örtchen enttabuisieren. Wasser, Leben, Ausscheidungen – all das spielt ineinander. Um sich die Zusammenhänge vor Augen zu führen, empfiehlt Sedano allen den Besuch einer Kläranlage und lässt die Toilette selbst einen Appell an ihre Benutzer richten. Statt sie zu verpönen oder mit Müll zu stopfen, sollten wir ihr dankbar sein, denn die Einführung von Klosetts mit Wasserspülung hat unser Leben um 40 Jahre verlängert. Daher: Hoch auf die Toilette!

Mein Fazit
Nina Sedanos gelungene Mischung aus Witzigem und Wissenswerten befriedigt den Lesehunger im Großen wie im Kleinen, zwischendurch als auch am Stück. „Happy End“ ist „Klolektüre“ vom Feinsten und dennoch zu schade für einen Standort auf dem Abort.

Nina Sedano, Happy End – Die stillen Örtchen dieser Welt
Eden Books, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Happy-End-9783944296944
Autorin der Rezension: Katja Weber

Rezension: Odette Dressler, Sex der dein Leben verändert

Reißerisch preist der pinke Taschenbucheinband an, 25 wahre Bettgeschichten über Life-Changing Sex zu enthalten. Oha. Ich bin gespannt und hoffe auf ein ähnlich prickelndes Lesevergnügen wie bei Henry Millers „Opus Pistorum“. Doch statt Lust zu bekommen, mir die Kleider vom Leib zu reißen, will ich mir schon nach ein paar Seiten einfach nur noch die Haare raufen.

Quelle: www.edel.com
Quelle: www.edel.com

Fick mich, Baby

Odette Dressler versammelt in ihrem Debüt 25 Geschichten darüber, wie Sex unser Leben verändern kann. Zweimal schreibt sie über eigene Erlebnisse, die anderen 23 Mal versucht sie das, was andere Frauen ihr erzählt haben, prosaisch zu Papier zu bringen. Life-Changing Sex, so kündigt die Autorin bereits im „Vorspiel“ genannten Vorwort an, ist nicht immer der atemberaubend gute, unvergessliche Sex. Entsprechend mischen sich unter die Geschichten über orgastische Explosionen auch solche über erzwungenen Beischlaf, käufliche Liebe oder einen schnöden One-Night-Stand, der eine unverhoffte Schwangerschaft nach sich zieht. Trotz dieser thematischen Vielfalt bleibt der Stil Dresslers recht einheitlich. Eine mehr oder minder detaillierte Schilderung des Aktes scheint ihr in jeder Geschichte obligat, ebenso die Verwendung des Wortes „ficken“ und des Kosenamens „Baby“. Die vulgärsprachliche Copy-and-Paste-Manier wirkt vor allem in den Geschichten verstörend, welche vom Grundtonus her romantisch angelegt sind. Umgedreht wirkt es etwas lächerlich, wenn Dressler selbst die offensichtlichen Schlampen im Buch ihr Geschlechtsorgan als ihr „Heiligstes“ bezeichnen lässt. Die Vielfalt der Geschichten wie auch der Frauen verschwimmt im verbalen Einheitsbrei, so dass ich irgendwann nur noch die zugekleisterte, Highheels tragende Klischee-Tussi vor mir sehe und an den alten Sermon von „Voll Assi Toni“ denken muss.

Ausschweifung an den falschen Stellen

Natürlich gibt es Ausnahmen. Vereinzelte Sätze sind nicht völlig unoriginell und hin und wieder wirken die Akteure auch sympathisch. Wie etwa in der Geschichte über Rainer und Moni, welche beide ihre Unschuld aneinander verloren und sich erst 30 Jahre später wieder begegnen. Doch auch hier hemmt der Erzählstil das Lesevergnügen. Die Beschreibung des Liebesaktes („Bevor er kam, zog er seinen Penis aus mir heraus und drehte sich auf die Seite. Trotzdem landete ein Schuss seines Spermas direkt in meinem Bauchnabel.“) wirkt in der sonst eher melancholisch-romantisch gehaltenen Erzählung fehl am Platz. Wichtige Informationen vermisse ich (Warum sind sie sich denn nach diesem tollen Erlebnis 30 Jahre nicht mehr begegnet?), andere finde ich überflüssig (Zitat!). Diese wie auch andere Geschichten sind zu brüchig erzählt, um berührend, und zu langatmig und platt, um erotisch zu sein. Nach ellenlangem „sexlosem“ Vorgeplänkel geht es ganz plötzlich zur Sache, und ebenso abrupt endet dann auch die Geschichte.

