Rezensionsreihe Israel zur Leipziger Buchmesse 2015, Teil 1: Agnes Christofferson, Elsas Stern. Oder: Shoah-Schatten in Manhattan.

Auschwitz, Holocaust, bestialischer Völkermord, traumatisierte Überlebende und selbstvergessene Verbrecher, die sich in einem neuen Leben einzurichten versuchen… das ist alles in allem extrem harter Stoff. Wer sich diesem Thema als Autor stellt, verdient zunächst einmal großen Respekt, denn die Fallhöhe kann hier sehr hoch sein. Die gebürtige Polin Agnes Christofferson hat sich der Herausforderung gestellt. Und – abgesehen von wenigen Abstrichen – legt die Autorin mit ihrem Roman „Elsas Stern“ eine beeindruckende Geschichte vor: über miteinander verwobene Schicksale und die grenzenlose Grausamkeit, zu der Menschen fähig sind.

Quelle: www.acabus-verlag.de
Quelle: www.acabus-verlag.de

Die Handlung beginnt 1979 in New York. Elsa, Jüdin und Auschwitz-Überlebende, trifft sich mit ihrer Tochter Leni in einem italienischen Restaurant. Als ein älterer Mann die Gaststätte betritt, bricht Elsa offensichtlich geschockt zusammen. Im Krankenhaus kümmern sich Elsas Töchter Leni und Salome besorgt um ihre Mutter – diese benimmt sich allerdings zusehends immer seltsamer. Schließlich übergibt Salome das alte Tagebuch von Elsa an Leni. Und damit startet der zentrale Plot des Romans. Sie erfährt aus den Aufzeichnungen der Mutter nicht nur, wie ihre ganze Familie von den Nazis fast ausgelöscht wurde und dass Elsa in Auschwitz als Opfer brutalster Menschenexperimente leiden musste – auch ihre Schwester Salome ist nicht wirklich mit ihr verwandt… und es gibt einen skrupellosen Arzt namens Erich Hauser, der mit dem Schicksal ihrer Mutter auf verschiedenste Weise verknüpft ist.

Klar, der unbekannte Mann in der Pizzeria ist natürlich dieser grausame KZ-Arzt. Und die, übrigens recht knappe und literarisch wie dramaturgisch eher mittelmäßige, Rahmenhandlung, dreht sich um die Enttarnung des Mannes, der im New York der späten 1970er Jahre als Kinderarzt Peter Miller praktiziert. Zu großer Form läuft der Roman bei den Tagebuch-Sequenzen aus der Perspektive von Elsa auf. Dieser Strang macht rund 80 Prozent des Buches aus. Und keine Seite davon ist zu viel. Von der ersten Begegnung und sogar einem Flirt Elsas mit dem jungen „Erik“ Hauser in der Obhut eines versteckten Landsitzes bis zu den fürchterlichsten Beschreibungen des KZ-Alltags und schmerzhaft detaillierten Schilderungen medizinischer „Experimente“ des perversen Arztes in Auschwitz schont die Sprache dieses Buches den Leser nicht. Die realistische Härte der Prosa ist schlichtweg gewaltig. Und die Ambivalenz der Charaktere , ob SS-Männer, Kapos oder KZ-Insassen, gnadenlos in der Schilderung.

Autorin Agnes Christofferson, geboren 1976 in Polen und seit ihrem 12. Lebensjahr in Deutschland lebend, hat mit „Elsas Stern“ ein tatsächlich ergreifendes Buch geschrieben. Die Geschichte ist rein fiktiv – die Szenerie nicht. Und wer glaubt, zum Holocaust sei eigentlich alles schon gesagt, kann sich hier beim Lesen getrost selber fragen: Ist so ein Verbrechen je vergessen – oder heute wieder möglich? In diesem Buch findet der Leser die Antwort zwar nicht, aber es wird nach der Lektüre womöglich schwer sein, nicht danach zu suchen.

