1958 in eine streng jüdisch-orthodoxe Familie in der Schweiz hineingeboren, lehrt Carlo Strenger heute als Professor der Psychologie und Philosophie an der Universität Tel Aviv. In seinem neuen Buch „Israel – eine Einführung in ein schwieriges Land“ legt er seine Wahlheimat auf die Couch und kommt zu dem Ergebnis: „Manchmal frage ich mich, wie dieser Staat überhaupt funktioniert.“
Strenger analysiert nicht nur theoretisch, er mischt sich ein: 2003 verstärkte er das Kompetenzteam der Arbeitspartei zur israelischen Parlamentswahl. Strengers aktuelle Analyse ist schonungslos: Das Verhältnis zwischen Israel und Europa sei „objektiv furchtbar“. Israel geriere sich einerseits als Vertreter einer liberalen Demokratie nach westlichem Vorbild und betreibe andererseits eine repressive Siedlungspolitik. Seit sechs Jahren trage Ministerpräsident Netanjahu die Shoah zu allen unmöglichen Situationen anklagend wie einen Schild vor sich her. Klare Ansage: „Es wird Zeit für einen neuen Premier.“
Carlo Strenger tischt unbequeme Wahrheiten auf: „Die Verletzungen von Menschenrechten in Russland, China, dem Iran und Serbien stellen alles in den Schatten, was Israel je getan hat. Aber niemand bestreitet ernsthaft das Existenzrecht dieser Staaten.“ Das Ziel der Staatsgründung Israels habe sich in das Gegenteil verkehrt: „Israel ist der Jude unter den Ländern geblieben, der einzige Staat mit ständiger Existenzgefährdung.“ Und dennoch: Im aktuellen Wahlkampf tauche das Wort FRIEDEN nicht auf. Wer als Partei davon spreche, werde als „psychiatrisch gestört“ und realitätsfern abgestempelt.
Es sei legitim, so Carlo Strenger, Israel für seine Siedlungspolitik zu kritisieren. Dies dürfe aber nie dazu führen, Israel als Land selbst in Frage zu stellen. Ein versöhnlichen Lichtblick sieht Carlo Strenger nicht: „In den nächsten Jahrzehnten wird sich der Nahe Osten in ein furchtbares Chaos verwandeln.“
Foto Carlo Strenger: Detlef M. Plaisier