Mein Fazit

Es ist nicht leicht über Erotik zu schreiben – und dann auch noch über Erotik mit Tiefgang. Ich konnte dem Buch weder Lust noch Erleuchtung abgewinnen. Und aufgrund des billig wirkenden Einbands kann ich es nicht mal als Deko im Bücherschrank empfehlen.

Odette Dressler, Sex der dein Leben verändert
Eden Books, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Sex-der-dein-Leben-veraendert-9783944296920
Autorin der Rezension: Katja Weber

Rezension: Roger Cockrell (Hrsg.), Michail Bulgakow – Ich bin zum Schweigen verdammt. Tagebücher und Briefe

Michail Bulgakow erlebte nicht einmal seinen 49. Geburtstag. In seinem kurzen Leben war er erst Arzt, dann Schriftsteller, Feuilletonist, Dramatiker, Schauspieler und Regisseur. In der UdSSR wurde er lebendig begraben – dennoch gab er nie auf. Seine Briefe und Tagebucheinträge zeigen den fortwährenden Kampf des Künstlers gegen Armut, Krankheit und Zensur.

Quelle: www.randomhouse.de
Quelle: www.randomhouse.de

Nach Russland verbannt, zum Schweigen verdammt

Auf den ersten Seiten des Bandes, welche die Jahre 1921 bis 1925 umfassen, wechseln sich Briefe und Tagebücher chronologisch geordnet ab. Hauptsächlich dokumentiert Bulgakow in diesen Jahren seine finanzielle Notlage, generell den Verlauf der Nachkriegsinflation und die politischen Entwicklungen Europas. Notizen seines Privatlebens sind ausgesprochen rar, nicht einmal die Scheidung von seiner ersten Frau erwähnt er. Im Mai 1926 wurden Bulgakows Tagebücher beschlagnahmt, von da an gibt es nur noch Briefe. Aus Bulgakows Korrespondenz erfahre ich, an welchen Stücken er gerade arbeitete und wie er gegen die vom Zensus gewünschten Umänderungen derselben kämpfte. Ab 1928 spitzt sich die Lage Bulgakows dramatisch zu. Der Künstler bittet wiederholt vergeblich um die Genehmigung einer Auslandsreise. Seine Stücke werden nach und nach verboten, seine Erzählungen nicht mehr gedruckt. Mit der Bitte um Ausweisung aus der UdSSR wendet er sich 1929 an Stalin persönlich und teilt mit: „[Ich] bin mit meinen Kräften am Ende; außerstande, weiterhin zu existieren, abgehetzt, wissend, dass ich innerhalb der UDSSR weder gedruckt noch aufgeführt werde […]“ Bulgakows Gesuch bleibt unbeantwortet. Nach einem langen Brief an die Regierung wird er immerhin zum Regieassistenten und Dramaturg ernannt. Dies bewahrt den Schriftsteller vorm Hungertod, doch da er nun maßgeblich Auftragsstücke verfasst, bleibt er weiterhin „zum Schweigen verdammt“.

Dürftig kommentiert, schlecht lektoriert

Stets mit dem Zeigefinger zwischen den Anmerkungen im Anhang des Buches, stolpere ich stirnrunzelnd durch Bulgakows Briefe und Notizen. Die Namen und Zusammenhänge verwirren mich. Ich verbringe mehr Zeit mit dem Vor- und Rückblättern, als dem eigentlichen Lesen. Mehr als einmal wünsche ich mir eine kurze Erklärung, einen biographischen oder historischen Verweis. Doch Fehlanzeige. Zu den verwirrenden Nachnamen fügen die Anmerkungen lediglich zwei oder mehr verwirrende Vornamen hinzu, sowie die kurze Notiz „Autor“ oder „Regisseur“. Nichts Erhellendes für den Kontext, in dem Bulgakow die Personen erwähnt. Spätere Anmerkungen verweisen gern auf frühere, laufen dabei aber oft ins Leere – vermutlich hat eine letzte unvollständige Überarbeitung alles ein wenig verrutscht. Drastischer der Fehler im Vorwort, das behauptet, Bulgakow habe Alexej Tolstoi einen „dreckige[n] ehrlos[n] Narr[en]“ genannt. Im entsprechenden Brief aber sind dies die zitierten Worte Tolstois über sich selbst. Zum Verständnis der Briefsammlung bietet die unglücklich im Anhang platzierte Kurzbiographie eine magere Hilfe und trumpft mit der Information, dass Bulgakow für sein Medizinstudium von 1911-1916 ungewöhnlicherweise sieben Jahre brauchte.