Agnes Christofferson, Elsas Stern
Acabus Verlag, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Elsas-Stern-Ein-Holocaust-Drama-9783862823109
Autor: Harald Wurst | ph1.de

Rezension: Shreyas Rajagopal, Scar City. Oder: Incredible India

Sex, Drogen, Reichtum, Psychosen… hier kommt das selektiv aus der Perspektive einer jugendlichen Oberschicht betrachtete Indien der Gegenwart. Lakonisch, kosmopolitisch, zynisch und entsprechend des Handlungstempos im hastigen Präsens beschrieben.

Quelle: www.ullsteinbuchverlage.de
www.ullsteinbuchverlage.de

Willkommen im Debütroman von Shreyas Rajagopal! Der Autor ist Jahrgang 1986 und lebt in Bombay, wo er – wie passend – im Finanzsektor arbeitet. Studiert hat er unter anderem am Indian Institute of Management, was sich aber, außer einer offensichtlichen Kenntnis der indischen Sozialstruktur, nicht wirklich in seinem Roman bemerkbar macht. Freilich aber zeigt dieses 2013 geschriebene Buch alle Merkmale eines literarischen Erstlingswerks: rasches Wechselspiel von Nähe und Distanz, unbekümmertes Experimentieren mit unterschiedlichen Stilen, die eitle Lust am Dokumentieren der eigenen Genialität und des Wissens „um die Dinge“ sowie das generelle Grundrauschen einer expressionistischen Wucht.

Worum geht’s? Student Rish kommt nach „Schwierigkeiten“ in New York für eine Auszeit nach Bombay zurück. Und er landet quasi unmittelbar in einem dämonischen Pantheon aus Freunden, Eltern, Drogendealern, ehemaligen und zukünftigen Sex- und Partygefährten… kurz: es startet eine Tour de Force für Körper und Geist. Und der Strudel aus Rausch und Hass auf die Gesellschaft dreht munter seine Runden. Ja, auch Bret Easton Ellis (American Psycho) lässt hier grüßen. Nicht nur durch die fast obsessive Erwähnung von Markenprodukten, sondern auch durch die gnadenlose Kälte der Eigen- und Fremdbeobachtung des Helden. Das Indien der Milliarden Menschen mit weniger als mindestens Millionärsstatus kommt dabei übrigens gerade noch als Staffage vor.

Wer nun aber glaubt: Aha, wieder so eine überdrehte Schnösel-Story aus dem Milieu der globalen Nichtsnutze mit „goldenem Löffel“ Syndrom… nun, der springt hier eindeutig zu kurz! Rajagopal schreibt hier aus der auktorialen Perspektive – und offeriert Rückblenden mit beeindruckenden Blicken in eine gequälte Psyche. Seine Sprache ist dabei so intensiv wie bildstark – und er trifft den Ton jeder Situation ausgesprochen stimmig. Ein Lob auch der deutschen Übersetzung. Auf so ein kongeniales Wort wie Durschnitten für eine Versammlung mittelmäßiger Fickangebote weiblicher Art muss man erst einmal kommen.

Und wo bleibt in dieser Geschichte nun die Moral? Erfreulicherweise gibt es die hier nicht! Es handelt nämlich keineswegs um einen klassischen „Coming of Age“ Plot, sondern die mitleidslose Schilderung einer Reise in den kontrollierten Wahnsinn. Wobei Rajagopal keinen Zweifel daran lässt, dass dieses Indien der abgehobenen Oberschicht demnächst ganz gewaltig um die Ohren fliegen wird. Bis dahin gilt ein typischer Satz aus der Gedankenwelt des Protagonisten Rish: Du bist wie Plastik – du wirst alles hier überdauern.

Shreyas Rajagopal, Scar City
Ullstein Hardcover, 2014
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Scar-City-9783550080647
Autor: Harald Wurst | ph1.de