Ich habe mich darauf gefreut, ihn wiederzusehen. Bis 1990 war Dr. Hinrich Lehmann-Grube Oberstadtdirektor der Landeshauptstadt Hannover und damit mein Dienstherr als Beamter. Danach ging er bis 1998 als Oberbürgermeister in Hannovers Partnerstadt Leipzig, wo ich heute lebe. Leipzig hat ihm viel zu verdanken. Sein Politikansatz des „Leipziger Modells“ ist niemandem nach ihm wieder gelungen. In seine Amtszeit fiel auch die Entscheidung, die Moritzbastei kulturell und nicht kommerziell zu nutzen – und genau dort treffen wir uns heute. Dr. Lehmann-Grube (ja, er hört den akademischen Grad gerne, und es wirkt bei ihm gar nicht arrogant) liest im Schwalbennest der Moritzbastei im Rahmen der Reihe „Buchmesse schmeckt“. Die Küche des Veranstalters serviert dazu zwei verschiedene Suppen.
Er wirkt etwas verloren bei seiner Ankunft. Niemand begrüßt ihn und nimmt ihm den Mantel ab. Beim Kaffee an der Theke sortieren wir gemeinsame Erinnerungen. Seine geliebte Bratsche, die er anerkannt virtuos beherrscht, hat Lehmann-Grube zuhause gelassen. Welches Buch hat er mitgebracht? „Ein Streichinstrument spielt auch eine Rolle“, verrät er vorab. Und soviel: „Ich lese nach Stimmungslage. Mal ist mir nach Geschichte, mal möchte ich unterhalten werden.“
Zum Beginn um 12:12 Uhr haben sich etwa 30 Zuhörer eingefunden; enttäuschend, wie ich finde. Lehmann-Grube stellt sein „jüngstes Lieblingsbuch“ vor und dämpft gleich die Erwartungen: „Der Turm“ von Uwe Tellkamp sei „spröde und vielschichtig“, 1000 Seiten dick, und er arbeite es zum zweiten Mal durch, um alle Schichten zu erfassen. Das Buch erzählt die Geschichte einer Arztfamilie rund um den Chirurgen Richard Hoffmann in den 1980er-Jahren im Turm, einem fiktiven luxuriösen Villenviertel in Dresden. Autor Uwe Tellkamp, selber ausgebildeter Arzt, erhielt für seinen Vorwenderoman als Verarbeitung seiner eigenen Biografie 2008 den Deutschen Buchpreis.
Lehmann-Grube liest wohl akzentuiert von einem Besuch auf der Kohleninsel, Symbol für sozialistische Behörden. Tatsächlich: Eine Geige kommt vor, der bescheinigt werden soll, dass sie nicht zum unverzichtbaren Kulturgut gehört, dazu gesellen sich muffige Behördenflure mit wägelchenschiebenden Kittelboten und vollfleischigen Grünpflanzen …. Gerade als sich Charaktere und Bilder in meinem Kopf formieren, endet die Lesung abrupt, und ich bleibe etwas ratlos zurück. Aber das ist das Konzept von „Buchmesse schmeckt“: Eine Mittagspause soll es sein, nicht eine abendfüllende Lesung. Zum Schluss gibt es ein Erinnerungsfoto und einen Eintrag in mein Gästebuch. Von Herzen „Auf Wiedersehen“!