Mein Fazit

Zugegeben, ich weiß jetzt mehr über den Autor, von dem ich „Meister und Margarita“ sowie „Aufzeichnungen eines jungen Arztes“ im Regal stehen habe. Und wer Bulgakow, sein Werk und die historischen Hintergründe bereits bestens kennt, mag Gefallen an diesen mangelhaft kommentierten Briefen finden. Allerdings frage ich mich: Fehlt Luchterhand neuerdings Geld für ein vernünftiges Lektorat?

Roger Cockrell (Hrsg.), Michail Bulgakow – Ich bin zum Schweigen verdammt
Luchterhand, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Ich-bin-zum-Schweigen-verdammt-9783630874661
Autorin der Rezension: Katja Weber

Rezension: Edith Pearlman, Honeydew

Der blaue Leineneinband vor mir enthält zwanzig Geschichten der amerikanischen Schriftstellerin Edith Pearlman, von der es auf Rückseite heißt, sie sei „die beste Erzählerin der Welt“. Dieses Urteil der „Times“ will ich überprüfen.

Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de
Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de

Honigtau
Honeydew – zu Deutsch „Honigtau“- ist der Titel des Erzählbandes. In der gleichnamigen Erzählung am Schluss des Buches erfahre ich von der anorektischen, aber äußerst gebildeten Emma, dass mit „Honigtau“ die Exkremente einiger Insekten bezeichnet werden. Es ist daher eine selten schöne Euphemisierung, wenn Emmas Schulleiterin am Ende der Erzählung verkündet, „dass die wichtigsten Regeln der Schule […] nach Toleranz und Diskretion verlangten. Alle anderen seien Honigtau“ – mit anderen Worten „Scheiße“. Vor diesem Hintergrundwissen scheint es mir ein merkwürdig selbstironischer Zug der Autorin, ausgerechnet diesen Titel für ihre Geschichtensammlung gewählt zu haben.

Klassisch und virtuos
Pearlman versteht es, immer wieder zwar eigentümliche, aber kunstvolle Beschreibungen zu finden, ohne dabei kitschig-poetisch oder unverständlich zu werden. Die Geschichten sind im erzählerischen Präteritum gehalten und sehr dicht; es bedarf also einer gewissen Aufmerksamkeit, um alles zu erfassen, was in und zwischen den Zeilen geschrieben steht. Dann aber lassen die pointierten Momentaufnahmen das ganze Leben der Charaktere erahnen. Obgleich die Erzählungen selbstständig sind, gibt es wiederkehrende Figuren und Orte: Etwa die Antiquitätenhändlerin Rennie und die frei erfundene Stadt Godolphin. Hier und andern Orts dreht es sich häufig um Liebesbeziehungen.

Zwischen Antiquitäten und Kuriositäten
In der einleitenden Erzählung kommt es zu einer erotischen Begegnung im Fußpflegesalon, in Rennies Antiquitätenhandel erinnert sich die frischgebackene Witwe Ophelia ihrer Jugendliebschaft zu Füßen der Bronzestatue „Puck“, ein anderes Mal findet die unfruchtbare Gabrielle ihr sexuelles Glück ausgerechnet bei einer durch weibliche Beschneidung verstümmelten Somalierin. In „Drei Richtige“ lassen vier Mädchen das Los über ihr künftiges Eheglück entscheiden. Mein Favorit ist die Geschichte „Erst mal sehen“, worin der pentachromatisch sehende Lyle eine Brille begrüßt, die seine Farbsicht so weit reduziert, dass er die Welt wieder „normal“ sieht. Zu viele Farben sind eher Fluch als Segen – das findet auch Lyles Mutter, für die „Rassenmischung die Antwort auf das Übel in der Welt [ist]. Alle Menschen in einer Farbe: mittelbraun“.

Fast alle Geschichten sind mit größeren oder kleineren Kuriositäten gespickt: Füße, die von ihrem Besitzer „Ebd.“ und „Sic“ genannt werden, ein Sofa namens Jack, ein Zimmer namens Nutzlos, eine Pflanze unbekannter Herkunft, die trotz zweifelhafter Bewässerung mit Kaffee, Mundspülung, Zigarettenasche und Fischfutter überlebt. Trotz dieser komischen Elemente reizt mich keine der Erzählungen zum Lachen noch zum Weinen. Allesamt enden sie ohne große Pointe oder Moral. Kaum habe ich mich an die Figuren gewöhnt und Hunger auf mehr, ist es schon vorbei.

Mein Fazit
Edith Perlmans Erzählungen sind eher Pralinés als Honigtau. Am besten genießt man sie auch so: Stück für Stück und nicht zu viele auf einmal – sonst verfälscht man den Geschmack der einzelnen Geschichten. Wer wie ich aber lieber eine ganze Tafel Schokolade auf einmal verschlingt, ist mit einem Roman wohl besser beraten.

Edith Pearlman, Honeydew
Ullstein Buchverlage, 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Honeydew-9783550080999
Autorin der Rezension: Katja Weber

Rezension: Paul Pickering, Die Frau des Leoparden

Der britische Bestseller-Autor Paul Pickering liefert in seinem fünften Roman alles, was man sich von einem unterhaltsamen Buch wünschen kann: Spannung, Liebe, Verrat, Gewalt, traumhafte Bilder und Absurdität, die zur Komik gereicht – und zur Verwirrung.

Quelle: www.randomhouse.de
Quelle: www.randomhouse.de

Ein Mann, eine Frau, ein Klavier und der Kongo
Im Kongo herrscht Bürgerkrieg. Nicht ganz unschuldig daran ist Lola, die „kongolesische Helena von Troja“, Frau des Generalmajors Xavier – auch genannt Chui, „der Leopard“ – und Geliebte von dessem Bruder. Mit ihren gerade mal 17 Jahren hat sie jedoch beide Beziehungen bereits hinter sich gelassen und verliebt sich nun in den Hauptcharakter des Buches: einen britischen Pianisten namens Smiles, welcher ihr freilich auch vom ersten Moment an verfällt. Dabei kam Smiles eigentlich nur in den Kongo, um dort seinem alten Freund und Lehrer Lyman Andrew zu begegnen und gemeinsam mit ihm ein Friedenskonzert zu geben. Dies wird dadurch erschwert, dass beide Pianisten für tot erklärt werden – sie seien einem Bombenanschlag im Konzertsaal zum Opfer gefallen – und sich Lyman Andrew im Dschungel versteckt. Kurzerhand wird der Plan gefasst, das Konzert dann eben im Urwald zu geben und im Radio zu übertragen. Man muss ja nur Smiles flussaufwärts kuttern – ihn und das Klavier: einen Konzertflügel aus dem 18. Jahrhundert. Mit an Bord ist natürlich auch Lola und während sie und Smiles auf den diversen Zwischenstopps der Reise turteln, heiraten und immer wieder flüchten (vor wem genau, ist nie ganz klar), liest Lolas kleiner Bruder Smiles‘ Briefe über seine Internatszeit in England und seine damalige Freundschaft mit Lyman Andrew…

Zwei Geschichten, eine Moral
Obwohl ich bis zum Schluss des Buches nicht wirklich schlau daraus werde, wer hier eigentlich gegen wen kämpft, genieße ich diese abenteuerliche und wundervoll bildhafte Reise durch den Kongo – man merkt, dass Pickering hier als Augenzeuge berichtet. Ich fiebere mit den beiden Protagonisten Lola und Smiles, die sich ganz offensichtlich in höchster Gefahr befinden, wenngleich auch hier nicht ganz klar ist, warum und wovon diese Gefahr ausgeht. Vieles in Pickerings Roman schert sich nicht um ein „Warum“ und ist dennoch nicht weniger real. Ich begegne menschlichen Abgründen und unfassbaren Gewaltakten, sowohl im Reich der Mosquitos und Krokodile, als auch an Smiles‘ noblem Freimaurer-Internat in England. Was sich dort abspielt bildet eine eigene Geschichte, die den Ereignissen im Kongo an Heftigkeit in nichts nachsteht. Die Moralität der Romanfiguren lässt sich nicht so einfach bestimmen wie deren Hautfarbe. Nicht einmal beim Hauptakteur Smiles, der neben Lola vor allem zwei Dinge liebt: Das Klavier und die Quitte seiner Mutter.

Mein Fazit
Pickering hat mir mit dieser turbulenten und abstrusen Erzählung mehr als ein Stirnrunzeln entlockt. Auch den Prolog verstand ich erst, als ich ihn als Epilog las. Kurzum: Das Buch war für mich ein Abenteuer – in jeder Hinsicht.

Paul Pickering, Die Frau des Leoparden
Bertelsmann, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Die-Frau-des-Leoparden-9783570102107
Autorin der Rezension: Katja Weber

Rezension: John Burnside, Haus der Stummen

John Burnsides prosaisches Erstlingswerk ist von morbider Spannung. Die Sprache ist intelligent, der Stil durchdacht, die Gedanken philosophisch. Dennoch bin ich froh, als ich das Buch endlich zuklappen kann.

Quelle: www.randomhouse.de
Quelle: www.randomhouse.de

Ohnegleichen
„Niemand kann behaupten, es hätte mir freigestanden, die Zwillinge zu töten, so wenig wie es mir freistand, sie auf die Welt zu bringen.“ Ich wüsste nicht, welchem Genre ich den Roman des schottischen Lyrikers zuordnen sollte, der mit diesem Satz beginnt. Er ist schauerlich, doch kein Horror – obwohl man ihn sicherlich horrorhaft à la Shining verfilmen könnte. Er ist packend und doch kein Thriller. Der Ich-Erzähler wird zum mehrfachen Mörder, doch steht dies weder im Mittelpunkt der Geschichte, noch muss er je fürchten, dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Suche nach der Seele
Der Roman fingiert die Memoiren eines Psychopathen: Luke ist von Kindesbeinen an vom Forscherdrang gepackt und seziert Tiere bei lebendigen Leib, um zu sehen, wo ihre Seele sitzt. Als er nicht fündig wird, überlegt er, dass die Seele vornehmlich in der Sprache zu finden sein müsste und also beim Menschen. Seine Mutter, zu der er eine krankhaft enge Bindung hegt, hat ihm vom Mogulherrscher Akbar erzählt, der einst eine Gruppe Neugeborener von stummen Ammen aufziehen ließ, um zu sehen, ob Sprache angeboren oder erlernt sei. Dieses Experiment will Luke nun nach strengen wissenschaftlichen Richtlinien wiederholen. Die stumme Amme spielt er selbst, seine Probandenanzahl beschränkt sich auf zwei: Zwillinge, die ihm von der obdachlosen Lillian geboren werden. Er sperrt das Geschwisterpaar in seinen Keller – fernab jeglicher menschlicher Stimme…

Methodische Redundanz
Der Charakter Lukes ist ausgetüftelt: Statt eines seelenlosen Monsters, zeichnet Burnside hier das Bild eines Mannes, der menschliche Emotionen durchaus kennt und versteht, diese aber mit Bedauern ausblendet, sobald sie drohen, seine Forschung zu gefährden. Alles was er tut, hat Methode, folgt Ritualen – dieser Charakterzug spiegelt sich auch im Stil der Erzählung, die an vielen Stellen redundant ist: Immer wieder geht es mit der Mutter allmählich zu Ende, immer wieder ist es, als wäre sie noch immer da, immer wieder scheint das Experiment gescheitert – um dann doch wieder fortgesetzt zu werden. Obgleich anscheinend gewollt, empfand ich diese psalmartigen Wiederholungen als störend; vielleicht aber auch nur, weil sie den Fortgang der Erzählung aufhielten und mich damit umso mehr auf die Folter spannten.

Mein Fazit
Philosophische Tiefgründigkeit gepaart mit eiskalter wissenschaftlicher Methode erzeugt eine subtile Spannung, die mich zwei Tage lang in Atem hält. Mehr als einmal muss ich den Bleistift zücken, um mir die interessanten Gedanken zur Bedeutung der Sprache anzustreichen. Dennoch kann ich mich nicht dazu durchringen, das Buch zu empfehlen. Bei aller Brillanz war die Geschichte so grausam, dass ich mich allein durch die Lektüre eines Verbrechens an meinem eigenen Kind schuldig fühlte.

John Burnside, Haus der Stummen
Albrecht Knaus Verlag, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Haus-der-Stummen-9783813506129
Autorin der Rezension: Katja Weber

Rezension: Matthias Jügler, Raubfischen

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Matthias Jügler, 1984 in Halle geboren mit Masterstudium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, legt mit „Raubfischen“ seinen Debütroman vor. Der Einband sieht vielversprechend aus – ein pastellfarbenes Blaugrau mit der schönen Graphik eines Fischerbootes. Um Daniel und seinen Großvater soll es gehen, um ihren gemeinsamen Angelurlaub in Schweden und darum, dass der Großvater an ALS erkrankt – woraufhin Daniel einen „waghalsigen“ Entschluss fasst, wie es auf der Rückseite des Buches heißt. Gespannt schlage ich den Roman auf – und bin enttäuscht.

Raubfischen Cover
Quelle: www.blumenbar.de

Konstruiert

Die ersten Kapitel des Buches habe ich das Gefühl, des Autors Anliegen sei es, möglichst keinen Satz mit mehr als fünf Wörtern zu schreiben. Das ändert sich zum Glück nach dem ersten Drittel. Besser wird es dennoch nicht. Denn allen Kapiteln gemeinsam bleibt die ausufernde Anhäufung von Detailschilderungen, welche mich regelmäßig den Faden verlieren lassen. Solcherlei literarische Konstruktionswut dürfen sich meines Erachtens nur Autoren wie Musil erlauben, deren Wälzer genügend Raum dafür bieten. In einer Erzählung jedoch, die vorgibt, ein Roman zu sein, scheint sie mir unangebracht.

Distanziert

Der Inhalt kommt nur mit Mühe bei mir an und verliert auf seinem Weg die Kraft, mich zu berühren: Neben den Kaffee-und-Kuchen-Schilderungen erhasche ich ein paar Sätze, aus denen hervorgeht, wie mitgenommen alle von der Erkrankung des „Großvaters“ sind. Mich lässt das ziemlich kalt. Weder wurde mir Grundlegendes zu der Krankheit ALS erzählt, noch hatte ich die Möglichkeit, eine Beziehung zu den Handlungsfiguren aufzubauen, von denen der Ich-Erzähler Daniel so verstörend förmlich („Mutter“, „Vater“, „Großmutter“, „Großvater“) berichtet.

Gleich gestelltes Vielerlei

Neben der Erkrankung geht es auch ums Hechtefangen (daher „Raubfischen“), um Daniels Ferien in Schweden und heimliches Rauchen, um eine Fehde zwischen dem Großvater und dem Verkäufer des Ferienhauses namens Åge. Aus einer Rückblende wird klar, dass die Großmutter mit diesem vor Jahren mal geliebäugelt hatte. Daher also. Drei hübsch von Tim Jockel illustrierte Kapitel handeln vom Leben unter Wasser aus Fischperspektive und fallen damit etwas aus der Reihe, sind aber durchaus angenehm zu lesen. Ansonsten stehen alle Handlungsstränge gleichberechtigt nebeneinander, alle Sätze sind gleich gewichtet. Um der Erzählung zu folgen und ihre Bedeutung zu erfassen, muss ich mich entsprechend konzentrieren und nachdenken. Dennoch erschließt sich mir nicht, was nun eigentlich so „waghalsig“ an Daniels Entschluss sein soll, mit seinem Großvater und dessen Beatmungsgerät noch eine letzte Reise nach Schweden zu unternehmen.

Mein Fazit

Auf der Rückseite bemerkt Matthias Nawrat: „Wie [Jügler] vom Ende eines Lebens erzählt, lässt uns lange nicht mehr los.“ Mich hat es gar nicht erst gepackt.

Matthias Jügler, Raubfischen
Blumenbar, 2015
Website des Autors: http://www.matthiasjuegler.de/
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Raubfischen-9783351050146
Autorin der Rezension: Katja Weber